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Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1048-1050

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Repschinski, Boris

Titel/Untertitel:

Nicht aufzulösen, sondern zu erfüllen. Das jüdische Gesetz in den synoptischen Jesuserzählungen.

Verlag:

Würzburg: Echter 2009. XIII, 401 S. gr.8° = Forschung zur Bibel, 120. Kart. EUR 42,00. ISBN 978-3-429-03151-0.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Das jüdische Gesetz wird aus neutestamentlicher Perspektive meist mit den paulinischen Briefen bzw. der Theologie des Heidenapostels in Beziehung gesetzt, darüber hinaus gegebenenfalls noch mit dem Matthäusevangelium. Die hier vorliegende Habilitationsschrift (Innsbruck 2007) wendet sich demgegenüber gezielt den synoptischen Jesuserzählungen zu (unter Einbeziehung der Apostelgeschichte in das »lukanische Doppelwerk«) und möchte die Bedeutung der Tora für deren Darstellungskonzeptionen herausarbeiten. Methodisch rechnet sie sich der »Neuen Literarkritik« zu, näherhin der »objektiven Textanalyse« (36 ff.), womit ein Ansatz gemeint ist, der von der synchronen Textanalyse ausgeht, aber nicht auf eine rein textästhetische Untersuchung beschränkt bleibt, sondern auf die in den Texten erlebte und durch sie argumentativ zur Sprache gebrachte geschichtliche Wirklichkeit ab­zielt. Auf das Thema der Untersuchung angewendet bedeutet dies, dass anhand einer textimmanenten Analyse der verschiedenen Darstellungskonzepte zum jüdischen Gesetz in den synoptischen Evangelien Trennungsprozesse zwischen Judentum und Christentum sichtbar gemacht werden sollen, wie sie in frühchristlichen Gruppen bzw. Gemeinden erlebt wurden. In diesem Sinne sollen die hier interpretierten Texte »ein Fenster auf urchristliche Diversität öffnen« (43).
Gegenstand der Textanalysen sind jeweils die Gesamttexte der Synoptiker, freilich mit Schwerpunkten bei solchen Abschnitten, in denen vom jüdischen Gesetz die Rede ist, also die entsprechenden Wortfelder mit νόμος, ἐντολή oder Μωϋσῆς bzw. Gegenstände der Tora wie der Sabbat, Reinheits- und Speisevorschriften oder der Tempelkult vorkommen. Entsprechend bilden drei Kapitel zum Matthäusevangelium, zum Markusevangelium und zum lukanischen Doppelwerk den Kern der Arbeit, in denen jeweils auf einen Forschungsbericht zum Thema die fortlaufende synchrone Textanalyse folgt und am Ende eine zusammenfassende Auswertung zum Gesetz in dem betreffenden Werk steht. Ein recht knapper Schluss fasst anhand eines Vergleichs von drei ausgewählten synoptischen Perikopen (Vom Essen mit ungewaschenen Händen, Verklärungsgeschichte, Vom reichen Jüngling) die Ergebnisse zusammen, wobei vor allem die Unterschiede zwischen den Synoptikern akzentuiert werden.
Den Schlüssel zum matthäischen Gesetzesverständnis findet der Vf. in der Christologie (so schon als Ergebnis des Forschungsberichts, 69). Wie sich die Jesus-Geschichte in den Vorgeschichten nach Mt 1–4 als Erfüllung der Schriften Israels erweist, so in der Verkündigung Jesu, besonders in der Bergpredigt, als Erfüllung des Gesetzes. Hier wird deutlich, dass Erfüllung des Gesetzes nach Matthäus nicht nur Treue zur alttestamentlichen Tora und den Propheten bedeutet, sondern auch zu Jesu Lehre, der eigentliche Kontrast somit nicht zwischen Jesus und der Tora besteht, sondern zwischen der Lehre der Gegner Jesu und der Lehre Jesu (98). Ähnliches zeigt sich auch in den Sabbatkonflikten (Mt 12,1–14) und der Auseinandersetzung um rein und unrein (Mt 15,1–20): Die Position Jesu steht nach Matthäus mit dem Gesetz im Einklang, wird aber dennoch von seinen Gegnern angegriffen. In solchen Auseinandersetzungen spiegelt sich die Situation der matthäischen Gemeinde, deren Öffnung für Nichtjuden offenbar in ihr selbst noch umstritten war und im Evangelium mit Rekurs auf die Autorität Jesu verteidigt werden sollte (117). Die Gesetzesinterpretation Jesu ist nach Matthäus eine prophetische, die aus der Autorisierung Jesu durch den Vater legitimiert wird. »Wenn Jesus von der Erfüllung von Gesetz und Propheten spricht (Mt 5,17–20), dann zieht Matthäus eine theologische Linie von Gesetz und Propheten hin zu Jesus, die heilsgeschichtliche Bedeutung hat.« (140)
Auch Markus geht es in erster Linie um die Bezeugung der Autorität Jesu, wenn er auf das jüdische Gesetz zu sprechen kommt. Er ist weniger an Torabestimmungen interessiert, etwa zum Sabbat oder zur Reinheit, als vielmehr daran, »dass Jesus selbst derjenige ist, an dem sich Reinheit und Gesetz definieren« (174). Die Darstellung der Kontroverse mit den Pharisäern um rein und unrein (Mk 7,1–23) »mutiert in der markinischen Erzählung zu einer christologisch begründeten Belehrung über die ethischen Forderungen des Reiches Gottes« (181). Auch im Streitgespräch zur Ehescheidung (Mk 10,2–12) liegt der Ton nicht auf der Interpretation der einschlägigen Bestimmungen der Tora, sondern auf der Gegnerschaft der Pharisäer zu Jesus. »Das markinische Interesse am Gesetz ist zweitrangig.« (191) Bei den Auseinandersetzungen in Jerusalem spitzt Markus seine Darstellung auf die Substitution des Tempels durch Jesus und seine Jünger zu (201 f.). Zwar verwurzelt auch Markus seine Jesus-Darstellung in den Schriften Israels, doch grenzt er sein Jesus-Bild andererseits scharf vom Modell jüdischer Toratreue ab, insbesondere mit Blick auf Reinheit und Tempelkult. »Was von Gesetz bleibt, ist eine Ethik, die sich in Barmherzigkeit und Nachfolge ausdrückt.« (214)
Im Kapitel zum lukanischen Doppelwerk konstatiert der Vf. zunächst eine eigenartige Spannung: Einerseits werden die Protagonisten immer wieder als konsequent gesetzestreu geschildert, andererseits erscheint in der weiteren Darstellung Jesus, aber etwa auch Petrus, gegenüber Teilen der Tora, insbesondere Reinheits- und Speisegeboten, als gleichgültig. Diese Spannung bestimmt schon die Kindheitsgeschichte, indem hier die traditionelle jüdische Gesetzes- und Tempelfrömmigkeit angesichts der fehlenden Schilderung einer positiven Reaktion Gottes darauf implizit als defizitär erscheint. Auf diese Weise soll lt. Vf. deutlich werden, »dass das Handeln Gottes jenseits jedweder Gesetzesobservanz oder Kultfrömmigkeit stattfindet« (248). Zentrale Bedeutung kommt in der lukanischen Konzeption der Aussage über die Reichweite von Gesetz und Propheten in Lk 16,16–18 zu. Der Vf. möchte diese Formulierung freilich »nicht im engen Sinne auf die Tora« beziehen, »sondern auf die alttestamentliche Verkündigung in ihrer Gesamtheit«; somit sei »in Lk 16,16 keine Toratreue im Blick, die durch die Gottesreichpredigt aufgehoben werden könnte. Es geht um die alttestamentliche Tradition, die in Jesus und seiner Predigt von Reich Gottes fortgesetzt wird.« (281) Insgesamt spielt die Auseinandersetzung mit dem Gesetz bei Lukas eine weitaus größere Rolle als bei Markus. Es behält vor allem Bedeutung als prophetische Ankündigung der Heilstaten Gottes in Jesus und – in der Apostelgeschichte – im Leben der Gemeinde seiner Nachfolger, nicht aber als »Handbuch für ethische Lebensweise und gesellschaftlich überprüfbare und einklagbare Ordnung« (348).
Der Nutzen der vorliegenden Untersuchung liegt in der Erfassung der Gesamttexte der synoptischen Evangelien mit spezifischer Blickrichtung auf ihre Aussagen zum jüdischen Gesetz. Fragt man jedoch nach einer profilierten Interpretation des jeweils vertretenen Gesetzesverständnisses im geschichtlichen Kontext ihrer Entstehung und ihrer Aussageintentionen, dann bleiben die Ergebnisse doch recht holzschnittartig. So sind immer wieder begegnende Entgegensetzungen von »jüdischem Gesetz« und »alttestamentlicher Tradition« oder »ethischen« und »rituellen« Weisungen kaum geeignete Kategorien, um frühjüdischem Umgang mit der Tora gerecht zu werden; zeitgenössische Quellen dafür werden auch gar nicht erst zum Vergleich herangezogen. Be­sonders einseitig und schematisch wirkt auf diesem Hintergrund die Interpretation der Schilderung der Toratreue in der lukanischen Kindheitsgeschichte (236–249), die weitgehend mit argumenta e silentio arbeitet und den lukanischen Text massiv gegen den Strich bürstet – das kann also auch bei einem textsynchronen Ansatz passieren!
Die Andeutungen zu den sich in den Erzählungen spiegelnden Situationen von Autoren und Adressaten der synoptischen Evangelien (im Sinne der o. g. Absicht des Vf.s, »ein Fenster auf urchristliche Diversität öffnen« zu wollen) führen wenig über bereits häufig vertretene Einordnungen nach dem Schema »heidenchristlich – judenchristlich« hinaus; mit Argumenten im Einzelnen untermauert werden sie kaum. Das liegt zum einen an der angewandten Methodik, die oft zu langatmigen und wenig profilierten Nacherzählungen der Evangelientexte verleitet, vor allem aber von vornherein traditionsgeschichtliche Rückfragen sich weitgehend verbietet. Zum andern fehlt auch eine kritische Auswertung der synchron erhobenen Befunde, die allein durch eine differenzierte Gegenüberstellung der drei Darstellungskonzeptionen erfolgen könnte. Der knappe Vergleich von drei ausgewählten Perikopen am Ende des Buches kann das nicht ersetzen.
In methodischer und thematischer Hinsicht interessant wäre eine Auseinandersetzung mit der Arbeit von Florian Wilk, Jesus und die Völker in der Sicht der Synoptiker, Berlin-New York 2002, gewesen, der einen ähnlichen Weg von der synchronen Textana­lyse zur theologischen Interpretation geht, allerdings seine Untersuchung am Ende in eine umfassende und differenziert vergleichende Auswertung der Befunde münden lässt. Das Buch ist leider nicht berücksichtigt, ebenso wenig wie die einschlägige Monographie zu Matthäus von Matthias Konradt, Israel, Kirche und die Völker im Matthäusevangelium, Tübingen 2007.