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Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1031-1033

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Steins, Georg

Titel/Untertitel:

Gericht und Vergebung. Re-Visionen zum Amosbuch.

Verlag:

Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk 2010. 165 S. 8° = Stuttgarter Bibelstudien, 221. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-460-03214-9.

Rezensent:

Rainer Kessler

Eines der anregendsten Bücher zum Propheten Amos, das in den letzten Jahren erschienen ist, setzt sich zum Ziel, ausgehend von den Visionen in Am 7–9 »Re-Visionen zum Amosbuch« vorzunehmen. Gegenstand der Revision ist das, was Georg Steins die Standardtheorie nennt. Ihr zufolge wären die Visionen biographisch zu deuten und reflektierten »den Weg des Amos vom Fürbitter Israels zum Verkünder des göttlichen Gerichts über Israel« (10). Literarisch wäre »[d]er Visionszyklus … in den ältesten Schichten des Amosbuches verankert« (31). Beides bestreitet S. Für ihn stellt der Visionszyklus eine späte theologische Reflexion dar, die mit dem historischen Amos nichts zu tun hat und nur auf der Buchebene verstanden werden kann.
Darin zeigt sich bereits der methodische Ansatz von S. Auszugehen ist ihm zufolge vom Buch, dem einzigen Text, den wir wirklich vorliegen haben. Zwar nimmt auch S. an, dass dieser Text eine Vorgeschichte hat, und unternimmt selbst einen Rekonstruktionsversuch, indem er »in der dritten und fünften Vision noch mit Fragmenten einer älteren Textschicht« rechnet (67). Aber insgesamt überwiegt die Skepsis, inwieweit »die Leuchtkraft unserer Stablampen« in der Lage ist, die »Tiefe des zu untersuchenden Raumes«, also die Vorgeschichte des vorliegenden Textes, wirklich zu erhellen (134). Versuche, eine versweise Rekonstruktion von Vorstufen vorzunehmen, die die »Präparierung des Wortlautes einer älteren Textstufe« ermöglichten, hält er für aussichtslos (69).
Im Einzelnen nimmt S. drei Revisionen vor. Die erste wurde schon erwähnt. Sie betrifft den Visionszyklus selbst. S. fasst zusammen: »Alle Beobachtungen zu den Visionen in Am 7 und 8 weisen in den gleichen Bereich der Reflexion über die Zukunft des Gottesvolkes nach der Katastrophe des Exils« (62). Besonders die Figur des Mose, wie sie Ex 32–34 zeichnet, aber auch den Propheten Jeremia sieht S. als Hintergrund, der in das Amos-Bild der Visionen eingegangen ist, so dass »Amos« geradezu »zu einem Anwendungsfall einer andernorts formulierten Lösung eines theologischen Kernproblems [wird]: Wie übersteht die Gottesbeziehung die durch Israels Gebotsverletzung(en) hervorgerufene Krise?« (73)
Die zweite Revision betrifft die Amazja-Erzählung in Am 7,10–17. S. liest sie nicht bloß als politischen Konfliktfall, der zur Ausweisung des Propheten führt. Vielmehr ist es gerade »die Ablehnung der Gerichtsbotschaft selbst«, die in den Worten Amazjas zum Ausdruck kommt, die zum Gericht führt (121). Dass danach das Wort vom »Ende für mein Volk Israel« folgt (8,2), leuchtet unmittelbar ein. Dabei ist mit »Israel« das Nordreich gemeint, das ja in der Tat nach Amos zum Ende kam. Indem Amazja aber Amos ausdrücklich nach Juda schickt, soll er »nicht nur dahin gehen, woher er gekommen ist, wie man im Deutschen in einer drastischen Wendung formuliert. Er soll zu Juda reden – und zwar prophetisch!« (83, Hervorhebung im Original). In den Worten Amazjas wird der neue Adressat der Worte des Amos – genauer des Amos-Buches – benannt.
Wie diese ist auch S.s dritte Revision überzeugend. Sie betrifft den Amos-Schluss in 9,7–15. In 9,7, das den Exodus Israels mit dem der Kuschiten, Philister und Aramäer parallelisiert, sieht S. keine Aufhebung des Vorzugs Israels, sondern eine Aussage, die die ungebrochene Zusage der »Zugehörigkeit der Israeliten zu JHWH« »in einen universalen Horizont« stellt (112 f., Hervorhebung im Original). Insgesamt ist für S. der positive Schluss des Buches kein fremdartiger Anhang, der die Botschaft des Amos auf den Kopf stellt. Vielmehr beantwortet er die Frage, ob mit dem Wort vom Ende Israels (8,2) wirklich Gottes letztes Wort gesprochen ist. Dass dabei die Weitergabe der Botschaft in Juda eine entscheidende Rolle spielt, ist bereits erwähnt worden.
Wenn ich im ersten Satz der Besprechung S.s Buch als anregend bezeichnet habe, meine ich damit allerdings nicht nur die Anregung zur Zustimmung, sondern auch zum Widerspruch und Weiterdenken. Drei Punkte hebe ich hervor.
1. Es ist bedauerlich, dass S. zwar die »Standardtheorie«, die »die Ansage des unausweichlichen Gerichts als die eigentliche Botschaft des Amos« auffasst (9, Hervorhebung im Original), – zu Recht – at­tackiert, nicht aber berücksichtigt, dass bereits 1989 Gunther Fleischer und 1992 Haroldo Reimer die Botschaft des – in ihren Augen historischen – Amos differenziert sehen. Beide Autoren kom­men zu dem Schluss, dass Amos nicht »das Volk Israel«, sondern die politisch und wirtschaftlich herrschende Schicht Israels angreift und mit dem Untergang bedroht. Sie tun das im Übrigen in Aufnahme von Gedanken Erich Zengers, des Lehrers von Georg Steins. Es wäre interessant zu erfahren, wie eine Revision dieser differenzierten Sicht des Amos aussehen würde.
2. So zustimmungsfähig ich die Revisionen zur Amazja-Erzählung und zu dem Amos-Schluss halte, so zahlreich sind die Rück­fragen zur Deutung der Visionen. S. kann nicht beantworten, warum es zwischen der 2. und der 3. Vision zur Abkehr JHWHs von seiner ursprünglichen Vergebungsbereitschaft kommt. Die Ablehnung der Prophetie kann es nicht sein, weil die Amazja-Erzählung nicht nach der 2., sondern zwischen 3. und 4. Vision steht. Schon bevor Amazja Amos nach Juda schickt, wurde Israel das Gericht angedroht. Auch der Verweis auf den Mose von Ex 32–34 hilft da nicht weiter. Denn dort steht am Anfang, nach der Verfehlung Israels, der Vernichtungsbeschluss JHWHs, auf den die Fürbitte Moses und schließlich die Reue JHWHs folgt (Ex 32,10–14). In Am 7–8 ist aber erst von Fürbitte und Reue und danach von JHWHs Vernichtungsabsicht die Rede. Diese im Verhältnis zu Ex 32 genau umgekehrte Abfolge wollte die »Standardtheorie« als eine Erfahrung des historischen Amos erklären. Die Antwort mag unbefriedigend sein, weil sie in den Raum des prinzipiell Unüberprüfbaren führt. Aber die Frage behält ihr Recht.
S. selbst legt die Spur zu einer Antwort, indem er zwischen Kapitel 1–6 und Kapitel 7–9 »die schärfste Zäsur innerhalb des ganzes Buches gesetzt« findet (37). Die Visionen springen an den Anfang der Tätigkeit des Amos zurück (ohne dass sie deshalb einmal am Anfang einer literarischen Überlieferung gestanden haben müss­ten). Damit verhält es sich in Amos ähnlich wie in Jes 1–6. Auch da haben wir in Jes 1–5 Worte des Propheten, worauf Jes 6 mit der Berufungsvision an den Anfang der Tätigkeit des Propheten zurück­springt. Und so wie die Worte Jesajas in den ersten Kapiteln den ansonsten unverständlichen Verstockungsauftrag von Kapitel 6 nachvollziehbar machen sollen, so die Worte in Am 1–6 den Um­schwung von der Vergebung zum Gericht nach der 2. Vision. Erst nach der 3. Vision kommt dann das von S. richtig herausgearbeitete Motiv hinzu, dass das Gericht zum »Ende« (8,2) führt, wenn die Gerichtsbotschaft des Propheten »des Landes verwiesen« wird.
3. Damit bekommen schließlich die Worte des Amos, vor allem seine scharfe Sozial- und Kultkritik in Kapitel 1–6, das Gewicht wieder, das sie bei S. zu verlieren drohen. Zweimal betont S., für ihn werde Amos »gewissermaßen zum Anwendungsfall andernorts formulierter theologischer Grundstrukturen« (128, vgl. 73). Noch zugespitzter: »›Kanon‹ – das bedeutet ›Thema mit Variationen‹« (128). Bei einem Thema mit Variationen kann die eine oder andere Variation auch wegbleiben, Hauptsache, das Thema kommt vor. Als bloßer »Anwendungsfall« gelesen, verdampft der Inhalt der Amosworte völlig. Es ist aber gerade die sozial- und kultkritische Botschaft des Amos, die die Wende von der Vergebung zum Gericht erklärt, auch wenn, wie S. herausarbeitet, dies nicht das letzte Wort ist. Die scharfe Kritik bildet das unverwechselbare Profil des Amosbuches, das unter keiner Revision verloren gehen sollte.