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Ausgabe:

Februar/1996

Spalte:

186–188

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Oehler, Klaus

Titel/Untertitel:

Sachen und Zeichen. Zur Philosophie des Pragmatismus.

Verlag:

Frankfurt/M.: Klostermann 1995. 269 S. 8o. Lw. DM 68,­. ISBN 3-465-02685-3.

Rezensent:

Martin Pöttner

Klaus Oehler, emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Hamburg, hat einen Aufsatzband vorgelegt, der 23 Aufsätze aus den Jahren 1968-1994 vereinigt und durch Personen- und Sachregister hilfreich erschlossen wird. Wie "Vorbemerkung" (7 f), "Einleitung: Das Paradigma des Pragmatismus" (9ff) und der programmatische Aufsatz "Der Pragmatismus als Philosophie der Zukunft" (247ff) zeigen, präsentiert der Vf. eine systematische Philosophiekonzeption, deren Wurzeln bis in die Antike zurückverfolgt werden und deren Profil in Zustimmung und Abgrenzung zu anderen Entwürfen der Moderne bis in die Gegenwart geschärft wird.

So setzt er sich z.B. mit Ansätzen der Relationenlogik und der Semiotik bei Aristoteles (123 ff), der antiken Semiotik insgesamt (149 ff), der Semiotik Demokrits (155 ff), der Grammatica speculativa des Thomas v. Erfurt (164 ff), der Zeichentheorie J. G. Fichtes (172ff), E. Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (217 ff) und G. Günthers "Metaphysik der Kybernetik" (220ff) auseinander. Scharfe Abgrenzungen erfolgen gegenüber den transzendentalpragmatischen bzw. universalpragmatischen Konzeptionen von K. O. Apel (181 ff u.ö.) und J. Habermas (102 ff; 204 ff; 211ff u.ö.). Auch J. Derridas dekonstruktive Philosophie erfährt eine Absage (232 ff). Positive Bezüge ergeben sich zur Lebensphilosophie, zu E. Husserls Konzeption der "Lebenswelt" und insbesondere zu M. Heideggers Daseinshermeneutik (z.B. 12; 14; 74 f; 247-249). Nicht zuletzt wegen dieser Parallelen erscheint es dem Vf. schwer verständlich, warum in Deutschland nach verheißungsvollen Anfängen zu Beginn des Jh.s (49 ff) lange keine nennenswerte Rezeption des nordamerikanischen Pragmatismus erfolgt ist. Der Vf. schreibt dies antiamerikanischen bildungsbürgerlichen Vorurteilen zu, als deren Exponenten er u.a. Scheler und M. Horkheimer namhaft macht (53 f u.ö.).

Das systematische Hauptgewicht tragen Aufsätze zur Philosophie Ch. S. Peirce’, dessen Auffassung von "Pragmatismus" für den Vf. maßgebend ist (14 ff; 58 ff). Der Vf. betont, daß Peirce’ Konzeption von "Pragmatismus" (etwa im Unterschied zu der von W. James [34ff]) nur verstanden werden kann, wenn sie im Horizont seiner Zeichentheorie interpretiert wird (80). Diese wird verständlich dargelegt (77 ff; 94 ff) und im Horizont von Peirce’ Relationenlogik und phänomenologischer Kategorienlehre begriffen. Letzterer widmet der Vf. Spezialstudien (115 ff; 134 ff; 143 ff). Mit Recht hebt der Vf. den epochalen Charakter von Peirce’ Semiotik hervor (86). Das ist deshalb der Fall, weil Peirce’ den Bezeichnungsprozeß nicht mehr durch den Dual "Zeichen"/"Bezeichnetes" interpretiert, sondern behauptet, daß alles, was es überhaupt gibt, als Relat der triadischen ("dreistelligen") Bezeichnungsrelation von "Zeichen", "Objekt" und "Interpretant" begriffen werden muß. Als "Zeichen" kommt alles im Kosmos in Betracht, was auf etwas ("Objekt") in bezug auf ein interpretierendes Zeichen ("Interpretant") verweist. Als interpretierende Instanzen werden nicht nur "Subjekte", sondern z.B. auch Tiere und Pflanzen ausgezeichnet. Die natürliche, soziale und personale Realität kommt daher umfassend als Zeichenprozeß in den Blick. Peirce’ Relationenlogik versucht nachzuweisen, daß es triadische Relationen gibt, die nicht in dyadische ("zweistellige") Relationen dekomponiert werden können. Eine derartige triadische Relation ist auch Bezeichnungsrelation. Läßt sich die triadische Bezeichnungsrelation nicht in dyadische Relationen auflösen, kann die durch sie charakterisierte Realität einheitlich als Zeichenprozeß aufgefaßt werden.

Treffen diese Unterstellungen zu, dann hat dies beachtliche Konsequenzen für philosophische und einzelwissenschaftliche Reflexion, aber darüber hinaus für alles menschliche Erleben und Handeln. Zum einen muß die Semiotik als Fundamentaldisziplin betrachtet werden, denn alle kosmischen Ereignisse sind als Zeichenprozesse aufzufassen. Weder die Transzendentalphilosophien noch die Sprachphilosophien verweisen auf ein Letztes, weil Bewußtsein und Sprache spezifische Zeichenprozesse darstellen, die nicht das Muster aller Zeichenprozesse abgeben können. Somit kommen Natur und Mensch in ihrer gesamten Komplexität in den Blick, wie denn der Vf. in "menschengerechter und naturbewußter Bewährung des Handelns" (7) einen wesentlichen Aspekt des semiotisch reflektierten Pragmatismus sieht. Zum anderen vermag die Reflexion von Zeichenprozessen deren wesentliche Unabschließbarkeit in der Zeit zu verdeutlichen. Wenn ein "Zeichen" ein "Objekt" nur in bezug auf ein weiteres Zeichen ("Interpretant") zu bezeichnen vermag, ergibt sich eine unabschließbare Folge, sobald der Gedanke einer vollständigen Darstellung in den Blick gerät.

Der Vf. betont daher den "eschatologischen" Charakter der im semiotischen Pragmatismus implizierten "Ontologie" (17 u.ö.). Von "Ontologie" kann schließlich die Rede sein, weil die "unbegrenzte" bzw. "unendliche Semiose" kein Fall der beliebigen dekonstruktiven Drift ist (232 ff). Die Kontinuität aller Zeichenprozesse im Kosmos, deren Teil auch die menschliche Semiose ist, verbürgt die begründete Hoffnung, daß unsere Zeichenprozesse vom bezeichneten "Objekt" bestimmt sind. Wir können in der Zeit zwar nichts abschließend darstellen, wohl aber begegnen wir der "Widerständigkeit der Wirklichkeit" (7). Peirce’ Pragmatismus war als Methode konzipiert worden, um die Bedeutung von wissenschaftlich verwendeten Begriffen durch ihren Bezug auf mögliche Erfahrung und insofern immer auch auf mögliches Handeln zu kontrollieren. Der Vf. dehnt diesen Ansatz auf jede Lebenskonzeption aus. Für individuelle und gemeinschaftliche Lebensorientierungen gilt, daß sie sich der Bewährung an möglicher Erfahrung aussetzen müssen. Dann zeigt sich in the long run, ob ein bestimmtes Selbstverständnis realitätsgerecht ist oder nicht.

Der Vf. schöpft aus dieser Annahme große Hoffnungen für die gegenwärtige Situation. Wie sich an Nationalsozialismus und Kommunismus gezeigt habe, ließen sich Ideologien in der Geschichte falsifizieren (253 f). So sei nach 1989 auch in Deutschland die Zeit des Pragmatismus gekommen, dessen dynamischer, prozessualer und fallibler Charakter der demokratischen Freiheit von Individuen verwandt sei und diese befördere.

"Sachen und Zeichen" ist eine breite Leserschaft zu wünschen. Die der einseitigen Privilegierung verbaler Kommunikation nicht unverdächtige protestantische Theologie könnte sich an die klassischen Konzeptionen von Paulus, M. Luther und F. Schleiermacher erinnern lassen, in denen ein allgemeiner Zeichenbegriff vorherrscht.

In einem Punkt möchte ich dem Vf. nachdrücklich widersprechen. Obgleich er die sozialen und ökologischen Gefahren der Gegenwart nicht verkennt, setzt er auf die Therapie dieser Schäden durch das, was sie erzeugt hat: nämlich auf durch Technik verstärkte Ökonomie. Es scheint, als sei dieser Weg der demokratischen Freiheit von Individuen angemessen. Freilich hat schon Peirce darauf hingewiesen, daß der bürgerliche pursuit of happiness mit der selbstzerstörerischen Dynamik des Kapitalismus lebt. Dabei geht es nicht nur um die Kritik an "wirtschaftsliberalistischen Auswüchse(n) seiner Zeit" (215), sondern um die scharfe Markierung eines Paradoxes der bürgerlichen Gesellschaft. Anders als der Linkshegelianer K. Marx setzte Peirce demgegenüber aber nicht auf staatlichen Zwang.

Wie der Vf. weiß (27 f), hat Peirce im Anschluß an das johanneische Sprechen und die "Bergpredigt" eine Konzeption der Agape entwickelt, die Gott als Liebe zu verstehen gibt. Mit Mt 6,25 ff begreift er den Weltprozeß als Ausdruck der creatio continua im Sinne der schöpferischen Liebe. Peirce stand vor Augen, daß dieser Prozeß scheitern kann, weil er Freiheit impliziert und an die selbstkritische Wahrnehmung des Anderen als Mitgeschöpf appelliert. Diese Lebensorientierung läßt sich m.E. theologisch schärfer fassen, wenn betont wird, daß das Licht der schöpferischen Liebe auf dem entstellten Angesicht des Gekreuzigten erstrahlt (2Kor 4,6). In diesem Sinne würde ich Peirce folgen, während der Vf. eher K. Popper vertraut. Mit dem Vf. bin ich darin einig, daß sich derartige Auffassungen an der geschichtlichen Erfahrung zu bewähren haben.