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Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1042-1046

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Frey, Jörg, Krauter, Stefan, u. Hermann Lichtenberger [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Heil und Geschichte. Die Geschichtsbezogenheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der biblischen Tradition und in der theologischen Deutung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2009. XXIII, 834 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 248. Lw. EUR 199,00. ISBN 978-3-16-150110-4.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

»Seit Lessing und Kant hat die ›Geschichte‹ im Rahmen der (zu­nächst überwiegend protestantischen) Theologie einen schweren Stand.« (XV) Andererseits gehört der Geschichtsbezug der biblischen Zeugnisse des Alten und Neuen Testaments zu den konstitutiven Grundlagen christlichen Glaubens. Der vorliegende Band, der im Grundstock auf ein Symposium aus Anlass des 80. Geburtstages von Martin Hengel im Jahr 2007 zurückgeht, möchte »durch einen umfassenden Durchgang von der alttestamentlichen Zeit bis in die neuere Theologiegeschichte das Bewusstsein für diese Desi­derate (sc. einer differenzierten Erfassung des Geschichtsbezugs frühchristlicher Zeugnisse) wecken und selbst Bausteine zur Neubewertung und vertieften Reflexion der Konzeptionen von ›Heilsgeschichte‹ sowie des Verhältnisses von Glauben, Verkündigung und Heil zur biblischen wie allgemeinen Geschichte bieten« (Einführung, XI–XXIII, hier: XXI).
Dieser wahrhaftig weit reichende Horizont des Bandes kann hier nur angedeutet werden, indem summarisch auf Studien zum Alten Testament und antiken Judentum von B. Janowski, J. Schaper, A. M. Schwemer, B. Mutschler, J. Leonhardt-Balzer, M. Philonenko, B. Ego, H. Lichtenberger und D. R. Schwartz, zur griechisch-römischen Antike von T. A. Slezák, D. Timpe, S. Krauter und H. D. Betz, zu Patristik und Reformationsgeschichte von C. Markschies, W. Löhr, T. Krannich, V. H. Drecoll, M. Arnold und V. Leppin, zur neuzeitlichen Theologiegeschichte und Systematischen Theologie von O. Bay­er, J. Wischmeyer, F. Herrenbrück, K. W. Müller, C. Axt-Piscalar und C. Schwöbel sowie auf zwei »literarische Appendices« von U. Heckel und F. Siegert hingewiesen wird. Lediglich auf einige Beiträge von Schülern Martin Hengels möchte ich etwas näher eingehen (außer ihnen enthält der Band noch neutestamentliche Studien von C. Grappe, J. D. G. Dunn und H. Löhr).
Reinhard Feldmeier (Gott und die Zeit, 287–305) möchte auf dem Hintergrund antiker und im Gespräch mit neuzeitlicher Philosophie (Hans Jonas) am Markusevangelium deutlich machen, »wie Jesu Rede von der erfüllten Zeit mit dem Selbsterweis Gottes als ›Vater‹ zusammenhängt« (289). Die geschichtliche Selbstbindung Gottes an die Jesus-Christus-Geschichte verbindet er mit dem Vater-Prädikat: »Nur im Gegenüber zum Sohn ist Gott der Vater und nur durch den Glauben an Jesus Christus als den Herrn … sind die Glaubenden Gottes Söhne, seine Kinder.« (296) Gilt dies zweifellos für ein christliches Gottesverständnis, wie es schon bei Markus seinen Ausdruck findet, im Gegenüber zur Vater-Metaphorik in antik-mythischen Götterbildern, so sollte man dieses Gottesverständnis doch nicht exklusiv dem biblisch-jüdischen entgegensetzen (so aber Feldmeier, 295: »Der biblische Gott steht dieser Welt nicht als Vater gegenüber, sondern als Schöpfer und Herr.«). Dagegen spricht schon die im Alten Testament wie im Frühjudentum gar nicht so seltene Rede von Gott als Vater Israels bzw. des Gottesvolkes bzw. von David und seinen Nachkommen als »Söhnen« oder »Kindern« Gottes. Hier liegt m. E. eher ein Bindeglied zwischen biblisch-jüdischem und neutestamentlichem Glauben, das gerade den Geschichtsbezug seines Gottesverständnisses als konstitutiven Bestandteil einer (»gesamt«-)biblischen Theologie zu erkennen gibt.
Ulrike Mittmann (Thesen zur offenbarungsgeschichtlichen Grund­legung der Christologie, 307–331) legt die Skizze einer in Arbeit befindlichen Monographie zur traditionsgeschichtlichen Rekonstruktion neutestamentlicher Christologie vor. Zu Feldmeier bildet sie insofern einen Kontrapunkt, als sie zeigen möchte, »dass bereits in vorneutestamentlicher Zeit, am Ende der alttestamentlichen Schriftwerdung, die Traditionen Israels unter dem Aspekt der Offenbarung zusammengeführt wurden, und zwar im Bereich der Weisheit« (315). Damit sei das theologische Fundament für die christologische Bekenntnisbildung gelegt worden, die sich im Urchristentum nicht erst stufenweise und eklektisch unter Heranziehung je verschiedener alttestamentlicher Traditionsbruchstü­cke vollzogen habe, sondern in ihren wesentlichen Grundzügen schon von ihren Anfängen in der frühen Jerusalemer »Hellenisten«-Gemeinde her, ja, historisch betrachtet, vom Osterzeugnis ehemaliger Jünger und Jüngerinnen Jesu her fixiert war. Während sich die Autorin für die Synthese der alttestamentlich-jüdischen Traditionen weitgehend auf die Arbeiten von Hartmut Gese stützt, die freilich, wie sie selbst bedauernd feststellt, weder in der alt- noch in der neutestamentlichen Exegese breitere Akzeptanz gefunden haben, bleiben ihre eigenen Thesen zur Entstehung der frühchristlichen Christologie bisher noch ohne exegetische Be­gründung und entziehen sich damit der Diskussion. Angesichts dessen erscheint die mit ihnen verbundene oft sehr pauschale Polemik gegen die bisherige Forschung eher unangebracht.
Friedrich Avemarie (Heilsgeschichte und Lebensgeschichte bei Paulus, 357–383) widmet sich dem paulinischen Geschichtsdenken und stellt zunächst die Selektivität und die Zuspitzung auf wesentliche Strukturen in Bezugnahmen auf Geschichtliches bei Paulus heraus. Gleichwohl bleiben dessen Aussagen über die Zukunft (auch die eschatologische) zeitlich strukturiert und auf ein Ziel der Geschichte orientiert, und Kreuz und Auferstehung erscheinen als Anfang vom Ende der Geschichte (372). Nimmt man aber die individuelle Lebensgeschichte der Glaubenden in den Blick, so ergeben sich Modifikationen: Die Vergangenheit des Heilsgeschehens in Jesus Christus und die Zukunft der eschatologischen Rettung werden mit der Gegenwart des Glaubens in eine unmittelbare Verbindung gerückt, »die Zeitlinie der individuellen Heilsgeschichte der Glaubenden (wird) so weit gedehnt und verschoben, dass sie mit den Zeitlinien der Heilsgeschichte Christi zusammentrifft« (374 unter Verweis auf Röm 6,1–11). Das wird auch an Aussagen über die Lebensgeschichte des Apostels selbst deutlich, dessen persönliches Lebensgeschick, insbesondere seine Berufung zum Christusapostel, »als ein Moment in der heilsgeschichtlichen Endphase zwischen Ostern und der Parusie erscheint« (380). Insgesamt gilt für das Geschichtsverständnis des Paulus, dass es zwar linear und zielgerichtet angeordnet ist. »Doch sowohl Vergangenheit als auch künftige Vollendung reichen prägend in das Dasein der Glaubenden hinein.« (383)
Roland Deines (Das Erkennen von Gottes Handeln in der Geschichte bei Matthäus, 403–441) untersucht das Geschichtsverständnis des Matthäusevangeliums. Im ersten Teil seiner Ausführungen setzt er sich grundsätzlich mit einer Konzeption von Ge­schichte auseinander, die zwischen einer sozialwissenschaftlich kommunizierbaren, neuzeitlich rationalistisch argumentierenden Historik und einer dogmatisch reflektierenden Interpretation bib­lischer Geschichtsdeutungen kategorial unterscheiden, ja, prinzipiell trennen will. Gegenüber einer solchen auch in der Theologie vertretenen dezidierten Ausblendung von Gottes Handeln aus jeder Reflexion über Geschichte, für die Deines exemplarisch auf Michael Murrmann-Kahl verweist, plädiert er im Sinne eines kritischen Gesprächs zwischen konkurrierenden Wahrheitsansprüchen für ein Verständnis von Heilsgeschichte als »eines von Gott planvoll auf ein Ziel hin gelenkten Geschehenszusammenhangs, zu dessen Realisierung er selbst aktiv im Geschehnisverlauf beteiligt ist« (406). Dass ein solches dezidiert theologisches Ge­schichtsverständnis heute nicht universalisierbar ist, spricht seines Erachtens nicht dagegen, es als eine Position unter anderen konkurrierenden Wahrheitsansprüchen in die aktuelle Diskussion um die Geschichte einzubringen. Heilsgeschichtliches Denken kann vielmehr »im Gegensatz zu einer scheinbar objektiven Geschichtswissenschaft zuallererst als eine Vermittlungsleistung zwischen Ge­schichte und Gegenwart«, somit als eine Gestalt historischer Sinnbildung neben anderen gewürdigt werden (413 f.).
Anschließend trägt Deines eine Reihe von Beobachtungen zusammen, die zeigen, wie im Matthäusevangelium die Überzeugung zum Ausdruck gebracht wird, »dass im Verlauf der Geschichte Gott seine spezifischen Absichten zur Verwirklichung bringt und dies auch in einer Weise kundtut, dass es von Menschen erkannt und verstanden werden kann« (424 f.). Gerade der zuletzt genannte Aspekt erklärt auch die besondere Betonung des Tuns, der »Früchte«, bei Matthäus, die nichts mit ›Werkgerechtigkeit‹ zu tun hat, sondern vielmehr die Gehorsamsforderung artikuliert, die dem Erkennen des heilsamen Handelns Gottes in der (Jesus-Christus-) Geschichte notwendig folgt. Schließlich begründet Deines in Auseinandersetzung mit E. Reinmuth noch einmal seine Position einer prinzipiellen Offenheit für Gottes Handeln in der Geschichte und verankert sie in dem theologischen Gedanken der Kondeszendenz Gottes im Christusgeschehen.
Jörg Frey (Heil und Geschichte im Johannesevangelium, 459–510) behandelt das Thema mit Blick auf das vierte Evangelium und setzt sich dabei insbesondere mit dessen Interpretation durch Rudolf Bultmann auseinander, hatte dieser doch gerade mit Blick auf die johanneische und die paulinische Theologie seine existentialtheologische Deutung von Geschichte neutestamentlich zu begründen versucht. Nach einer Skizze der Diskussion zwischen Bultmann und Oscar Cullmann um die Heilsgeschichte, die, wie Frey festhält, »außerhalb des deutschen Sprachraums (und hier vor allem der innerprotestantischen Diskurse) nur wenig Spuren hinterlassen hat« (464), entwickelt er in mehreren Schritten seine eigene Sicht des johanneischen Verständnisses von Zeit und Geschichte. Anstatt ein wie auch immer geartetes, philosophisch konstruiertes Zeitverständnis von außen an das Johannesevangelium heranzutragen, sollte man von den temporalen Gestaltungselementen der überlieferten Jesuserzählung ausgehen. Darüber hinaus deuten die zahlreichen Zeit- und Ortsangaben im vierten Evangelium auf einen konkret geschichtlichen Zeit-Raum des erzählten Geschehens. Schließlich wird bei Johannes die nachösterliche von der vorösterlichen Zeit klar unterschieden, auch wenn die erzählerische Pointe gerade darin besteht, beide narrativ miteinander zu verbinden (»eine hermeneutisch reflektierte Überblendung der Zeiten«, 475).
Entscheidendes Gewicht im johanneischen Zeit- und Geschichtsverständnis kommt dem Tod Jesu zu. »Jesu Tod ist ein geschichtliches Geschehen, das als Heilsgeschehen verstanden und zu verstehen gegeben wird … Eschatologisches Heil und irdisch-konkrete Geschichte treten nach der Überzeugung des johanneischen Autors (zumindest) hier zusammen, in diesem archimedischen Punkt, dem Heilsgeschehen des Todes Jesu. Von hier aus ist das Verhältnis von Heil und Geschichte im vierten Evangelium uneingeschränkt positiv zu be­stimmen. Ein Heil, das an der Geschichte vorbei oder über diese hinweg gedacht wäre, widerspräche der inkarnatorischen Wirklichkeit des Weges Jesu und – zugespitzt – seines Todes.« (479) Mit Blick auf den johanneischen Schriftgebrauch und auf den Prolog des Evangeliums wird diese These weiter entfaltet, bevor die Frage nach der historischen Referenz der johanneischen Jesuserzählung kritisch untersucht wird. Auch hier münden die differenzierten Analysen wieder in der Zentralstellung, die das Kreuz Jesu in johanneischer Perspektive einnimmt: »Das ›richtige‹ Verständnis der erzählten Begebenheiten und damit die johanneische Seh- und Darstellungsweise gründet in dem Geschehenszusammenhang von Kreuz und Auferstehung, und es dürfte kein Zufall sein, dass der Evangelist diese ›Stunde‹ … besonders sorgfältig notiert.« (505) Im geschichtlichen Ereignis des Todes Jesu ›geschieht‹ somit eschatologisches Heil für die Welt. Die Zeichen seiner irdischen Geschichte bleiben auch in der Verkündigung seiner österlichen Zeugen für den Auferstandenen bezeichnend. Als »archimedischen Punkt« (506, vgl. auch 479) sollte man freilich das Kreuzesgeschehen nicht bezeichnen. Denn als »Ort der Offenbarung Gottes«, als »neuer Tempel«, als »eschatologische Offenbarung Gottes« (507) kann das Jesus-Christus-Geschehen eben nicht auf einen Punkt gebracht, sondern nur als Geschichte verkündigend erzählt werden.
Allen Einzelstudien vorangestellt ist ein grundlegender Beitrag, in dem M. Hengel selbst seine Sicht zu Begriff und Sache noch einmal zusammengefasst hat (Heilsgeschichte, 3–34). Auf seinen dezidierten Wunsch hin war dieses Thema als Gegenstand des Symposiums ausgewählt worden. Seine Schüler haben ihm nicht nur diesen Wunsch erfüllt, sondern in dem vorliegenden Band durch ihre Arbeiten belegt, dass und wie sie sein Vermächtnis weitertragen wollen.