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Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1055-1057

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Kaiser, Otto [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Dokumente einer Freundschaft in schwieriger Zeit. Hermann Hupfeld und Johann Wolfgang Bickell. Briefwechsel 1832–1848.

Verlag:

Marburg: Historische Kommission für Hessen 2010. 888 S. m. 36 Abb. gr.8° = Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, 23,5. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-942225-12-0.

Rezensent:

Rudolf Smend

Der unermüdliche Marburger Alttestamentler Otto Kaiser, seit je auch außerhalb seines engeren Fachgebiets interessiert und produktiv, ohne dieses zu vernachlässigen, hat sich an der Schwelle seines neunten Lebensjahrzehnts mit gewohntem Schwung einem seiner Lehrstuhlvorgänger, nämlich Hermann Hupfeld, zugewandt. Er benutzte den Oxforder Jubiläumskongress über Jean Astruc und Robert Lowth im April 2003, um dort einen Vortrag zu halten, der im Wesentlichen von Hupfeld handelte, und verfasste im Anschluss daran eine umfangreiche, das Wissenschaftsgeschichtliche einschließende Hupfeld-Biographie, die er bereits im April 2003 der Göttinger Akademie der Wissenschaften vorlegen konnte, in deren Abhandlungen sie unter dem Titel »Zwischen Reaktion und Revolution. Hermann Hupfeld (1796–1866) – ein deutsches Professorenleben« 2005 erschien. Im Anhang dieses Buches teilte K. zwölf bisher ungedruckte Dokumente mit, meist Briefe und fast durchweg aus dem Hessischen Staatsarchiv Marburg. Diese Editionstätigkeit hat er inzwischen fortgesetzt, nämlich durch Hupfelds Briefwechsel mit seinem etwas jüngeren Göttinger Kollegen Heinrich Ewald – er wird demnächst ebenfalls in den Abhandlungen der Göttinger Akademie erscheinen –, und durch das hier anzuzeigende Buch. Es enthält 244 Briefe, die in einem Zeitraum von 1 6 Jahren zwischen Hupfeld und dem Juristen Johann Wilhelm Bickell (1799–1848) gewechselt wurden.
Der Briefwechsel entführt uns in »die Welt des Biedermeiers, der Postkutsche und der Fußwanderungen, deren Friede durch innenpolitische Wirren gestört, durch Krankheiten und Hungersnöte bedroht und schließlich durch den Vormarsch der Maschinen als Boten eines neuen Zeitalters abgelöst wurde« (12). Beide Briefpartner sind in Marburg geboren, sind also Landeskinder des bis zu seiner Annexion durch Preußen 1866 bestehenden Kurhessen, das seit 1831 eine Verfassungsurkunde besaß, die aber der regierende Prinzregent und spätere Kurfürst Friedrich Wilhelm I. nach Kräften desavouierte, wobei ihm sein Minister Ludwig Hassenpflug zur Hand ging. Die Wendung des Jahres 1848 berührt der Briefwechsel infolge von Bickells Tod gerade nicht mehr, die preußische Annexion – Hupfeld ist wenige Monate vor ihr gestorben – liegt noch in der Ferne, bildet aber für den nachgeborenen Leser aufgrund der ausgiebigen politischen Erörterungen des Briefwechsels unwillkürlich immer deren Horizont. In diesen Erörterungen nehmen die beiden Partner deutlich verschiedene Positionen ein. Bickell, nach einer sehr erfolgreichen Marburger Rechtsprofessur hoher Richter und schließlich Justizminister in der Hauptstadt Kassel, steht auf Seiten der bestehenden Verhältnisse, während Hupfeld, auch er ein Konservativer, als unbeabsichtigte Folge der zunehmend reaktionären fürstlichen Politik die Re­volution befürchtet. Zentralfigur für beide ist auch in ihrem brief lichen Gedankenaustausch der erwähnte Minister Hassenpflug, dem Hupfeld mit größeren Reserven gegenübersteht als Bickell. Charakteristisch verschieden, wenngleich im Grundsatz einig, reagieren beide – um nur diesen einen Zeitabschnitt herauszugreifen – auf die spektakulären Ereignisse von 1837, die Entlassung der Göttinger Sieben und den Kölner Kirchenstreit; für die Göttinger Ereignisse und ihre Folgen ist der Briefwechsel nicht nur we­gen der geographischen Nähe, sondern auch wegen der persönlichen Beziehung beider Freunde zu den Brüdern Grimm eine wertvolle Quelle. Was die religiös-theologische Haltung angeht, erscheint die bei beiden unzweifelhafte tiefe Frömmigkeit bei dem harmonischeren Bickell als problemlos, bei dem spätestens nach seinem Wechsel an die Universität Halle auf den Lehrstuhl des großen Gesenius (1843) in die vordere Frontlinie vorgerückten Hupfeld als der Vermittlung mit der kritischen Bibelwissenschaft bedürftig, ohne dass er doch zu dieser Aufgabe wesentliche Beiträge geleistet hätte.
Der Briefwechsel besteht keineswegs nur in der Diskussion von Prinzipienfragen, er hält vielmehr fast wie ein doppelt geführtes Tagebuch eine große Fülle von Erlebnissen, Beobachtungen und Reflexionen aus dem persönlichen, akademischen, kirchlichen, politischen Bereich fest, die die beiden Schreiber bewegten, die sie für mitteilenswert hielten und zu denen ihnen an der Teilnahme und der Meinung des Partners lag – auch der kritischen Meinung; diese Freundschaft ist beileibe nicht ohne Probleme gewesen, hat sie aber in einer Weise ausgehalten, die beiden Beteiligten ein hohes Zeugnis ausstellt. Je mehr sich der heutige Leser in ihr Gespräch vertieft, umso mehr wird er in die eher kleine Welt von dort und damals hineingezogen, für deren Kenntnis um ihrer selbst willen, aber auch als Paradigma für räumlich und zeitlich benachbarte Welten, ja für das ganze damalige Deutschland der Band eine ergiebige Fundgrube darstellt. Wieder einmal ein Anlass, den seitherigen Verfall der Briefkultur zu beklagen!
Der Herausgeber hat eine immense Arbeit geleistet. Bei der Transkription ist er, was man gerade bei Briefen bedauern kann, nicht bei der originalen Rechtschreibung geblieben, sondern hat sie durch eine neuere (die des Duden von 1980) ersetzt. Es kam ihm zustatten, dass sich, nach den im Anhang (als Abb. 1 und 2, allerdings mit vertauschten Unterschriften) mitgeteilten Faksimiles zu schließen, die Handschrift Bickells sehr gut, die Hupfelds ziemlich gut lesen lässt. K. hat sehr viel zu erläutern gefunden und hat sich dieser Aufgabe in weit über 2000 Anmerkungen mit einem enormen Aufwand und einer bei einem Nichtspezialisten erstaunlichen Sachkenntnis unterzogen. Zudem hat er eine ausführliche Einleitung geschrieben, die die Bedeutung dieses Briefwechsels, seinen zeitgeschichtlichen Rahmen sowie die Eigenart der beiden Partner und ihrer Beziehung unter ständigem Hinweis auf einzelne Texte zusammenfassend darstellt. Ein umfangreicher Anhang bietet u. a. Abbildungen und Stadtpläne, eine mit 40 Seiten sehr umfangreiche Bibliographie und vor dem üblichen Personenregister noch ein gut 60-seitiges »Personen-lexikon«, das auch über das für diesen Briefwechsel Erforderliche hinaus viele Aufschlüsse gibt und sich bei der Arbeit an verwandten Themen als nützlich erweisen dürfte. Gewiss hat K. nach Ausweis des Vorworts eine große Zahl von kundigen Gewährsleuten und sonstigen Helfern gehabt, wobei ihm seine außergewöhnliche Kontaktfähigkeit und -freudigkeit zustatten kam. Aber die Formulierungen und die Redaktion sind doch deutlich erkennbar sein eigenes Werk gewesen. Allerdings hätte eine Nachredaktion, angefangen bei dem »Johann Wolfgang« statt »Johann Wilhelm« im jetzigen Titel, noch allerlei Druckversehen beseitigen, die nicht immer stimmigen Querverweise überprüfen und einzelne Straffungen vornehmen können. Wie der hintere Umschlagtext sich ausdrückt, setzt der Herausgeber »mit diesem Band seinem einstigen Vorgänger ein Denkmal und erstattet mit ihm zugleich einem Land seinen Dank, das ihn in einem halben Jahrhundert als einstigem Preußen zur Heimat geworden ist«. Ein nobler Dank!