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Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1014-1016

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Markschies, Christoph, u. Hubert Wolf [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Erinnerungsorte des Christentums. Hrsg. unter Mitarbeit v. B. Schüler.

Verlag:

München: Beck 2010. 800 S. m. 126 Abb. gr.8°. Lw. EUR 38,00. ISBN 978-3-406-60500-0.

Rezensent:

Annina Ligniez

Der Sammelband Erinnerungsorte des Christentums vereint insgesamt 55 einzelne Aufsätze über zentrale, reale und übertragene Erinnerungsorte des Christentums. Damit reiht er sich zum einen ein in die von dem französischen Historiker Pierre Nora begründete Tradition der Frage nach sog. lieux de mémoires und der damit verbundenen Vorstellung, dass sich das kollektive Gedächtnis einer sozialen Gruppe immer auch an bestimmten Orten kundtut. Zum anderen knüpft diese Zusammenstellung zweier Professoren für Kirchengeschichte, eines ordinierten evangelischen Pfarrers und eines geweihten katholischen Priesters (727), an vorangegangenen Publikationen des Verlags C. H. Beck an: Neben Deutschen Erinnerungsorten, Erinnerungsorten der Antike oder Erinnerungsorten der DDR kann man nun auch eine literarische Pilgerreise durch die Erinnerungsorte des Christentums unternehmen.
Das Motiv der Pilgerschaft findet sich zahlreich in den einzelnen, durchaus sehr unterschiedlich gestalteten Annäherungen an die verschiedenen Orte des Christentums. Vor allem die Ausführungen zu den sog. Zentralorten und den realen Orten spiegeln wider, dass Erinnerungsorte häufig zu Stein gewachsene Verräumlichungen des kollektiven Gedächtnisses darstellen. Bei einem ersten Durchmarsch des Inhaltsverzeichnisses erschließen sich manche Orte wie von selbst, andere wiederum laden zum Innehalten und Grübeln ein: Warum nun moderne Metropolen wie Dresden oder Leipzig Erinnerungsorte des Christentums sein sollen, erschließt sich erst nach Lektüre des dazugehörigen Aufsatzes. Die Herausgeber begründen ihre »repräsentative, gleichwohl subjektive Auswahl« (25) folgendermaßen: Die »sieben ›Zentralorte‹ der Christenheit« symbolisieren einerseits »Identitätspunkte der großen christlichen Konfessionen« ( Sinai, Bethlehem, Jerusalem). Andererseits werden Orte aufgeführt, die für das »konfessionell segmentierte, kollektive christliche Gedächtnis« (25) stehen (Genf, Konstantinopel, Rom, Wittenberg). Die »realen Orte« wiederum verweisen nicht nur auf ihre geographische Verortung, sondern auch »als Topoi auf andere christliche Erinnerungspotentiale, die sich mehr oder weniger mit ihnen verbinden« (25). Der dritte Teil des Bandes greift schließlich eine der Herangehensweisen von Etienne Franc¸ois und Hagen Schulze (Deutsche Erinnerungsorte) auf und fasst den Ort nicht mehr räumlich, sondern im übertragenen Sinne: Gespannt erwartet man die Lektüre der 25 »übertragenen Orte« – über z. B. Bibel, Caritas und Diakonie, christliche Politik, das Gesangbuch, das Pfarrhaus oder auch Medien und Schule und stolpert dabei auch über ›Orte‹, wie z. B. Humanae Vitae. In der Einleitung der beiden Herausgeber wird ein durchaus inzwischen unumstrittenes Diktum deutlich: Das Christentum kann sich als Erinnerungsreligion par excellence bezeichnen. Zugrunde gelegt ist ein »genuin christliches« (11) Konzept der memoria anknüpfend an den Auftrag Jesu im Bericht von seinem letzten Abendmahl: »Tut dies zu meinem Gedächtnis« (Lk 22,19). Umso verwunderter ist man, dass man den Erinnerungsort Abendmahl/Eucharistie ver­-geblich sucht, was vielleicht der Kluft zwischen einer »im guten Sinne« versuchten ökumenischen (727) Ausrichtung des Buches und der gegenwärtigen ökumenischen Realität geschuldet ist.
Die einzelnen Aufsätze schwanken in ihrer Darstellung: Eher sachlich-nüchterne Beschreibungen monumentaler Bauwerke (z.B. K. Bieberstein über Jerusalem) wechseln sich mit teilweise sehr erbaulichen Ausführungen ab. So beschließt Walter Kardinal Kas­per z. B. seine Ausführungen über Rom mit dem Aufruf, die Er­innerungsorte Roms als »Ansporn und Maßstab« zu nehmen, »heute ähnliche Erinnerungsorte zu schaffen, die für die kommenden Generationen … Hoffnungszeichen werden …« (126 f.). Wolfgang Huber wiederum richtet seinen Blick bei seiner Abhandlung über den Zentralort Wittenberg hauptsächlich auf die lutherische Freiheit eines Christenmenschen und lässt hier und da einen Blick auf den realen Ort Wittenberg vermissen. Ohne jeden einzelnen Autor gesondert in diesem Rahmen mit seiner Darstellung würdigen zu können, wird eines bei der Lesereise durch den Sammelband deutlich: Erinnerungslandschaften entstehen nicht von selbst, sondern werden konstruiert und geschaffen. Dabei geht es nicht um eine detaillierte Darstellung von historischen Wahrheiten. Gert Mel­ville merkt in seinen Ausführungen über Montecassino sogar an: »Der numinosen Magie eines Erinnerungsortes, die unumgänglich ist für seine Wirkung, mag eine gewisse Unschärfe des einschlägigen Wissens sogar dienlich sein.« (325) So kommt man zu dem Schluss, dass Erinnerungsorte, ganz gleich, ob sie sich geographisch fassen lassen oder nur im übertragenen Sinne Annäherung erfahren, dem stetigen Wandel der Geschichte unterliegen. »Umdeutungen sind nicht zu vermeiden« (M. Benand über Bethel, 225). »Erinnerung, auch christliche … ist unberechenbar …« (A. Smoltczyk über Regensburg, 357). Andere Erinnerungsorte werden gleichwohl zu »be­herrschten Erinnerungsorten«, in deren »Geltungsrang … kontinuierlich von oben investiert wird« und das Gedächtnis dementsprechend »ambivalent« ausfällt (N. Lüdecke über Humanae Vitae, 546). So gibt es auch keine »selbstverständliche(n) Erinnerungsorte« (C. Markschies über Kreuz, 574). Johann Hinrich Claussen verweist zudem in seinen Ausführungen über Predigt und Kanzel auf das Paradox, »dass zwei Einrichtungen, die in besonderer Weise der Glaubenserinnerung dienen, nicht selbst erinnert werden sollen«, da sie »Träger einer Funktion« sind, um einen »geistigen Erinnerungsort zu schaffen« (667).
Die Lektüre des Buches erschließt darüber hinaus die Erkenntnis, dass Erinnerungsorte nicht immer nur an ›goldene Zeitalter‹ und ›schöne Geschichten‹ anknüpfen: Gert Melville profiliert Montecassino als »Ort der negativen Erinnerung – der Erinnerung an etwas, was sich nicht wiederholen darf«, und knüpft an die Ereignisse aus dem Jahr 1944 an, als dort eine der »längsten und opferreichsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs« (323 f.) stattfand. Auch der zunächst in seiner Auswahl irritierende Erinnerungsort Dresden fungiert aufgrund seiner »symbolischen Betroffenheit« weniger als Erinnerungsort kunsthistorischer Annäherung als vielmehr als Ort der »Einladung, ›uns dem Desaster zuzuwenden, ohne es zu verstehen oder zu ertragen‹« (260 f.). Der durchaus selbstbewussten Meinung der Autoren, dass »wir einen spannenden Band vorgelegt haben« (727), ist mit einem Schmunzeln angesichts dieser Selbsteinschätzung ohne Einschränkung beizupflichten.
Mit den Erinnerungsorten des Christentums liegt eine zweifellos repräsentative, wenngleich sicherlich auch vorläufige Auswahl von zentralen Orten des Christentums vor. Denn welche Orte Eingang finden in das kollektive und kulturelle Gedächtnis einer Religionsgemeinschaft, unterliegt zweifelsohne der sich immer wieder er­neuernden und diese Orte vergegenwärtigenden Erinnerung der einzelnen Mitglieder dieser Gemeinschaft. Felix Fabri, ein Dominikaner aus Ulm, verfasste im 15. Jh. einen Auszug seiner Pilgerberichte aus dem heiligen Land für Dominikanerinnen, um diesen »einen spirituellen Nachvollzug der Pilgerreise zu ermöglichen« (K. Bieberstein über Jerusalem, 74). Der Band weckt eventuell keine spirituellen Impulse, ermöglicht aber den Leserinnen und Lesern eine besondere Annäherung an die Fülle und Weite der Symbolsysteme, Ausdrucksgestalten und mehr oder weniger heiligen Stätten des Christentums.