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Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1016-1018

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Gabriel, Karl, Spieß, Christian, u. Katja Winkler [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion – Gewalt – Terrorismus. Religionssoziologische und ethische Analysen.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2010. 249 S. gr.8° = Katholizismus zwischen Religionsfreiheit und Gewalt, 3. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-506-76934-3.

Rezensent:

Gert Pickel

Der auf Beiträgen einer Tagung am Exzellenzcluster »Politik und Religion« an der Universität Münster im November 2009 beruhende Sammelband von Karl Gabriel, Christian Spieß und Katja Winkler beschäftigt sich mit einem religionssoziologisch brisanten Thema – dem Verhältnis zwischen Religion und Gewalt – und dort speziell terroristischer Gewalt. Religion wurde spätestens seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in der medialen Be­richt­­erstattung verstärkt, wenn nicht sogar mehrheitlich, unter dem Aspekt ihres Gewaltpotentials wahrgenommen. Teilweise schien es fast so, als wären positiver besetzte Wirkungsmechanismen von Religion, wie Integration, Kontingenzbewältigung oder Seelsorge, aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Entsprechend ist mit dieser Thematik eine ganze Palette an Fragen verbunden, die im auch vorliegenden Buch behandelt werden. Dies umfasst die Möglichkeit der »Produktion von Gewalt« durch Religionen genauso wie das Risiko der Vereinnahmung von Religion für bestehende Konflikte (7) oder die Einschränkung von Menschenrechten durch Sicherheitsgesetze.
Die meisten Beiträge des Bandes folgen dieser Argumentationslinie. Dabei bildet das Thema Terrorismus die Klammer der einzelnen Beiträge, während die Gewaltdiskussion eher flankierend zur Geltung kommt. Die Autoren setzen sich vornehmlich die Analyse des »komplexe(n) Zusammenhangs von Religion, Gewalt und Terrorismus« (11) zum Ziel. Diese Schwerpunktsetzung ist gut ge­wählt, liegen doch zu dieser Diskussion weit weniger Beiträge vor als zur Auseinandersetzung mit dem allgemeineren Thema Gewalt und Religion. Das für die Publikation leitende Verständnis von Terrorismus sieht diesen als »politisch motivierte gezielte Ausübung physischer Gewalt in der Regel gegen Zivilisten durch nichtstaat­liche Akteure mit symbolischer Bedeutung« (9). Die zehn vorliegenden Beiträge lassen sich gut in zwei Gruppen unterteilen: Auf der einen Seite stehen die Begründungsfaktoren für (religiösen) Terrorismus im Zentrum (Frühbauer, Kippenberg, Spieß, Voigt). Auf der anderen Seite steht die Auseinandersetzung mit den ethischen, religiösen und politischen Folgen der Terrorismusbekämpfung (Angel, Baumgartner, Heinz, Klöcker, Palaver, Schilling).
Terroristische Aktivitäten von Menschen sind ein Phänomen, das auf einer Vielzahl an Motiven beruht. Eine zentrale Bedeutung kommt der Gefährdung der eigenen und kollektiven Identität zu. Christian Spieß sieht in der »verweigerten Anerkennung« (56), die verschiedene religiös-soziale Gruppen erfahren, und der daraus resultierenden Wahrnehmung einer Diskriminierung der eigenen Gruppe (63) den zentralen Auslöser für die Beteiligung von Personen an Terrorakten. Der Bezug zur Identitätssicherung ist auch Ausgangspunkt für die Motivbestimmung bei Selbstmordattentätern. Nur bei einer ausgeprägten religiösen Identität entwickelt sich ein Selbstverständnis als Märtyrer. Da sich der Märtyrerstatus nach Johannes J. Frühbauer erst durch den Tod des Ausführenden und nicht durch den Anschlag an sich konstituiert (80), ist der Jenseitsbezug zwingend. Mit dem Status als Märtyrer ist eine Vorbildfunktion verbunden, die sich – so Verena Voigt – am besten im Bezug zu einer (geheiligten) Nation oder Gemeinschaft entwickeln kann. Hans G. Kippenberg macht hier auf eine wichtige Differenzierung aufmerksam. Er gibt zu bedenken, dass politische Aktivitäten religiöser Organisationen manchmal gar nicht religiös motiviert sind. Oft wird ein säkularer in einen religiösen Konflikt umgedeutet. Dies soll nicht heißen, dass religiöse Gemeinschaftsmotive nicht konfliktrelevant sind (40). Wenn säkulare Vergemeinschaftungsstrategien (z. B. Nation, Staat, Demokratie) versagen, öffnet sich der Raum (wieder) für religiöse Ge­meinschaften, entsprechend dem Grad ihrer sozialen Macht.
Bei der Terrorismusbekämpfung stellt sich die Frage nach der Grenzziehung für ihre Maßnahmen. So sollten die so entstehenden Sicherheitsgesetze sich immer innerhalb der Menschenrechte bewegen. Um dies zu gewährleisten, bedarf es einer guten, parlamentarischen Kontrolle (Wolfgang S. Heinz, 128). Keinesfalls dürfen Terrortaten seitens des Staates als Legitimation für die Einschränkung von Menschenrechten und (demokratischen) Freiheiten verwendet werden. Deswegen muss man dem Terrorismus aber nicht vollständig gewaltfrei begegnen. Sebastian Schilling wie auch Christoph Baumgartner betonen eine Berechtigung der Individuen auf (auch gewaltsame) Hilfe. So formuliert das »principle of equal regard« das Recht aller Menschen, aus extremen Unrechtssituationen gerettet zu werden (171). Dies impliziert auch die Be­kämpfung von Terrorismus, aber immer unter Einbindung aller politischen und diplomatischen Mittel. Dies kommt in den »Whole of Government Approaches« zum Ausdruck, die eine aufeinander abgestimmte Strategie in der Bekämpfung des Terrorismus vorschlagen (164).
Ist in den zuletzt genannten Beiträgen die Verbindung zu Religion eher schwach, stellt Katharina Klöcker diesen Bezug explizit über das Prinzip der Gerechtigkeit her. Sie plädiert für eine theologisch reflektierte (Un)sicherheitsethik, welche die Grenzziehungen der Legitimierung von Sicherheitsmaßnahmen bestimmen (221). Wolfgang Palaver sieht aus sozial­ethischer Position eine Chance der Befriedung des Terrors in den Ver­gebungspotentialen der großen religiösen Traditionen (244). Sie könnten die – bei René Girard aufgezeichnete – Spirale von Gewalt und Gegengewalt und die daraus abgeleiteten Ansprüche der Opfer auflösen helfen.
Aufgrund des breiten Themenspektrums unterliegt das Buch den kaum zu vermeidenden Mankos vieler Sammelbände: Es kann nicht alle Facetten der Thematik ausschöpfen. Doch wäre dies auch ein zu vermessener Anspruch gewesen, der seitens der Herausgeber so nicht gestellt wurde. Und auch das damit verbundene Problem einer Zusammenfassung der einzelnen Beiträge mit Zielrichtung der Formulierung einheitlicher Thesen, die für das ganze Buch oder darüber hinaus gelten, wird in der Regel selten erfüllt und kann nicht als spezifisches Defizit dieses Bandes herausgehoben werden.
Drei Punkte sind allerdings doch zur Diskussion zu stellen. So ist zum einen der Anschluss an die breite Debatte der Internationalen Beziehungen im nordamerikanischen Raum sehr schwach. Gerade mit Bezug zu übergreifenden Aussagen des Verhältnisses von Gewalt und Religion unter Einbezug von Konflikten hätte der Band hier bereichert werden können. Sowohl die kritisch diskutierten Thesen Samuel Huntingtons (1996), der Religion ja als Produzent von internationalen Konflikten ausmacht, als auch die weiterführenden Gedanken von Jonathan Fox (2004), der die ethnische Genese von Konflikten in den Vordergrund rückt, dabei aber auf die bestehende Konflikte verschärfende – und damit Gewalt hervorrufende – Bedeutung von Religion verweist, wären an­schlussfähig für die vorliegenden Debatten gewesen. Da ist es verwunderlich, dass faktisch in keinem Beitrag auf diese Überlegungen Bezug genommen wird. Damit verbindet sich ein zweites Desiderat – zumindest aus Sicht des Rezensenten. Die zuletzt ge­nannten Zugänge rekurrieren auf internationales, vergleichendes Datenmaterial. Einen solchen Beitrag sucht man im vorliegenden Band vergeblich. Dies schränkt die Verzahnung mit der vornehmlich politikwissenschaftlichen Diskussion von Religion und (Ge­walt-)Konflikten erheblich ein. Am deutlichsten wird dieses Manko bei der Diskussion um den »gerechten Frieden« (Angel, 183 ff.), die sich konzeptionell an die in den internationalen Beziehungen geführte Debatte zum »gerechten Krieg« anschließt. Die in diesem Zusammenhang diskutierten Daten und Schlussfolgerungen werden aber als Referenz weitgehend außer Acht gelassen. Drittens hätte man sich in mehr Beiträgen Bezüge zu Religion und Theologie gewünscht.
Trotz dieser Desiderata gelingt es dem Band gut aufzuzeigen, dass es sich bei der Dreiecksbeziehung »Religion – Gewalt – Terrorismus« um eine bislang zu Unrecht eher randständig behandelte Fragestellung der deutschen Sozialwissenschaften und Theologie handelt. Die hohe Relevanz dieser Trias für Prozesse der Identitätsbildung und -sicherung von Religion wird deutlich erkennbar. Es stellt sich die Frage, ob nicht diesen Wirkungszusammenhängen in der theologischen Debatte mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte, als das bisher der Fall war. Damit stellt der Band einen wichtigen Baustein für eine Beschäftigung mit dem komplexen und vielschichtigen Verhältnis zwischen Politik und Religion dar. Dabei ist ausdrücklich der Versuch eines interdisziplinären Zugangs, mit einer doch identifizierbaren Positionierung in der Theologie, positiv hervorzuheben. Dies sollte aber als Ausgangs- und nicht als Endpunkt des Weges einer breiten Auseinandersetzung mit dem Thema Religion, Gewalt, Konflikt und Terrorismus gesehen werden.