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Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1027-1029

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Boda, Mark J.

Titel/Untertitel:

A Severe Mercy. Sin and Its Remedy in the Old Testament.

Verlag:

Winona Lake: Eisenbrauns 2009. X, 622 S. gr.8° = Siphrut, 1. Geb. US$ 59,50. ISBN 978-1-57506-164-1.

Rezensent:

Corinna Körting

Mark J. Boda verfolgt mit dem angezeigten Werk ein großes Ziel. Er möchte mit einem Durchgang durch das gesamte Alte Testament in großen Zügen die sich in den Texten spiegelnde Auseinandersetzung mit »Schuld und ihrer Bewältigung« darlegen. Auch bei einem Buchumfang von 523 Seiten zuzüglich Registern ist dies als eine Aufgabe zu betrachten, die kaum detaillierte Text- oder Wortfeldanalysen zulässt, sondern sich an der Textoberfläche bewegen muss.
B. will, wie er in der Einleitung erklärt, mit dem Text auf der Ebene des »kanonischen« Erscheinungsbildes arbeiten (4–5). Er begründet diese Entscheidung von B. S. Childs her damit, dass der canonical approach sich intensiver als andere Ansätze mit der Ausprägung der Botschaft der biblischen Bücher in ihrer Endgestalt sowie mit der Gestalt des Kanons auseinandersetzt (4). Daraus folgt, dass die kanonische Platzierung der Bücher eine zentrale Rolle spielt; die Eröffnung des Alten Testaments durch die Tora muss ebenso zum Tragen kommen wie die Dreiteilung in Tora, Propheten und Schriften. B. folgt, was mit dem Begriff »kanonisch« ja noch nicht zwingend gegeben ist, der Buchfolge der »Jewish Hebrew Tradition« (7–9).
Zwei weitere Voraussetzungen sind anzumerken. Der Text wird unter Bezugnahme auf seinen historischen Kontext gelesen, »as a Hebrew/Aramaic work read by Jewish religious communities in the first millennium B. C. in western Asia« (5). Dennoch geht es nicht um die reine Beschreibung der Religion des Alten Israel, sondern um Normativität, um Theologie des Alten Testaments und ihren Anspruch (5). Eine für die Einführung sicherlich unerlässliche Definition von Sünde hält B. mit Verweis auf die Bedeutung des Kontextes für das »phenomenon of sin« sehr kurz. Er beschreibt es als »an offense against a divinely ordered norm« (11) und verweist auf die in größerem Zusammenhang erfolgende Darstellung.
Bereits mit Beginn der Lektüre stellt sich die Frage, inwiefern ein so breit angelegter Ansatz überhaupt sinnvoll ist. Allein die Aufhebung der Unterscheidung von priesterlicher und deuteronomistischer Tradition zugunsten einer nach biblischen Büchern geordneten Lektüre scheint im Hinblick auf die Stringenz theologischer Gedankengänge problematisch. Ein weiteres, ebenfalls diesem Ansatz geschuldetes Problem ist die Frage, nach welchen Kriterien die großen Linien innerhalb der Bücher überhaupt gezogen werden. Welche Erzählungen, welche prophetischen Ausführungen werden herangezogen, welche musste man beiseite lassen und weshalb? Antworten darauf ergeben sich für den Leser nur teilweise und rückschließend, aufgrund der Gesamtschau.
Dass B. Definitionsfragen und systematisierende Darstellungen innerhalb verschiedener Überlieferungsbereiche dennoch nicht umgeht, so u. a. im Rahmen der Sündenterminologie und Theologie des Buches Leviticus, ist hervorzuheben. Damit wird priesterliche Sühnetheologie schließlich doch aufgenommen, in ihrer Komplexität dargelegt und zudem, vorsichtig (cf. 50), in den größeren Erzählzusammenhang der Sinaiperikope gestellt. Weitere zentrale Texte zum Thema Schuld und Bewältigung von Schuld wie Jes 52,13–53,12 oder Ps 51 werden im Verhältnis zu weiten Teilen der Überlieferung ausführlich behandelt.
Die Leser erhalten, gemäß der großen Vielfalt der biblischen Überlieferung, sehr unterschiedliche Einblicke in die Fragen nach Sünde und ihrer Bewältigung. Beispiele aus zwei Textbereichen sollen gegeben werden:
Indem einzelne große Linien der Genesis, geordnet nach den Toledot, nacherzählt werden, zeigen sich für B. einige Schwerpunkte. Gott beantwortet Sünde hauptsächlich mit Verurteilung – zum Verlust ewigen Lebens, zu Schwierigkeiten bei der Erfüllung des Auftrages zur Fruchtbarkeit oder zum Tode. Vergebung kommt in den ersten elf Kapiteln der Genesis kaum zum Tragen, Hoffnung ist hingegen ein herausragendes Prinzip. Kann B. nun dennoch Sünde, Urteil, Vergebung und Hoffnung als die vier grundlegenden Prinzipien für die Genesis festhalten (33), so zeigt er über die Genealogien die Verknüpfung des Hoffnungsträgers Seth mit Terach, dem Vater Abrahams. Hoffnung und Segen, einschließlich Gnade und Vergebung, wie sie sich in den Erzählungen um Abraham zeigen, finden hier zusammen. In der Verbindung von Urgeschichte und Vätergeschichte erweist sich nun das, was die Genesis als das die Tora einleitende Buch ausmacht; »a universal frame of reference« (34). Menschliche Sündhaftigkeit und die Notwendigkeit der Befreiung von Schuld werden verbunden mit dem Willen Gottes, durch Israel die Nationen zu segnen, was die Rückkehr in die Gemeinschaft mit Gott einschließt.
Den Psalter behandelt B. in zwei großen Kapiteln. Zunächst zeigt er in einem Längsschnitt größere Themen, dann bespricht er eine ganze Reihe von Psalmen ausführlicher. Mit dem eröffnenden Psalm 1 ist das erste größere Thema vorgegeben, das Verhältnis von Gerechtem und Sünder. Es zieht sich durch den gesamten Psalter. Grundlegend ist, dass Sünde bestraft, Gerechtigkeit jedoch gesegnet werden soll (402 f.); doch auch die Problematik dieses Ansatzes kommt zur Sprache. Daneben zeigt sich nach B. jedoch die eine Theologie, die die allgemeine Sündhaftigkeit des Menschen hervorhebt, sei er gerecht oder sündig (405). Unabhängig davon, ob schuldig oder unschuldig, jeder kann sich nach der Gnade Gottes ausstrecken, kann die Umformung seines Herzens erfahren.
Im abschließenden Kapitel (515–523) wird den Lesern mittels eines zusammenfassenden Überblickes noch einmal der Facettenreichtum des Themas vor Augen geführt. Sünde ist ebenso Verstoß gegen Gottes Gebot wie das Streben des Menschen nach göttlicher Erkenntnis. Sünde ist, so B., die Unreinheit, die die heilige Gegenwart Gottes unmöglich macht, im Tempel oder auch im durch Mischehen verdorbenen Juda. Sünde geschieht bewusst oder unbewusst und kann Konsequenzen haben, nicht nur für das Individuum, sondern für Generationen (517 f.). Eines der von B. herausgearbeiteten Muster zur Bewältigung von Schuld bezeichnet eine Abfolge von menschlicher Sünde, göttlicher Strafe, menschlicher Antwort, ausgedrückt in einem Schrei zu Gott, häufig gekoppelt an Buße und schließlich die göttliche Gnade (519). Kultische Sühne wird dieser Art Muster insofern untergeordnet, als sie der Bewusstmachung von Schuld und Verfehlung dient (73–76). Doch B. verweist auch auf die Stimmen, die dieser Art Muster zuwiderlaufen, das ungerechtfertigte Leiden ebenso wie die ungerechtfertigte Gnade. Er schließt mit dem Verweis auf Gottes Charakter, der gnädig ist und gerecht, der vergibt und straft; dessen »severe mercy« allein von seinem souveränen Willen bestimmt wird (Ex 33,19).
Meine anfängliche Skepsis im Hinblick auf die Breite des Ansatzes ist auch nach Beendigung der Lektüre nicht vollständig ausgeräumt. Das Buch von B. vermag zwar deutlich zu zeigen, dass ein Ansatz, der, anders als der hier präsentierte, das Ziel verfolgt, das gesamte Alte Testament unter der Fragestellung von Schuld und ihrer Bewältigung zu systematisieren, schwer durchführbar sein dürfte; zu vielfältig sind die Stimmen. Eine Kontextlektüre ist unumgänglich. Dennoch scheint mir eine tiefergehende exegetische Auseinandersetzung mit den einzelnen Texten geboten, zumal der Ansatz selbst ja eine große Nähe zur Textüberlieferung voraussetzt. Dazu gehört jedoch auch die Wahrnehmung der langsamen Formierung eines Kanons und der so miteinander ins Gespräch kommenden unterschiedlichen Traditionen. B. will mit seinem Ansatz nun aber nicht nur Vielfalt belegen, sondern im Rahmen der kanonischen Lektüre die großen Linien nachzeichnen, die sich in Struktur und Gestalt der einzelnen Kanonabschnitte und Bücher aufzeigen lassen. Doch hier erweisen sich m. E. die mit dem Ansatz vorgegebenen Buchgrenzen als eher hinderlich. Sie zwingen zu extrem kurzen Abhandlungen einer Vielzahl von Kapiteln (die Wüstenerzählungen [Num 10–26], der stete Wechsel von Schuld und Strafe, werden auf zwei Seiten verhandelt) oder unterbrechen Zusammenhängendes, wie die großen Bögen deuteronomistischer Umkehrtheologie.
Das Buch leistet dennoch, bei aller Kritik, einen beachtlichen Beitrag zur Fachdiskussion, sei es methodisch, sei es theologisch. Es lädt zu weitergehender Auseinandersetzung mit dem Thema ein.