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Ausgabe:

September/2011

Spalte:

984-985

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schröder, Ulrike

Titel/Untertitel:

Religion, Kaste und Ritual. Christliche Mission und tamilischer Hinduismus in Südindien im 19. Jahrhundert.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz; Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2009. 221 S. gr.8° = Neue Hallesche Berichte, 8. Kart. EUR 10,80. ISBN 978-3-447-06321-0 (Harrassowitz); 978-3-939922-21-6 (Verlag der Franckeschen Stiftungen).

Rezensent:

Andreas Nehring

Auf ›Sangam.org‹, einer Homepage von Tamilen aus Sri Lanka in den USA, findet man an prominenter Stelle die Aussage, dass der anglikanische Missionar Robert Caldwell (1819–1891) und spätere Bischof Tirunelveli in Südindien als Vater der Dravidischen Bewegung bezeichnet werden muss und dass seine 1856 erschienene »Comparative Grammar of the Dravidian Languages« die theoretischen Grundlagen für eine politische, akademische und kulturelle Bewegung gelegt habe, die das Leben der Tamilen im 20. Jh. geprägt hat. Caldwells Entdeckung der dravidischen Sprachfamilie habe wesentlich dazu beigetragen, gegenüber einer von der Sanskritforschung dominierten Indologie einen ganz anderen Aspekt in die indienbezogenen Forschungen einzutragen. Umso erstaunlicher ist es, dass bisher weder religionswissenschaftliche noch missionswissenschaftliche Forschungen zu diesem prominenten Missionar und Südindienforscher unternommen worden sind. Diesem Desi­derat begegnet die in Heidelberg eingereichte und im Verlag der Franckeschen Stiftungen zu Halle veröffentlichte Dissertation von Ulrike Schröder.
Das große Verdienst dieses Buches ist es, über bisherige, doch eher fragmentarische Biographien von Robert Caldwell hinaus, die einem eher hagiographischen missionsgeschichtlichen Paradigma verpflichtet waren, ein komplexes Bild der Interaktion dieses Missionars und Sprachforschers mit der südindischen Gesellschaft zu zeichnen. S. stellt Caldwells Werdegang und Prägung nicht nur im Kontext der britischen Missionsbewegung zu Beginn des 19. Jh.s ausführlich dar und zeichnet seine Biographie in die kulturellen und sozialen Strukturen der evangelikalen Missionsunternehmungen unter kolonialen Bedingungen ein, sondern sie untersucht in einem zweiten Hauptteil ihrer Arbeit, welche Auswir kungen Caldwells ethnographischen und sprachwissenschaftlichen Arbeiten auf die Selbstkonstituierung südindischer Be­- völkerungsgruppen gehabt haben. Es waren insbesondere die Shanars, eine im Tirunelveli-Distrikt beheimatete Kaste von Palmweinzapfern, unter denen Caldwell gearbeitet hat. Diese Kaste, die in brahmanischen Kategorien an der untersten Stufe der Kastenhierarchie angesiedelt war, hat im Verlauf des 19. und frühen 20. Jh.s einen erstaunlichen sozialen Aufstieg erlebt, sich in Nadars umbenannt und für sich reklamiert, in der Kastenhierarchie auf sehr viel höherer Stufe zu stehen, als ihr traditioneller Weise zugestanden worden war.
Caldwell hat 1849 eine ethnographische Studie über diese Shanars/Nadars verfasst, die in der historiographischen Forschung über Südindien als Auslöser der Emanzipationsbewegung dieser Kaste angesehen wird. Allerdings hat bisher keine ausführliche Analyse der religionswissenschaftlichen Ansätze des Werkes vorgelegen und S. unternimmt es, einerseits die deutlich apologetischen Aspekte dieser missionarischen Ethnographie herauszuarbeiten, indem sie Caldwells Einschätzung der Religion der Shanars als ›Dämonolatrie‹ bzw. Teufelsdienst daraufhin befragt, inwieweit diese einem Bemühen geschuldet ist, die christliche Mission als strategische Notwendigkeit zur Bekehrung der Bevölkerung von Tirunelveli zu rechtfertigen. Andererseits zeigt sie aber auf, dass Caldwells Anliegen, die religiösen Praktiken und Rituale der Shanars als ein einheitliches religiöses System zu beschreiben im Kontext komparativer Religionstheorien und diskursiver Katego­rien zur Beschreibung von Religion im 19. Jh. gelesen werden muss. Dann lässt sich zeigen, wie durch einen westlichen Beobachter eine einheitliche kulturelle und soziale Gruppe der Shanars überhaupt erst konstruiert wird und wie die Kategorie der ›primitiven Religion‹ dazu dient, die Religiosität der unteren sozialen Schichten (162) von einem brahmanischen Hinduismus abzutrennen. Zugleich zeigt S. auf, dass diese Kategorisierung ›primitiver Religion‹ auch dazu beitragen konnte, Religionsvergleiche auf globaler Ebene anzustellen, indem nun die Religion der Shanars in Relation zu anderen als primitiv eingestuften Religionsformen z. B in Westafrika gesetzt worden ist. Sehr eindrücklich wird auch die Reaktion der einheimischen Bevölkerung im Tirunelveli-Distrikt auf Caldwells ethnographische Bemühungen dargestellt und analysiert.
Es ist besonders hervorzuheben, dass S. über traditionelle Un­tersuchungen von westlicher Repräsentation indischer Religion und Kultur insofern hinausgeht, als es ihr gelingt, den interkulturellen Diskurs von verschiedenen Seiten zu beleuchten. So ist es m. E. der wichtigste Beitrag dieser Arbeit, den Reaktionen von verschiedenen Gruppen und Personen aus den Shanars auf Caldwells Repräsentation ihrer Kultur eine prominente Stelle in der Analyse interkultureller Austauschprozesse einzuräumen. Dass gerade un­ter den christlichen Konvertiten auch Widerstand gegen Caldwell und seine Repräsentation der Religion der Shanars als Teufelsdienst aufkam, hat zum Entstehen ganz eigenständiger Christlicher Kirchen wie der ›Hindu Christian Church‹ geführt, die sich dezidiert gegen das europäische Missionschristentum abgesetzt haben. Als Teil der Dravidischen Bewegung müssten sie noch genauer in zukünftigen Forschungsprojekten untersucht werden.
S.s Buch ist aber ein wichtiger Beitrag dazu, die globalen Netz­werke des Christlichen und die Interdependenzen von euro­- päischen Missionaren und einheimischen Christen deutlicher sehen zu lernen, als das im Rahmen der traditionellen Missionsgeschichtsschreibung möglich war.