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Ausgabe:

Februar/1996

Spalte:

188 f

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Brück, Michael von u. Jürgen Werbick [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Traditionsabbruch –­ Ende des Christentums?

Verlag:

Würzburg: 1994, 176 S. 8o. Kart. DM 36,­ . IISBN 3-429-01626-6.

Rezensent:

Christoffer H. Grundmann

Die sieben in diesem Sammelband zusammengestellten Beiträge sind im Lichte der Diskussionen überarbeitete und um Anmerkungen sowie Bibliographien erweiterte Fassungen von Vorträgen anläßlich eines interdisziplinären Kolloquiums im Oktober 1993 in Siegen zur Frage, ob der gegenwärtig wahrzunehmende Traditionsabbruch das Ende des Christentums bedeute.

Mit den sprachlich etwas saloppen, aber in der Sache sehr kompetenten Ausführungen des Dortmunder Philosophen Werner Post zu den "Philosophische(n) Theorien vom Ende des Christentums" (9-26) wird der Diskurs eröffnet. Post setzt sich darin mit der Säkularisierungsthese und der marxistischen These vom Ende des Christentums und aller Religion auseinander, um abschließend aktuelle philosophische Stellungnahmen zur Religion (H. Lübbe/O. Marquard/N. Luhmann/M. Foucault/J. Habermas) kurz zu referieren. Im prävalenten "Krisengefühl" vermutet er "nur das Ende einer längst anachronistisch gewordenen Struktur des Christentums." (25)

Die sehr beeindruckende, tiefgehende Studie des Eichstätter Fundamentaltheologen Ulrich Willers zu Nietzsche (Destruktive Demontage oder Analyse der Wirklichkeit? Friedrich Nietzsches Rede vom finis christianismi, 27-54), die einen wichtigen Beitrag zur Nietzsche-Forschung leistet, macht deutlich, daß der von Nietzsche "voraus-erzählt (e)" Traditionsabbruch (44) dann zum "Aufbruch" in ein neues, ehrliches Fragen nach dem christlichen Proprium werden kann, wenn die Auseinandersetzung mit Nietzsche kritisch und selbstkritisch zugleich geführt wird.

Siegfried Wiedenhofer, katholischer Systematiker aus Frankfurt a.M., thematisiert die Identität des christlichen Glaubens anhand der Frage "Traditionsbrüche ­ Traditionsabbruch?" (55-76). Er zeigt, daß es in der biblisch-christlichen Überlieferung Traditionsbrüche zuhauf gegeben hat, ja, daß diese um der Identitätsfindung und der Kontinuität der Tradition willen geradezu notwendig seien. Unter Bezugnahme auf die transzendentale Geschichts- und Erkenntnistheorie R. Schaefflers versteht er den Glauben als einen Weg, der "alle seine... Traditionsgestalten... weitertradier(t)", weshalb sich "das vielfach zitierte Ende des Christentums wiederum nur als Ende einer bestimmten Traditionsgestalt" erweisen werde. (72 f)

Einen glänzenden gesellschaftswissenschaftlichen Zugang zur Problematik erschließt Karl Gabriel, Soziologe aus Vechta, unter dem Titel ’Christentum zwischen Tradition und Postmoderne’ (77-100): Die Postmoderne versteht er als "reflexive Moderne", die "auf das Interpretament der Säkularisierung weitgehend... verzichte(t)" (78). Sie ist durch religiöse Individualisierung, De-Institutionalisierung und Pluralisierung von Religion und Christentum gekennzeichnet, berge aber auch "religions- und christentumsproduktive Tendenzen" in sich (90). Dazu gehöre die "Entzauberung des Fortschrittsmythus", das Gewahrwerden der globalen "Strukturen der Sünde" und das Scheitern der Fiktion von der "autonomen Subjektivität", die allesamt (prophetische) Alternativen hervorgebracht hätten.

Der Paderborner Praktische Theologe Norbert Mette reflektiert die Kolloquiumsproblematik unter religionspädagogischem Gesichtspunkt (Traditionsbrüche ­ Traditionsabbrüche ­ Tradierungskrise; 101-121). In Aufnahme einer Formulierung von J. B. Metz will er angesichts des unleugbaren Traditionsabbruchs den Religionsunterricht als "Erprobungsfeld der "Zukunftsfähigkeit des Christentums" verstanden wissen (116-119).

Die Beiträge der beiden Hgg. beschließen den Band. Michael v. Brück, Religionswissenschaftler in München, macht deutlich, daß das Phänomen des Traditionsabbruchs keineswegs nur ein europäisches ist, sondern daß es auch im modernen Indien gang und gäbe ist, sich dort allerdings mehr als ’Traditionsumbruch’ bemerkbar macht, was er vornehmlich an den Beispielen von M. Gandhi, B. R. Ambedkar und dem Zwischenfall in der Moschee von Ayodhya im Dezember 1992 veranschaulicht (Zwischen Zentralisierung und Pluralität ­ Traditionsumbrüche in Indien; 122-152). Seine für eine wirklich kritische Auseinandersetzung leider viel zu allgemein gehaltenen Ausführungen summiert er überraschendend in der These: "Tradition ist im Werden, d.h. wesentlich ein Projekt." (151) Die journalistisch-feuilletonistischen Ausführungen über "Das Christentum am Ende? Wovon?" des Münsteraner Fundamentaltheologen Jürgen Werbick (153-173) greifen viele der bereits zuvor erwogenen Gedanken noch einmal auf, ohne wirklich Neues zu sagen.

Ein Namenregister (174 f) ­ warum eigentlich nicht ein Sachregister? ­ und das Autorenverzeichnis (176) sind diesem alles in allem sehr anregenden, stimulierenden Buch angefügt, dessen einzelnen Beiträgen, trotz ihrer so unterschiedlichen Qualität, in der gegenwärtigen Diskussion um die Christentumsproblematik ernsthafte Berücksichtigung geschenkt werden sollte.