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Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1053-1055

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Bleek, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Friedrich Christoph Dahlmann. Eine Biographie.

Verlag:

München: Beck 2010. 472 S. m. 33 Abb. 8°. Geb. EUR 34,95. ISBN 978-3-406-60586-4.

Rezensent:

Dirk Fleischer

1837 rückte ein Mann schlagartig in den Mittelpunkt des politischen Interesses in Deutschland. Bei diesem Mann handelt es sich um den Göttinger Historiker, Staatsrechtler und Verfassungspolitiker Friedrich Christoph Dahlmann (1785–1860). Anlass war ein Protestschreiben gegen die Aufhebung der Verfassung durch den neuen konservativen König Ernst August I. im Königreich Hannover, das Dahlmann verfasst und mit den Unterschriften von sechs weiteren Göttinger Professoren – unter ihnen befanden sich auch die Gebrüder Grimm – an das Universitätskuratorium in Hannover geschickt hatte. Dahlmann selber war bei der Ausarbeitung des 1833 in Kraft gesetzten Staatsgrundgesetz des Königreichs Hannover maßgeblich beteiligt gewesen und für seine Zuarbeiten zum Ritter des Königlichen Guelphenordens ernannt worden. Der scharfe Protest der »Göttinger Sieben« gegen die Aufhebung des Staatsgrundgesetzes machte die Professoren, vor allem aber Dahlmann in ganz Deutschland bekannt und berühmt.
Anders als sein Vorgänger, der »gute König Wilhelm«, der am 20.6.1837 verstarb, war der einäugige Ernst August, ein in militärischen und parlamentarischen Auseinandersetzungen erfahrener 67-jähriger englischer Haudegen, bestrebt, »seine Vorstellungen einer königlichen Herrschaft feudaler Provenienz« (162) zu verwirklichen. Eine Beschränkung seiner Macht durch eine Verfassung war für ihn nicht akzeptabel. D. h. eine allmähliche Liberalisierung und Verrechtlichung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse durch eine Verfassung, die auch den König als Oberhaupt des Staates und der Regierung an diese Verfassung gebunden hätte, lehnte er ab. Stattdessen setzte er durch seinen Staatsstreich am 1.11.1837 die alte Verfassung von 1819, die noch Ausdruck eines feudalständischen Herrschaftsverständnisses war, wieder in Kraft.
Der König reagierte auf den Protest der »Göttinger Sieben« ungehalten. Er entließ sie umgehend ohne Bezüge aus dem Universitätsdienst und verwies sie außer Landes. Selbst fünf Jahre nach dem Protest war der Ärger des Königs noch groß, wie eine Bemerkung gegenüber dem Naturforscher Alexander von Humboldt belegt: »Professoren, Tänzerinnen und Huren kann man überall für Geld wieder haben« (207). Dahlmann fand erst 1842 wieder eine akademische Anstellung an der damals preußischen Universität Bonn.
Dahlmann, der noch das Leid als Folge der Französischen Revolution und der napoleonischen Kriege erlebt hatte, lehnte Revolutionen als Mittel der Politik ab. Deutlich zeigt sich dies in seiner scharfen Kritik am sog. Privatdozentenaufstand von 1831 in Göttingen. Aber nicht nur Revolutionen lehnte Dahlmann ab, sondern, wie der Göttinger Protest von 1837 deutlich belegt, auch einen obrigkeitlichen Vertragsbruch. Gegen einen solchen »Akt monarchischer Willkür« (139) steht den Staatsbürgern ein passives Widerstandsrecht zu, das gewaltlosen Protest erlaubt.
Nicht nur Dahlmanns Engagement für einen modernen konstitutionellen Staat, in dem der Anspruch des Bürgertums auf eine übergeordnete Rechts- und Verfassungsordnung realisiert ist, machte ihn zu einer liberalen Symbolfigur, sondern auch sein Einsatz für die deutsche Einheit, allerdings ohne Österreich. Angesichts dieser Bedeutung Dahlmanns überrascht es, dass es seit der zweibändigen Biographie von Anton Springer (1870/72) keine weitere umfangreiche biographische Beschäftigung mit ihm gegeben hat. Schon aus diesem Grund ist die neue von Wilhelm Bleek, der bis zu seiner Emeritierung als Professor der politischen Wissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum tätig war, verfasste Biographie über Dahlmann nur vorbehaltlos als ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der Politikwissenschaft zu begrüßen. B.s Biographie zeigt Dahlmann als politischen Professor mit einer »reformkonservativen Grundhaltung«, für den kleine, vorsichtige »Reformschritte« (130) charakteristisch waren. Mit Recht beschreibt B. Dahlmann als kompromisslosen und unnachgiebigen Vertreter seiner Anliegen, für den politische Entscheidungen Gewissensfragen waren. Es gelingt B. in seinem Werk, den politischen und wissenschaftlichen Werdegang Dahlmanns konsequent in die zeitgeschichtlichen Strukturen einzuordnen.
Ausführlich beschreibt B. Dahlmanns einzelne Lebensstationen: die Kindheit in der damals noch schwedischen Stadt Wismar; das Studium der Altphilologie in Kopenhagen und Halle (der Vater hatte dem Sohn eigentlich ein Studium der Theologie empfohlen); die Reise nach Dresden, wo er eine innige Jugendfreundschaft mit Heinrich von Kleist schloss, mit dem er dann nach Wien zog, um die französisch-österreichische Schlacht bei Aspern zu beobachten; die 1811 erfolgte Habilitation in Kopenhagen (30.4.1810 hatte Dahlmann zusammen mit seinen beiden älteren Brüdern an der Universität Wittenberg die philosophische Doktorwürde in absentia erworben); die Zeit als Kieler Professor für Universalgeschichte (1812) und seinen 1829 erfolgten Ruf nach Göttingen als Professor mit Lehrverpflichtungen auf den Gebieten der Politik, Kameral-, Finanz- und Polizeiwissenschaft und Nationalökonomie sowie der deutschen Geschichte. Hier entstand auch sein politikwissenschaftliches Hauptwerk, das 1835 unter dem Titel Die Politik auf den Grund und das Maaß der gegebenen Zustände zurückgeführt veröffentlicht wurde. Zu Recht betont B., dass Dahlmann mit diesem Werk »zur Leitfigur einer historisch orientierten Verfassungslehre« (147) und zu einem der Begründer der deutschen Politikwissenschaft wurde. Kennzeichnend für seine Politik- und Staatslehre ist die antike Grundlegung, die sich z. B. darin zeigt, dass er ein Staatsverständnis vertrat, dass noch nicht auf der von Hegel in Deutschland durchgesetzten Entgegensetzung von Staat und Ge­sellschaft beruht. Dahlmann steht mithin am »Ende der Tradition der klas­-sischen Politiklehre im Allgemeinen und des aristotelischen Politikverständnisses im Besonderen« (151).
Besonders ausführlich beschreibt B. das Wirken Dahlmanns von 1848/49 in der Paulskirche. Als bekannter und geachteter Verfassungstheoretiker wurde er als Vertreter Preußens in den vorbereitenden Siebzehnerausschuss entsandt und später in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt. Der Verfechter einer konstitutionellen Monarchie gehörte im Parlament der »Casino«-Fraktion, d. h. der rechtsliberalen Mehrheit im Parlament, an. Dahlmanns maßgebliche Arbeit an der Verfassung, sein Eintreten in der Schleswig-Holstein-Frage (von ihm stammte die Parole von der Unteilbarkeit Schleswig-Holsteins) und seine Ablehnung des preußischen Waffenstillstandes mit Dänemark im September 1848 wird von B. sachgemäß und dem Stand der Forschung entsprechend dargestellt.
Bedauerlich ist, dass in der Biographie der Historiker Dahlmann und seine Arbeit gegenüber dem Politiker deutlich in den Hintergrund treten. Für B. ist Barthold Georg Niebuhr nach wie vor »der Vater der modernen Geschichtswissenschaft« (62), eine Auffassung, die von der Mehrheit der Forscher nicht mehr geteilt wird. B.s Sicht der Geschichte der Geschichtswissenschaft führt dazu, dass die beim frühen Dahlmann noch vorhandenen Theorieelemente der Aufklärungshistorik als »didaktisch-pragmatisches Verständnis von Geschichtswissenschaft« (55) und damit als vorwissenschaftlich abqualifiziert werden. Ohne Zweifel wäre auch eine Untersuchung der beiden Werke über die englische sowie die französische Revolution (1844 bzw. 1845) sinnvoll gewesen, um so den bei Dahlmann vorhandenen Zusammenhang von Politik und historischer Arbeit deutlich zu machen.
Es ist unmöglich, alle Facetten dieser lesenswerten Biographie hier anzuführen. Trotz des beim historischen Denken vorgebrachten Einwandes ist B. zweifelsohne ein kluges, reichhaltiges Buch gelungen, das hoffentlich nicht nur in der Fachwelt, sondern bei allen politisch Interessierten ein gebührendes Interesse findet.