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Ausgabe:

September/2011

Spalte:

970-973

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Manukyan, Arthur

Titel/Untertitel:

Konstantinopel und Kairo. Die Herrnhuter Brüdergemeine im Kontakt zum Ökumenischen Patriarchat und zur Koptischen Kirche. Interkonfessionelle und interkulturelle Begegnungen im 18. Jahrhundert.

Verlag:

Würzburg: Ergon 2010. 431 S. m. 1 Kt. gr.8° = Orthodoxie, Orient und Europa, 3. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-89913-783-5.

Rezensent:

Peter Zimmerling

Bei dem Buch handelt es sich um eine geringfügig für die Drucklegung überarbeitete Dissertation, die im Wintersemester 2009/10 von der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen angenommen wurde. Der Verfasser, Arthur Manukyan, stammt aus Armenien, was einen sensiblen Umgang mit den ostkirchlichen bzw. orientalischen Gesprächspartnern der Herrnhuter erwarten lässt. Das Buch arbeitet ein Stück unbekannt gebliebener Herrnhuter Theologie und ökumenischen Engagements auf. Dieses Kapitel Vorgeschichte der modernen ökumenischen Bewegung ereignete sich mehr als 200 Jahre bevor die ersten orthodoxen Kirchen Mitglied im Ökumenischen Rat der Kirchen wurden. Einmal mehr zeigt sich das weit gespannte theologische und kirchliche Interesse Zinzendorfs und der Herrnhuter Brüdergemeine.
Ziel der Dissertation ist, die Begegnungen des Herrnhutertums mit dem ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel (1739/ 1740) und dem koptischen Patriarchat von Alexandrien (1752–1783) zu untersuchen. Bisher fehlte dazu eine Gesamtdarstellung, so dass die Untersuchung eine Forschungslücke schließt. Grundlage der Arbeit bildet die umfangreiche Quellenüberlieferung des Unitätsarchivs in Herrnhut, bestehend aus Briefen, Tagebüchern, Berichten, Lebensläufen und theologischen Traktaten. Auch wenn es von orthodoxer bzw. koptischer Seite keine Originalquellen von den Begegnungen mit den Herrnhutern gibt, bemüht sich M. darum, die Stimmen aus dem Orient als solche wahrzunehmen, die den europäischen Verstehensrahmen überschreiten. Es geht M. darum, »soviel als möglich die ursprüngliche Situation der Begegnung zweier religiöser und kultureller Welten zu rekonstruieren« (24). Dabei ist M. auch an mikrohistorischen Einzelheiten interessiert, was dem Buch einen zusätzlichen Reiz verleiht.
Der erste Teil des Buches widmet sich den Kontakten der Brüderunität zum ökumenischen Patriarchat in Konstantinopel. Im zweiten Teil geht es um die Begegnungen Herrnhuts mit der koptischen Kirche vornehmlich in Kairo. Dabei wird jeweils die Vorgeschichte der Kontaktaufnahme analysiert. Es folgt eine biographische Skizze von Leben und Werk der jeweiligen Hauptakteure. Eine Untersuchung der Reise zum jeweiligen Handlungsort schließt sich an. Dann werden die jeweiligen Verhandlungen vor Ort dargestellt und analysiert. Es folgt die jeweilige Nachgeschichte der Begegnungen. Am Ende steht eine Zusammenfassung und Ergebnissicherung. Im Anhang der beiden Hauptteile wird eine Art Wirkungsgeschichte der jeweiligen Begegnung skizziert. Das Buch wird abgerundet durch einen kurzen Schluss und Ausblick, ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis und eine historische Karte des Osmanischen Reiches.
Zum ersten Teil: Ausgelöst wurde die Kontaktaufnahme Herrnhuts mit dem ökumenischen Patriarchat durch einen gescheiterten Missionsversuch unter »Samojeden« in Russland. Der Besuch in Konstantinopel diente den Vorbereitungen einer Wiederaufnahme des Missionsversuchs. Die Brüdergemeine erhoffte sich vom Patriarchen ein Schreiben, in dem dieser der russischen Orthodoxie die Arbeit der Herrnhuter Sendboten nahe bringen sollte. Verhandlungsführer für die Brüdergemeine in Konstantinopel war der schwedische Pfarrerssohn Arvid Gradin, der sich im Laufe einer längeren religiösen und theologischen Entwicklung den Herrnhutern angeschlossen hatte. Sowohl die Rekonstruktion von dessen Reise über Genua und Livorno nach Konstantinopel als auch der Verhandlungen in Konstantinopel selbst lassen etwas von der Abenteuerlichkeit dieses Unternehmens erkennen. Erstaunlich ist, dass es Gradin mithilfe guter Kontakte nicht zuletzt zum schwedischen Gesandten in Konstantinopel gelang, sein Anliegen beim Ökumenischen Patriarchen vorzutragen. Das Herrnhuter Anliegen wurde sogar auf der heiligen Synode verhandelt mit dem Ergebnis der Erstellung eines Zirkularschreibens durch den Ökumenischen Patriarchen Neophytos VI., das empfehlend auf das Herrnhuter Anliegen einer Missionstätigkeit im Raum der Orthodoxie hinwies. Wichtig für den Dialog mit dem Ökumenischen Patriarchat war die Überzeugung der Brüderunität, mit ihrer Geschichte an die alte mährisch-böhmische Brüderunität anzuknüpfen. Dazu ge­hörte das Bewusstsein vom eigenen Ursprung in der byzantinischen Mission unter den Slawen im 8. und 9. Jh. Konstantinopel bedeutete für die Herrnhuter nach deren Selbstverständnis Rück­kehr zu den eigenen Wurzeln. Dabei spielte das griechisch-orthodoxe Glaubensbekenntnis des Metrophanes Kritopolos eine wesentliche Rolle, das Zinzendorf in Form eines »Enchiridions des griechischen Bekenntnisses« theologisch im Sinn Herrnhuts umgestaltet hatte. Es wurde als Grundlage für das missionarisch ausgerichtete ökumenische Handeln im Rahmen der orthodoxen Kirche verstanden. Zwar gab Gradin das griechische Zirkularschreiben des Patriarchen an diesen zurück. Er reagierte damit auf die darin enthaltene Formel Einheit und Gemeinschaft, wodurch er die Brüderunität als von der Orthodoxie vereinnahmt betrachtete. Erst Zinzendorf erkannte den Wert des Zirkularschreibens, nachdem Gradin bereits nach Europa zu­- rückgekehrt war. M. zieht als Resümee: Die Begegnung zwischen den beiden Konfessionen zerbrach an den starren theologischen Zielvorstellungen, aber auch an den enggesteckten Grenzen dessen, was für das Patriarchat unter der osmanischen Vorherrschaft möglich war. Dabei übersieht er nicht das Exzeptionelle an der Begegnung zwischen Herrnhut und Konstantinopel: »Hier wagte sich eine noch kaum etablierte Gemeinschaft frommer Europäer mit einer politisch und sozial unterdrückten Religionsgemeinschaft des Orients auf das Feld des Dialogs« (193).
Zum zweiten Teil: Nicht weniger spannend ist die Kontaktaufnahme zum koptischen Patriarchen in Kairo. Dahinter standen Äthiopienpläne der Brüdergemeine. Im christlichen Äthiopien erhoffte man sich in Europa schon länger einen Bündnispartner im Kampf gegen den Islam. Zinzendorf war spätestens durch seine Schulzeit unter August Herrmann Francke in Halle und dessen Institutum orientale mit entsprechenden Überlegungen in Kontakt gekommen. Der Herrnhuter Gesandte Friedrich Wilhelm Hocker, ebenso Pfarrerssohn wie Gradin, stammte aus Sachsen-Gotha. Nach Theologiestudium und einer kurzen Zeit als Pfarrer wandte er sich dem Medizinstudium zu. Für seine geistliche Entwicklung entscheidend war die Begegnung mit den Berliner Reden Zinzendorfs von 1738. Im Jahr 1744 wurde er in die Herrnhuter Brüdergemeine aufgenommen und arbeitete zunächst als Arzt und Seelsorger der ledigen Brüder.
Die Begegnung Hockers mit dem Oberhaupt der koptischen Kirche in Kairo sollte die Etablierung einer Herrnhuter Kolonie in Äthiopien vorbereiten helfen. Als Kenner des Orients – Hocker hatte bereits eine Reise nach Persien unternommen und war sehr an den orientalischen Sprachen interessiert – war er prädestiniert, die Verhandlungen der Brüderunität mit dem koptischen Patriarchen Markos VII. zu führen. Zunächst glaubte Markos VII., in den Herrnhutern Katholiken vor sich zu haben. Die römisch-katholische Kirche war die einzig ihm bekannte europäische Form des Christentums. Er fand sich mit Zinzendorf in der beiden gemeinsamen Christusliebe zusammen. Allerdings blieben dem Patriarchen die theologischen Überlegungen und die Bekenntnisgrundlage der Herrnhuter weithin unverständlich. Naturgemäß konnte es zu keiner Klärung der für die koptische Kirche alles entscheidenden Frage nach der einen Natur Jesu Christi kommen. Im Verlaufe der weiteren Begegnungen zwischen Herrnhut und dem koptischen Patriarchat bekam Hocker Unterstützung durch einen weiteren Herrnhuter Abgesandten, Heinrich Friedrich Cossart. Dieser be­suchte nicht nur den armenischen Gottesdienst in Kairo, sondern wurde auch beim griechischen Patriarchen und beim koptischen Patriarchen vorstellig. Erstaunlicherweise wurden zwischen den Patriarchen und Zinzendorf mehrere Briefe ausgetauscht. Am Ende brach Hocker nach Äthiopien auf, musste aber aufgrund eines Schiffbruchs vorzeitig nach Kairo zu­rückkehren. Auch nach der Rückkehr Hockers nach Europa wurde die Arbeit der Herrnhuter in Ägypten noch bis 1783, also 23 Jahre nach Zinzendorfs Tod, fortgesetzt. M. bezeichnet den Austausch zwischen Herrnhut und dem koptischen Patriarchat mit Recht als die erste theologische Begegnung zwischen Kopten und Protestanten (355). Auch an dieser Stelle erweisen sich die Herrnhuter als Vorläufer der ökumenischen Bewegung.
Das Buch erlaubt einen Einblick in die Dynamik und Überzeugungskraft des frühen Herrnhutertums. Offensichtlich haben die Herrnhuter Boten sowohl den Ökumenischen Patriarchen in Konstantinopel als auch den koptischen Patriarchen in Kairo beeindruckt. Sie müssen etwas von deren innerem Feuer gespürt haben. Sonst hätten sie sich angesichts schwierigster politischer Umstände nie auf einen Dialog eingelassen, der jeweils zu schriftlichen Dokumenten führte. Dies alles lässt das Buch leider meist nur zwischen den Zeilen erahnen. Häufig wird eine Hermeneutik des Verdachts gegenüber Zinzendorf und der Brüdergemeine angewandt.
Zum Beispiel schreibt M., dass Zinzendorf vorgebe, bereits in den 1720er Jahren an die Kirche von Alexandrien gedacht zu haben. Angesichts der Schulausbildung des Grafen in Halle ist dies ein durchaus glaubwürdiger Hinweis. Auch wenn M. feststellt, dass die Herrnhuter keine Proselyten machen wollten, wurde ich bei der Lektüre den Eindruck nicht los, dass M. nicht wirklich verstanden hat, worum des den Herrnhutern ging: Sie wollten die Mitglieder der unterschiedlichen Konfessionen zu einem christozentrischen Glauben erwe­-cken als Voraussetzung für Schritte auf dem Weg zur Einheit der Kinder Gottes. Dieser Christusglaube war noch im 20. Jh. stark genug, als Grundlage für den Zusammenschluss der Kirchen im Genfer Ökumenischen Rat zu dienen. Genauso wenig wird angemessen gewürdigt, welche Strapazen die Herrnhuter Sendboten um ihres Glaubens willen auf sich nahmen. Gradin und Hocker waren durch die Herrnhuter Frömmigkeit von Glaubens- und Lebenszweifeln befreit worden. Letztlich war es diese Befreiungserfahrung, die sie anderen Menschen, auch aus anderen Konfessionen, vermitteln wollten, die sie die Risiken ihrer Missionstätigkeit auf sich nehmen ließen. Ein Letztes: M. hat sich Hans Schneiders Meinung angeschlossen, dass sich Zinzendorfs Ekklesiologie immer mehr in Richtung des Philadelphiertums entwickelt habe (261) – eine Ansicht, die in der Forschung immer wieder vertreten wurde. Allerdings legt Zinzendorfs Verhalten eine ganz andere These nahe: Im Laufe seines Lebens hat er sich immer stärker darum bemüht, die Zugehörigkeit des Herrnhutertums zum landeskirchlich verfassten Protestantismus zu sichern. M. E. ist dies die Ursache dafür, wieso die Brüderunität bis zum heutigen Tag die einzige Freikirche in Deutschland ist, in der eine Doppelmitgliedschaft sowohl in der Landeskirche als auch in der Herrnhuter Brüdergemeine möglich ist.
Trotz der kritischen Punkte ein empfehlenswertes und ein angesichts der meist schwierigen Situation der christlichen Kirchen in islamisch dominierten Ländern äußerst aktuelles Buch.