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Ausgabe:

September/2011

Spalte:

982-984

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Olsthoorn, Thea

Titel/Untertitel:

Die Erkundungsreisen der Herrnhuter Missionare nach Labrador (1752–1770). Kommunikation mit Menschen einer nicht-schriftlichen Kultur.

Verlag:

Hildesheim-Zürich-New York: Olms 2010. 358 S. m. Ktn. gr.8° = Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Materialien und Dokumente. Reihe II, 35. Lw. EUR 78,00. ISBN 978-3-487-14319-4.

Rezensent:

Daniel Cyranka

Die 2007 an der Technischen Universität Dresden eingereichte Dissertationsschrift von Thea Olsthoorn wurde durch die Kanada-Reisen der Vfn. angeregt. Es handelt sich um eine Arbeit im Fach Erziehungswissenschaften, die aufgrund der Sprachkenntnisse der Vfn. begonnen wurde, nachdem ihr bekannt geworden war, dass es im 18. Jh. Herrnhuter Missionare in Labrador gegeben hat, die deutschsprachige Tagebücher hinterlassen haben.
Die Arbeit entstand auf Grundlage dieser im Archiv der Herrnhuter Brüder-Unität befindlichen Unterlagen. Neben zwei Lebensläufen und einigen kleineren Manuskripten sind es vor allem Reisetagebücher bzw. Diarien oder Journale von Johannes Christian Erhardt, Jens Haven, John Hill und seinem Bruder, von Steffen Jensen, Christian Drachardt und Andreas Schloezer, die von der Vfn. vier verschiedenen Sachkapiteln zugrunde gelegt wurden.
Zunächst (Kapitel 1) wird das »kommunikative Feld« beschrieben, das zwischen »Eskimos« (Inuit), dänischen und deutschen Herrnhutern, Engländern und Franzosen um den Siebenjährigen Krieg herum bestand. In diese Situierung hinein werden die Erkundungsreisen von 1752, 1764, 1765 und 1770 datiert. Mit der Gründung der ersten Missionsstation 1771 ist das Ende dieser Erkundungsphase erreicht.
Die Einleitung vermittelt wenige Fakten zur »historische[n] Sachlage« (18 f.), es folgt ein Überblick über die Erkundungsreisen, die in der Sprache der Quellen durchgängig als »Rekognoszierungsreisen« bezeichnet werden. Kapitel 2 widmet sich den Inuit unter der offenbar aus den Quellen gezogenen Überschrift »äußere Erscheinung, Charakter, Religion«. Kapitel 3 gibt einen Überblick über die betreffenden Herrnhuter Missionare und ihre Aktivitäten unter dem Stichwort »Die Herrnhuter Brüder und ihre Pädagogik einer Kommunikation auf nicht-schriftlichem Wege: Misstrauen abbauen, Vertrauen gewinnen« (170). Kapitel 4 beinhaltet »Theoretische Grundlagen für eine Analyse der Kommunikation«. Neben Überlegungen zu Paul Watzlawik und anderen läuft dieses letzte Kapitel auf verschlungenen Wegen (u. a. Watzlawik – Schulz von Thun – Herder) auf Zinzendorf zu, um schließlich mit einem Ausblick auf Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft (1781) zu enden.
Ein Schlusskapitel findet sich ebensowenig wie einleitende Fragestellungen. Das Grund-Thema des Buches lässt sich auch aus seiner inneren Struktur nicht erschließen. Der Titel »Kommunikation mit Menschen einer nicht-schriftlichen Kultur« verweist in einen Zusammenhang, der vor allem in den Kapiteln 2.4 (161–169) sowie 3.2.4 und 3.2.5 (238–258) dargestellt wird, in denen es um die Sprache und Mythen der Inuit, um Predigten und Unterweisungen Christian Drachardts sowie um dessen Sprachforschung geht. Doch auch hier findet sich weder Leitfrage noch Ergebnissicherung.
Deutlich ist, dass die Vfn. mit der Sprache und Schrift des 18. Jh.s nicht allzu vertraut ist. So werden etwa übliche Schreibweisen markiert (z. B. 25: »Händel [sic]« für Handel) oder gängige Begriffe erläutert (z. B. 27: »Botmäßigkeit, d. h. Herrschaft«).
Aus historiographischer Perspektive bleiben viele Fragen. Warum wird etwa auf den Seiten 283 f. in »Die Zeit der Aufklärung« eingeführt? Welchen Erkenntnisgewinn bringt es für die infrage stehenden Erkundungsreisen von 1752 bis 1770, wenn festgestellt wird: »Zu derselben Zeit (1770), als Drachardt und Jens Haven jenseits des Atlantiks mit den Inuit sprechen und die Gründung der ersten Missionsstation (Nain) vorbereiten, begegnen sich in Straßburg im Gasthaus ›Zum Geist‹ Herder und Goethe« (284). Zwischen einem Abschnitt über Sprachtheorie (Paul Watzlawick, Friedemann Schulz von Thun, 271–282) und Erläuterungen über die »Kom­munikation des christlichen Glaubens« nach dem 1960 er­schienenen Buch des US-amerikanischen Linguisten und Theoretikers der Bibelübersetzung Eugene Albert Nida (*1914) wird über Herders Abhandlung über den Ursprung der menschlichen Sprache informiert. Die zeitliche Koinzidenz zwischen den genannten Ereignissen in Labrador und Straßburg taugt kaum als historische Brücke zwischen den Situationen. Entscheidend wären hier doch nicht die großen Namen, sondern vielmehr die Kontexte der Missionare selbst, die im fraglichen Zeitraum in Labrador wohl kaum mit der Preisfrage der Berliner Akademie von 1770 konfrontiert gewesen waren.
Das im Hintergrund dieser Dissertationsschrift stehende Material ist sicher sehr lohnend und wäre für die Forschung in einer kritischen Ausgabe zugänglich zu machen, um für Analysen zur Verfügung zu stehen. Aus einer fachgeschichtlichen Perspektive der Pädagogik, wie sie hier vorliegt, ist die so aufgearbeitete Frage der Kommunikation möglicherweise von Interesse. Sie gibt auch einen Leitbegriff des Buches her. Der Stoff ist allerdings historisch einzuordnen, und in dieser Hinsicht gibt es durchaus einige problematische Passagen. Dafür ein Beispiel: »Während sich Deutschland im 18. Jh. nur allmählich von den Folgen des Dreißigjährigen Krieges erholt und weiterhin zerrissen bleibt, erkämpft sich Preußen unter dem Fürsten Friedrich II. (Regierungszeit 1740–1786) im Siebenjährigen Krieg einen gleichwertigen Platz neben Österreich. Friedrich der Große weiß durch seine Persönlichkeit in ganz Deutschland das Gefühl eines nationalen Selbstbewusstseins zu wecken.« (283)
Das Sachregister enthält 40 Namen von Personen, darunter Ak­teure aus dem Untersuchungszeitraum wie auch Autoren von Blaise Pascal, David Hume und Pierre Bayle über Immanuel Kant und Johann Gottfried Herder (der oben zitierte Johann Wolfgang von Goethe wird im Register nicht erwähnt) bis zu Claude Le´vi-Strauss und den bereits genannten Paul Watzlawik, Friedemann Schulz von Thun und Eugene Albert Nida.
An Positionen der letztgenannten Autoren werden die porträtierten Missionare als Pädagogen und Kommunikatoren taxonomiert, wie gesagt, ohne ausgewiesenes Ergebnis. Das Buch endet mit einigen Aussagen über Zinzendorf, von deren Wert vielleicht ein willkürlich gewähltes Zitat Aufschluss geben kann: »Zinzendorfs Empirismus hat seine Wurzeln in der Reinkarnationslehre. Das Schauen des Heilands ist bei ihm stark an das neutestamentliche Bild des auf Golgatha gekreuzigten und leidenden Jesus gebunden. Im alten Testament waren Bilder nicht erlaubt, im neuen Testament hingegen hat Jesus einen Körper, genauso wie die Menschen, mit denen er geredet hat, auch nicht aus lauter Geist bestanden …« (301). – Die pädagogikgeschichtlichen Aussagen sowie die pädagogisch-kommunikationstheoretischen Analysen müssen hier aufgrund mangelnder Fachkompetenz des Rezensenten zu­rückstehen.
Informativ sind einige der Anhänge, die Zeittafeln (309–315) und kurze Quellentexte im Zusammenhang bieten (330–337). Das Literaturverzeichnis ist unvollständig; viele im Buch zitierte Titel werden nicht aufgelistet. Gleichwohl verfestigt sich bei der vergleichenden Lektüre der Fußnoten der Eindruck einer eher rhapso­dischen Literaturauswahl. Die im Text wiederholt auftauchenden Aussagen über die »Zeit der Aufklärung« (116 ff.283 f.) entbehren der Forschung zum Thema, wie in der Regel auch zitierfähigen Ausgaben der genannten Autoren des 18. Jh.s.
Die Situierung wie auch die Präsentation der verwendeten Quellen bewegt sich insgesamt auf einem historiographisch indis­kutablen Niveau. Gleichwohl ist dieser Text als Band 35 in den Rahmen der im Olms-Verlag erscheinenden Reihe 2 »Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Leben und Werk in Quellen und Darstellungen« aufgenommen worden.
Eine kritische Edition der hier im Hintergrund stehenden, of­fenbar hochspannenden und aufschlussreichen Quellen mit Kommentar, Register und Glossar wäre sehr wünschenswert. Auf einer solchen Grundlage ließe sich zum Thema Europäer und Inuit/Eskimos im 18. Jh. arbeiten.