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Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1010-1012

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Bruch, Rüdiger vom [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Berliner Universität im Kontext der deutschen Universitätslandschaft nach 1800, um 1860 und um 1910. Hrsg. unter Mitarbeit v. E. Müller-Luckner.

Verlag:

München: Oldenbourg 2010. XVII, 259 S. m. Tab. gr.8° = Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien, 76. Geb. EUR 59,80. ISBN 978-3-486-59710-3.

Rezensent:

Matthias A. Deuschle

Spätestens seit den Jubiläumsfeierlichkeiten der Humboldt-Universität zu Berlin im Jahre 2010 ist allseits bekannt, dass die mit dem Konzept der Humboldtschen Universität verbundenen Maximen weniger den Anfängen der Berliner Universität als vielmehr ihrer Selbstinszenierung aus Anlass ihres 100-jährigen Bestehens entsprungen sind. Umso mehr stellt sich jedoch die Frage nach der Eigenheit der Berliner Neugründung und nach ihrer Rolle in der Geschichte der Universität. Darum ist es sehr zu begrüßen, dass der von Rüdiger vom Bruch unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner herausgegebene Tagungsband die Berliner Universität in die Universitätslandschaft des 19. und beginnenden 20. Jh.s einzeichnet. Durch die vergleichende Perspektive wird nämlich sehr schnell deutlich, dass die Berliner Entwicklung zwar als »symptomatische Zuspitzung gelesen werden [kann], nicht aber als Leitplanke der deutschen Universität im 19. Jahrhundert« (X).
Die von namhaften Autoren geleistete »universitätsgeschicht­liche Vermessung« (VIII) des 19. Jh.s vollzieht sich in vier Schritten: Zunächst wird der »Gestaltwandel der Universität um 1800« (I.) thematisiert, dann das »Selbstverständnis und Umbauten der Universität im deutschsprachigen Raum 1850/60« (II.) und »Struktu­relle Rahmenbedingungen im Wandel« (III.). Schließlich beleuchtet das letzte Kapitel unter der Überschrift »Stolze Selbstwahrnehmung – Konkurrenzen – Verwerfungen« die deutsche Universität am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Verbunden sind die Aufsätze, die teilweise eine Bündelung früherer Forschungsbeiträge ihrer Autoren darstellen, teilweise aber auch ganz neu aus den Quellen gearbeitet wurden, durch die Blickrichtung. Es wird selbstverständlich nicht die ganze deutsche Universitätslandschaft vermessen. Den Fluchtpunkt bildet die Berliner Universität. Dabei wechseln sich Überblicke und Detailanalysen ab.
Überblicke finden sich jeweils am Anfang von Teil I und II sowie in Teil III: Notker Hammerstein geht der Frage nach, was das Eigentümliche der Reform um 1800 im Vergleich mit früheren Innovationsprozessen ausmacht. Den Entwicklungssprung sieht er darin, dass das Institutionengefüge trotz der zahlreichen Reformen vor 1800 nahezu unverändert geblieben sei, die Universität im 19. Jh. aber eine neue Stellung im Gemeinwesen eingenommen habe, d. h.: Die Universität rückte aus ihrer korporativen Eigenwelt in die Mitte der Gesellschaft, wodurch »persönliche Leistung, wissenschaftliche Kompetenz und überprüfbares Talent« ganz neues Gewicht bekamen (18). Winfried Müllers weitgespannter Beitrag über die Jubiläumskultur an den Universitäten analysiert anhand von sieben Universitätsjubiläen den »Jubiläumsboom« (76) des 19. Jh.s. Peter Lundgreen geht der bis heute virulenten Frage nach, wie die »Forschungsuniversität« ihren Bildungszwecken de facto gerecht werden konnte (112). Dafür untersucht er das Spannungsfeld von universitärer Selbstbestimmung und staatlichen Regulierungen anhand von Prüfungsordnungen. Dabei zeigt er auf, wie sich die universitäre, von der Forschung ausgehende Spezialisierung und die von den Prüfungsordnungen angelegten Be­rufsprofile gegenseitig beeinflussten. Wolfgang Neugebauer räumt mit dem Klischee auf, die Wissenschaftsautonomie sei in erster Linie von der Übermacht der Kultusbehörden bedroht gewesen. Zu Recht verweist er auf die Bedeutung von »Personen und Netzwerken«, die »die Kulturstaatsentwicklung auch in Preußen ganz wesentlich steuerten« (146). Matthias Sticklers Beitrag beschäftigt sich mit den »wesentliche[n] Grundzüge[n] der Entwicklung der studentischen Selbstorganisation« (151) im 19. Jh., konkret: mit der Geschichte der Studentenverbindungen. Der konzise Überblick, der nicht nur gut in die Literatur einführt, sondern auch zahlreiche Forschungsdesiderate benennt, weist auf die deutsche Besonderheit hin, dass sich die entscheidende studentische Lebensform außerhalb der Universität ausbildete.
Wichtige Pflöcke bei der universitätsgeschichtlichen Vermessung bilden auch die Einzelfallstudien: Hans-Werner Hahn beleuchtet in seinem Beitrag über Jena den Typus der »politisierten Universität«. Thomas Becker weist nach, dass die drei zunächst namenlosen, später nach Friedrich Wilhelm III. benannten Universitäten in Berlin, Breslau und Bonn als »ein einziges, diversifiziertes Modell« (68) zu betrachten sind, wobei sich die Differenzen aus den unterschiedlichen konfessionellen Kontexten ergeben. Walter Höflechners Beitrag belegt die Dominanz des deutschen Vorbilds anhand der Entwicklung des habsburgischen Universitätssystems nach 1848. Matthias Middell rückt in seiner vergleichenden Studie die Leipziger Universität in den Mittelpunkt, indem er die Positionierungsstrategien in Berlin und Leipzig nach 1900 untersucht. Sylvia Paletschek schließlich betrachtet Berlin im Vergleich mit den süddeutschen Universitäten Tübingen und Freiburg und macht wiederum deutlich, dass die Berliner Neugründung keineswegs als alleiniges Vorbild für die anderen deutschen Universitäten fungierte, sondern »Teil einer breiten, sämtliche deutsche Staaten erfassenden Universitätsreformwelle um 1800« (221) war. Im abschließenden Beitrag begibt sich Charles E. McClelland noch einmal zum Gründungsort des »Mythos Humboldt« und benennt die Gründe, warum das Jubiläumsjahr 1910 einen Wendepunkt in der Geschichte der Berliner Universität darstellt.
Auf recht überschaubarem Raum bietet der Band eine Fülle von Einblicken in die Forschungen zur Universitätsgeschichte des 19. Jh.s. Da die Perspektive nur an Berlin orientiert, nicht aber auf Berlin zentriert ist, kann er gut als Überblick über die Entwicklung der deutschen Universitäten nach 1800 dienen und ist in dieser Hinsicht uneingeschränkt zu empfehlen.