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Ausgabe:

Oktober/2011

Spalte:

1009-1010

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Böhm, Thomas [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Glaube und Kultur. Begegnung zweier Welten? Hrsg. in Zusammenarbeit m. B. Barth.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 2009. 318 S. 8°. Geb. EUR 19,95. ISBN 978-3-451-29878-3.

Rezensent:

Nina Heinsohn

Welche Funktion und Aufgabe kommt dem christlichen Glauben in der pluralen postmodernen Gesellschaft zu? Vermag er trotz divergierender und konkurrierender Wahrheitsansprüche weiterhin (s)eine kulturprägende Kraft zu entfalten – und wenn ja, wie? »Was ist überhaupt Kultur?« (9) – Diese Fragen weisen in das thematische Zentrum des vorliegenden, vom katholischen Kirchen­his­toriker Thomas Böhm herausgegebenen Sammelbandes, der zwölf Vorträge einer Freiburger Ringvorlesung in sich vereint, gehalten anlässlich des Universitätsjubiläums im Jahr 2007.
Bereits die knappe Einordnung des Werkes zeigt, dass der Band eines definitiv zu geben verspricht: Einblick in das theologische, in Forschung und Lehre vertretene Spektrum der Freiburger Theologischen Fakultät. Exegetische (H. Irsigler, L. Oberlinner) und historische Disziplinen (T. Böhm) sind in ihm ebenso vertreten wie systematisch- (H. Hopin, E. Schockenhoff, P. Walter) und praktisch-theologische Perspektiven (K. Baumann, U. Nothelle-Wildfeuer, H. Windisch). Auch ein religionswissenschaftlicher (B. Uhde), ein kirchenrechtlicher (G. Bier) und ein religionsphilosophischer Beitrag (M. Enders) finden Berücksichtigung. Kultur als Thema theologischer Reflexionen präsentiert sich somit als interdisziplinär zu bearbeitende Aufgabe, als nur in der Zusammenschau verschiedener Fragestellungen adäquat zu erfassendes Sujet.
Eröffnet wird der Band durch einen Beitrag von P. Walter (15–37), der dieser literarischen Funktion in zweifacher Weise Rechnung trägt. So bietet er zunächst eine Skizze des Kulturbegriffs von der antiken cultura animi (Cicero) bis hin zur Einführung des absoluten Gebrauchs von cultura bei S. Pufendorf, um hernach – einen großen historischen Sprung vollziehend – mit dem Kulturbegriff R. Konersmanns Anschluss an die gegenwärtige philosophische und kulturwissenschaftliche Debatte zu suchen. Kultur tritt hier als »ein grundsätzlich unabgeschlossener Vorgang« (23), als »provisorische[r] und in unablässiger Bewegung begriffene[r] Mentalitäts- und Handlungszusammenhang« (ebd.) in den Blick. Darüber hinaus widmet sich der Beitrag in einem zweiten Hauptteil der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute des Vaticanum II, Gaudium et spes, dem Anfangspunkt einer bewussten Reflexion des modernen Kulturphänomens »auf der Stufe des obers­ten kirchlichen Lehramtes« (24). In seiner Analyse des Dokuments arbeitet Walter nicht nur dessen positive Würdigung von Kultur prägnant heraus, sondern setzt zugleich Inkarnation und Inkulturation auf überzeugende Weise in Relation zueinander, ohne kritische kreuzestheologische Implikationen abzublenden. Impetus und Intention von Gaudium et spes kann er vor diesem Hintergrund bestimmen als Aufforderung zu »kritischer Zeitgenossenschaft« (A. Kreutzer) – ein Urteil, das E. Schockenhoff in seinem Beitrag teilt (289–316). (Kritische) Zeitgenossenschaft im Sinne der Autoren übersteigt dabei dezidiert historisch-kalendarische Gleichzeitigkeit; vielmehr akzentuiert der Begriff »gemeinsame Teilhaberschaft« (295), eine »wachsame Solidarität, die sich den Herausforderungen der eigenen Zeit stellt, ohne sich distanzlos an diese zu verlieren« (291), beispielsweise, so Schockenhoff, in der gegenwärtig virulenten Auseinandersetzung mit der »Verwissenschaftlichung der Welt« (304–315). Distanz und Hingabe, Sich-Einlassen und Kritik markieren dementsprechend die konstitutiven Pole, zwischen denen christliche Existenz im Sinne kritischer Zeitgenossenschaft oszilliert. – Nicht von ungefähr rahmen die Beiträge von Walter und Schockenhoff also den Band, geben sie doch mit ihrem Interpretament ein ebenso produktives wie plausibles Kriterium an die Hand, an dem die anderen Vorträge sich messen lassen können.
Im Blick auf den Beitrag von G. Bier über »Kirchliche Rechtskultur« (203–228) etwa darf man diesbezüglich eine gewisse Unpässlichkeit notieren. Zwar mag es sein, dass Behauptungen wie »Die Wahrnehmung individueller Rechte hat im Konfliktfall hinter den Belangen der kirchlichen Gemeinschaft zurückzustehen« (211), »Die Idee eines Katalogs von Grundrechten, die das Individuum vor unrechtmäßigen Übergriffen der Obrigkeit schützen, ist dem kirchlichen Gesetzgeber fremd« (ebd.) oder » Wahre Gleichheit lässt Raum für eine Ungleichbehandlung von Männern und Frauen in und vor dem Gesetz« (208) das protestantische Pathos der Rezensentin in besonderer Weise provozieren, doch auch ein analytischer Blick zeigt die Biers Ausführungen inhärente Statik: Sie sistiert die beschriebene Dynamik kritischer Zeitgenossenschaft (vgl. z. B. 218) und markiert im Verhältnis zu weltlichem Recht »maßgeblich« (217) Differenz. Anders verhält es sich hingegen mit H. Irsiglers exegetischem Beitrag (39–70), dessen Titel »›Meine Wonne ist es, bei den Menschen zu sein‹ (Spr 8,31)« Programm ist. Mit der alttestamentlichen Weisheit tritt hier ein komplexer biblischer Traditionsstrom ins Zentrum der Betrachtung, dessen tiefe Verankerung in der Kultur der altorientalischen Völker evident ist. Vor diesem Hintergrund leuchtet Irsiglers Bestimmung der Weisheit als »kultureller Kompetenz« (39) ebenso ein wie ihre Deutung als »Fenster zur Welt« (41), welche er selbst durch eine klare Darstellung biblischer Belege fundiert. Die von ihm für das nachexilische Zeitalter aufgezeigte doppelte Bewegung einer Theologisierung biblischer Weisheit einerseits und einer Sapientialisierung der Glaubenstraditionen Israels andererseits (45 f.) unterstreicht zu­dem, dass nicht kritiklose Adaption, sondern theologisch wohlüberlegte Transformation in diesem historischen Exempel zutage tritt – weisheitliche Selbst-Kritik biblisch-christlichen Glaubens inklusive (62).
Indem »Kultur« eingangs als stets provisorisch und in unablässiger Bewegung begriffen eingeführt wurde, ist zugleich die Unabschließbarkeit theologischer Reflexion des Phänomens benannt. So liegt es in der Sache selbst, über die vorliegende Bearbeitung hinauszuweisen. Nichtsdestotrotz – oder gerade angesichts dessen – gilt jedoch: Der Sammelband vermag es, einen hilfreich orientierenden Einblick in das Spektrum katholisch-theologischer Diskussionen des Themas »Glaube und Kultur« zu geben und durch seine Aufforderung zu differenzierter kritischer Zeitgenossenschaft die negativen Konsequenzen bloß distanzierter Gleichzeitigkeit vor Augen zu führen. – Vielleicht erweist er eben damit auch der Evangelischen Theologie einen Dienst.