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Ausgabe:

September/2011

Spalte:

973-976

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Voigt, Karl Heinz

Titel/Untertitel:

Theodor Christlieb (1833–1889). Die Methodisten, die Gemeinschaftsbewegung und die Evangelische Allianz.

Verlag:

Göttingen: Edition Ruprecht 2008. XII, 319 S. m. 8 Abb. 8°. Geb. EUR 36,90. ISBN 978-3-7675-3058-4.

Rezensent:

Peter Zimmerling

Karl Heinz Voigt ist pensionierter Pastor der Evangelisch-methodistischen Kirche. In seinem Buch untersucht er die Rolle der Freikirchen, speziell des Methodismus, bei der Entstehung der deutschen Gemeinschaftsbewegung im letzten Viertel des 19. Jh.s. Zu Recht weist Jörg Ohlemacher als ausgewiesener Kenner der Gemeinschaftsbewegung darauf hin, dass dieser Blickwinkel bei der Erforschung der Wurzeln der Gemeinschaftsbewegung in der Vergangenheit nicht ausreichend berücksichtigt, zum Teil sogar vollständig übersehen wurde. Der Bonner Praktische Theologe Theodor Christlieb hat als entscheidender Impulsgeber bei der Organisation der Gemeinschaftsbewegung im Gnadauer Verband zu gelten. Als äußerst talentierter Organisator war er auch der »Gründervater« des heute noch bestehenden Johanneums in Wuppertal, das einen Teil der im Gnadauer Verband tätigen Prediger ausbildet. Eine Studie über die Anfänge der Gemeinschaftsbewegung in Deutschland kann an Theodor Christlieb nicht vorbeigehen. Von daher leuchtet es ein, dass das Buch den Namen Theodor Christlieb im Haupttitel führt.
V. untersucht das angegebene Thema im Rahmen von insgesamt sieben selbstständigen Studien. Sie sind zum größten Teil bereits an anderer Stelle veröffentlicht worden. In der ersten Studie wird Theodor Christlieb als Frühökumeniker dargestellt. V. arbeitet heraus, dass Christlieb durch Erfahrungen als Sohn des Ludwigsburger Dekans, durch sein Pfarramt an der deutschen Ge­meinde in London und die Teilnahme an drei Weltkonferenzen der Evangelischen Allianz in New York, Basel und Kopenhagen anders als die meisten seiner akademischen Kollegen in ökumenischer Weite dachte. Im durch Staatskirchen geprägten System war es im letzten Viertel des 19. Jh.s alles andere als selbstverständlich, dass ein Fachtheologe die Freikirchen und ihre Theologie als ebenbür­tige Partner betrachtete. V. stellt die These auf, dass Christliebs Kampf um das Amt des Evangelisten im Rahmen der Landeskirchen nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass er einen methodistischen Separatismus verhindern wollte. Indem er die von den Freikirchen, speziell dem Methodismus, praktizierte Massenevangelisation als für die Zukunft der kirchlichen Arbeit unerlässlich entdeckte, suchte er nach Mitteln und Wegen, wie er der Massenevangelisation im Rahmen der Landeskirchen Heimatrecht verschaffen konnte. V. zeigt, dass Christlieb dazu mit dem zu seiner Zeit vorherrschenden homiletischen Paradigma brach, das auf Friedrich Schleiermacher zurückging. Dieser ist der Überzeugung, dass die normale Gemeindepredigt keine Missionspredigt sein dürfe. Er geht vielmehr davon aus, dass es die Aufgabe der Prediger sei, die zum Gottesdienst versammelten Gemeindeglieder bereits als Gläubige anzusprechen. Schleiermacher ist überzeugt, dass da­durch am ehesten Menschen zum christlichen Glauben finden würden. Ganz anders Christlieb. In seinen Homiletikvorlesungen in Bonn fordert er eine Predigt, die gegenüber dem bloß erbaulichen das erweckliche Element in den Vordergrund stellt. Er lehrte seine Studenten, bewusst erwecklich zu predigen.
Dabei lag, so V., die eigentliche Stärke Christliebs weniger in der wissenschaftlichen Praktischen Theologie. Entscheidend waren vielmehr die gemeindepraktischen Anstöße, die von Christlieb ausgingen. Er gründete zunächst eine Evangelistenschule, um Evangelisten für den Dienst innerhalb der Landeskirchen auszubilden. Ursprünglich in Bonn entstanden, arbeitet die Evangelistenausbildungsstätte Christliebs heute als Johanneum in Wuppertal. Als Nächstes kam es zur Gründung des großdeutschen Evangelisationsvereins 1884 in Bonn. Christlieb verfolgte mit diesem Verein das Ziel, die evangelistische Arbeit in Deutschland landeskirchlich zu verankern. Schließlich wurde Christlieb durch die Einladung zur ersten Gnadauer Pfingstkonferenz 1888 zum Organisator einer im Rahmen der Landeskirche verbleibenden deutschen Gemeinschaftsbewegung. Ohne sein Organisationstalent wäre es nicht zur Gründung des »Deutschen Verbandes für Gemeinschaftspflege und Evangelisation« 1897 gekommen. »Die Gestaltung der deutschen Gemeinschaftsbewegung war eine organisatorische und kirchenpolitische Meisterleistung. Christlieb hat im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts den methodistischen Kirchen Wind aus den Segeln genommen und die Evangelisation am Rande der Landeskirchen beheimatet« (82), so das Resümee von V.
Die zweite Studie steht unter der Überschrift »Neuevangelisierung der längst Entkirchlichten« – ein wesentliches Ziel Christliebs von 1888. Die dritte Studie thematisiert »Schlümbach, Christlieb und die Evangelisation in Deutschland. Zur Bildung des deutschen Evangelisationsvereins«. In diesem Beitrag arbeitet V. heraus, wie sich Christliebs Evangelisationsverständnis auf dem Hintergrund seiner Kenntnis der angelsächsischen, vornehmlich der methodistischen Massenevangelisation gebildet hat. Mehr und mehr kam Christlieb zum Verständnis von Evangelisation als Mission an Getauften. Entscheidende Evangelisationspraktiker, denen Christlieb wesentliche Impulse verdankt, waren Charles G. Finney (1792–1875), Dwight L. Moody (1837–1899) und Robert Pearsall Smith (1827–1898). Vor allem der Letztgenannte hat zur Entstehung der Vorläufervereinigungen der Gemeinschaftsbewegung beigetragen. Entscheidend wurde für Christlieb die Begegnung mit dem ersten Generalsekretär des deutschsprachigen US-CVJM Friedrich von Schlümbach (1847–1901). Es war vor allem dessen Evangelisationstätigkeit in Deutschland zu danken, so die These von V., dass es bei den älteren pietistischen Gruppen, den Stillen im Lande mit ihrer Konventikelfrömmigkeit, zu einem Umdenken kam. Aus Konventikeln zur Privaterbauung wurden durch die Massenevangelisationen Schlümbachs zielorientierte missionarische Aktionsgemeinschaften. Im Gefolge der Evangelisationen von Schlümbach entstand der deutsche Evangelisationsverein als landeskirchlich orientiertes Werk. Entscheidend war dabei, dass es sich um einen explizit deutschen Verein zur Evangelisation handelte. Die Na­mensgebung war Programm und sollte zum Ausdruck bringen, dass es sich dabei um einen Verein handelte, der im Rahmen des deutschen Landeskirchentums arbeitete und nicht etwa im größeren Horizont der von den angelsächsischen Ländern nach Deutschland entsandten freikirchlichen, speziell methodistischen Evangelisten.
Die vierte Studie des Buches hat den Titel »Unterwegs nach Gnadau 1888. Zur Organisation des ›Gnadauer Verbands‹«. Im fünften Beitrag »Theodor Christlieb, die methodistischen Kirchen und die Gemeinschaftsbewegung« setzt sich V., wie der Untertitel besagt, mit der Berechtigung der Bezeichnung Neupietismus für den Gnadauer Verband auseinander. Er kommt zu dem Schluss, dass für die Gemeinschaftsbewegung nicht so sehr der ältere Pietismus bzw. die Erweckungsbewegung mit ihren Gruppen der Stillen im Lande entscheidend war, sondern freikirchlich-methodistische Impulse. Von daher gesehen lehnt er die Bezeichnung Neupietismus für Gnadau ab.
Im sechsten Artikel »Theodor Christlieb und die evangelische Allianz. Evangelische Allianz zur Disziplinierung der Außerkirchlichen?« skizziert V. Werden und Wirkung der unterschiedlichen Allianzverbände in Deutschland und Christliebs Rolle dabei. V. hebt hervor, dass die evangelische Allianz ursprünglich als international angelegte ökumenische Bewegung ins Leben getreten sei. Gerade die westdeutsche evangelische Allianz sei jedoch von Christlieb planmäßig »eingedeutscht« worden (245). Sie löste sich deswegen von englischen Einflüssen, auf diese Weise gleichzeitig von sozialethischen Impulsen. Gerade in der westdeutschen evangelischen Allianz sieht V. das Streben, möglichst konfliktfrei die freikirchliche Arbeit, ihre weitere Ausbreitung und ihren öffentlichen Einfluss in Grenzen zu halten (245). Die Eindeutschung der Allianzverbände und der Verlust ihrer sozialethischen Ausrichtung bilden für V. eine Ursache dafür, warum die evangelische Allianz während des Nationalsozialismus weder Anlass noch Mut zum Widerstand fand (246).
Im siebten und letzten Artikel des Buches legt V. eine biographisch orientierte Studie zu Herkunft, Werdegang und ökumenischen Erfahrungen des späteren ersten Direktors des Johanneums vor: »J. Gottlob Pfleiderers Amerikareise 1880 und seine ökumenischen Erfahrungen«. Obwohl Pfleiderer ursprünglich freikirchlich orientiert war und wesentliche Impulse von nordamerikanischen Freikirchen wie den Presbyterianern und Methodisten empfing, hat er sich ähnlich wie Christlieb immer mehr für einen landeskirchlichen Kurs entschieden. V. stellt heraus, dass Pfleiderer ur­sprünglich sehr deutlich die Vorteile des freikirchlichen Systems für die Entstehung eines bewussten und entschiedenen Christseins sah. Wie bei Christlieb kam es auch bei Pfleiderer zu einer Verbindung mit dem Berliner Oberhofprediger Adolf Stoecker (1835–1909) unter Aufnahme von dessen Antisemitismus. Nichts blieb von Pfleiderers ursprünglicher Überzeugung übrig, dass der Sündenfall der Kirche in ihrer staatlichen Fesselung liegt.
Das Buch ist äußerlich sehr ansprechend gestaltet. Namen- und Sachregister erleichtern den Zugang (wobei das Sachregister viele Stichworte enthält, die auf fast jeder Seite des Buches vorkommen, mithin überflüssig sind). Auch die Bibliographie Christliebs ist zur Weiterarbeit am Thema äußerst hilfreich (leider ist ihre Einteilung nicht unmittelbar nachvollziehbar). Das Buch hat jedoch einen großen Nachteil: Dadurch, dass die einzelnen Studien mehr oder weniger unverändert wiederholt zum Druck kommen, kommt es zu langen, ermüdenden Wiederholungen. In den meisten Artikeln sind nur wenige Aspekte wirklich neu. Um die Hälfte gekürzt, würde das Buch prägnant seine Botschaft vermitteln. Allein der erste und der letzte Artikel stellen einen echten Forschungsfortschritt dar. Hier wird anhand der Biographie eines einzelnen Vertreters der werdenden Gemeinschaftsbewegung – zum einen Christlieb, zum anderen Pfleiderer – die Bedeutung des Methodismus und seiner Evangelisationstätigkeit für das Wirken beider nachgezeichnet. An vielen anderen Stellen werden im Buch meist lediglich Forschungsdesiderate benannt.
Nicht überzeugt hat mich die Grundthese des Buches. Ich gebe ohne Weiteres zu, dass früher eine sehr einseitige Sicht der Entstehung der Gemeinschaftsbewegung vorherrschte, die die freikirchlichen methodistischen Impulse mehr oder weniger unterschlug. In V.s Studien lässt sich umgekehrt eine Vernachlässigung der Herkunft der Gemeinschaftsbewegung aus der Erweckungsbewegung und aus dem älteren Pietismus feststellen. Darüber hinaus scheinen mir reformatorische Impulse wesentlich. Luthers Vorrede zur »Deutschen Messe«, in der er den Plan entwirft, solche, die mit Ernst Christen sein wollen, hin und her in den Häusern zu sammeln, spielte schon im älteren Pietismus eine große Rolle. Hier liegt mindestens ein ekklesiologischer Ansatzpunkt auch für den Gnadauer Verband.