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Ausgabe:

September/2011

Spalte:

976-978

Kategorie:

Interkulturelle Theologie, Missionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Grünhagen, Andrea

Titel/Untertitel:

Erweckung und konfessionelle Be­wußtwerdung. Das Beispiel Hermannsburg im 19. Jahrhundert.

Verlag:

Berlin-Münster: LIT 2010. 401 S. 8° = Quellen und Beiträge zur Geschichte der Hermannsburger Mission und des Ev.-luth. Missionswerkes in Niedersachsen, 19. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-643-10600-1.

Rezensent:

Martin H. Jung

Die Marburger theologische Dissertation von Andrea Grünhagen beschäftigt sich mit Hermannsburg im 19. Jh. Das Thema Hermannsburg ist untrennbar mit dem Namen Ludwig/Louis Harms verbunden. G. wendet sich aber nicht nur ihm zu, sondern auch seinem Vater Christian Harms und seinem Bruder Theodor Harms. Zu allen drei Gestalten bietet sie biographische Informationen, schreibt aber keine Biographien, sondern konzentriert sich auf die im Titel des Werkes genannte, theologie- und kirchengeschichtlich wichtige Fragestellung nach dem Zusammenhang von Erweckung und neuem Konfessionalismus.
Vergleichsweise kurz, weil die Quellenlage schlecht ist, fällt der erste, sich Christian Harms (1773–1848) zuwendende Teil der Arbeit aus. Er wird als Prediger, Pädagoge, Seelsorger und Liturg vorgestellt. Außerdem wird die Situation im Kirchspiel Hermannsburg vor, während und nach seinem Wirken geschildert. Und natürlich wird auch der Frage nachgegangen, inwiefern Ludwig Harms von seinem Vater geprägt war.
G. gelangt zu dem Ergebnis, dass Christian Harms nicht der Urheber der erwecklichen Prägung der Gemeinde Hermannsburg ist und dass er auch kein besonderes konfessionelles Profil hatte. Seine Söhne habe er »nicht nachhaltig in ihrem Glauben und ihrer Theologie beeinflußt« (60). Gewirkt habe er auf sie lediglich »durch Erziehung und Vorbild« (60) und, indem er seinem Sohn Ludwig eine geordnete Gemeinde übergeben habe.
1844 begann in Hermannsburg »wirklich etwas Neues« (60), als Ludwig Harms (1808–1865) als Hilfsprediger in Hermannsburg zunächst an die Seite seines Vaters trat und 1849, ein halbes Jahr nach dem Tod seines Vaters, dessen Pfarrstelle übernahm. Ausführlich schildert G. das Leben und Wirken von Ludwig Harms, wobei neben den Themen Erweckung und Konfessionalismus auch Mission und Diakonie behandelt werden sowie das eschatologische Denken und die politische Einstellung von Ludwig Harms. Das Hauptaugenmerk G.s gilt der Frage, wie und warum sich der Übergang oder die Verknüpfung von Erweckungsfrömmigkeit mit einer, wie sie es vorsichtig formulierend schon im Titel des Buches nennt, »konfessionellen Bewusstwerdung« vollzog. Ganz am Schluss ihrer Arbeit zieht sie das »Fazit« (369), dass »die konfessionelle Bewußtwerdung an den Erfahrungen der Erweckung [hing], die eine Vergewisserung verlangten, welche man in der als objektiv empfundenen lutherischen Lehre, besonders hinsichtlich der Sakramente fand« (371).
Neben Ludwig Harms fand sein Bruder Theodor (1819–1885), der von Ludwig Harms als Hausvater und Lehrer an das 1849 gegründete Missionshaus gerufen wurde, bislang nur wenig Beachtung. G. setzt einen zweiten Schwerpunkt, indem sie auch ihn zunächst unter biographischen Aspekten ausführlich vorstellt, seine Stellung in der Erweckungsbewegung beleuchtet und im Detail die Separation des Jahres 1878 darstellt sowie den weiteren Weg der lutherischen Hannoverschen Freikirche bis in die Gegenwart. G. zeigt überzeugend, dass nicht die Einführung der standesamtlichen Eheschließung der Separationsgrund war, sondern die darauf reagierende neue Trauagende der Landeskirche.
Die Arbeit basiert auf Quellen, aber ausschließlich auf gedruck­ten. Archivalien im engeren Sinn wurden nicht einbezogen. G. nimmt durchweg eine Binnenperspektive ein und interpretiert ihre Quellen immanent. Kontexte werden nur selten in den Blick genommen. Semihagiographische Literatur des 19. und 20. Jh.s wird ganz und gar unkritisch referiert (z. B. 293). Das Wirken der drei Männer wird sachlich, aber nicht besonders kritisch untersucht und gewürdigt. Dass G. ihrem Gegenstand mit Sympathie gegenübersteht, ist deutlich und hängt auch damit zusammen, dass sie selbst Pastorin der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) ist.
Durchgängig spielt bei Darstellungen und Bewertungen das Prädikat »lutherisch« eine große Rolle. Ein kritischer, differenzierender Umgang mit diesem Begriff seitens G. wäre wünschenswert gewesen. Ludwig Harms und Theodor Harms sahen sich als Lutheraner – doch viele ihrer Gegner auch. Was also macht einen Lutheraner im Sinne G.s zum Lutheraner? Müsste man nicht noch einmal verschärfter fragen, wo die spezifischen Ursachen dafür liegen, dass gerade diese Personen ausgerechnet dieses Verständnis von Luthertum hatten? Warum eignete sich in dieser spezifischen Situation das Schlagwort lutherisch dafür, zum Kampfbegriff zu werden? Und was sind die sekundären, vielleicht sogar eigentlichen Ursachen dafür, dass es tatsächlich zum Kampfbegriff wurde? Gerade die geringen Zahlen und die geringe Resonanz, die das konfessionalistische Hermannsburger Luthertum aufzuweisen hatte, zwingt zu differenzierenden Fragestellungen, die sich nicht damit begnügen dürfen, einfach von »bewußten Lutheranern« zu sprechen (311). Zu Beginn der 90er Jahre des 19. Jh.s existierten im kleinen Hermannsburg gleichzeitig neben der lutherischen Landeskirche drei lutherische Freikirchen, nämlich die Hermannsburger Freikirche, die Hermannsburg-Hamburger Freikirche und die Hannoversche Freikirche.
Die Arbeit ist ein Beitrag zur Forschung und ermöglicht ein vertieftes Wissen um die drei behandelten Theologen und ihren Wirkungsort Hermannsburg, sie bereichert auch das Wissen um die Geschichte der Landeskirche. Eingestreut sind interessante Ex­- kurse z. B. über die Verwendung des Plattdeutschen in der Hermannsburger Erweckung (131–135) sowie über verschiedene Typen kirchlicher Verfassungen in lutherischen Freikirchen des 19. Jh.s (355–359). Grundsätzlich neue Perspektiven oder Impulse zum Ver­ständnis des 19. Jh.s werden jedoch nicht gegeben.
Das Buch ist sorgfältig gestaltet und gut lesbar. Verschiedentlich wechselt jedoch unvermittelt und vermutlich unbeabsichtigt die Schriftgröße (z. B. 19). Außerdem erlaubt sich G. eine Freiheit in der Kommasetzung, die über die durch die neue Rechtschreibung eingeräumten Möglichkeiten hinausgeht, während gleichzeitig in anderen Bereichen (z. B. scharfes »s«) an den alten Prinzipien festgehalten wird. Ein Brief von Christian Harms wird im Anhang ohne Angabe des Fundortes (nachgewiesen aber 24, Anm. 46) abgedruckt (383). Erfreulich ist, dass das Buch mit einem Personenregister ausgestattet wurde. Es offenbart aber auch durch seine Uneinheitlichkeit und Lückenhaftigkeit bei der Anführung der Namen, dass über die im Kontext der Darstellung relevanten historischen Personen nur mangelhaft recherchiert wurde. Über die geographischen Verhältnisse in der Region kann man sich anhand einer schönen Karte informieren (382).