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Ausgabe:

September/2011

Spalte:

962-964

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Gennerich, Carsten

Titel/Untertitel:

Empirische Dogmatik des Jugendalters. Werte und Einstellungen Heranwachsender als Bezugsgrößen für religionsdidaktische Reflexionen.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2010. 495 S. m. Abb. gr.8° = Praktische Theologie heute, 108. Kart. EUR 44,80. ISBN 978-3-17-021309-8.

Rezensent:

Andreas Kubik

»Schülerorientierung« ist ein Begriff, auf den sich zwar alle einigen können, dessen religionsdidaktische Implikationen häufig aber unklar sind. Stets droht die Gefahr, dass die religiösen Vorlieben der Lehrkräfte den Unterrichtsprozess auf undurchschaute Weise steuern. Genau an dieser Stelle setzt die Bielefelder Habilitationsschrift von Carsten Gennerich ein. Sie setzt sich zum Ziel, »erstmals die Pluralität empirisch ermittelter Lebensdeutungsmuster heutiger Jugendlicher als Gegenüber der theologischen Diskussion« (19) konstruktiv zu würdigen.
Die erste Pointe steckt in der Pluralität: Es geht G. darum, theologische Modelle gerade für solche Schülerinnen und Schüler zu entwickeln, die in ihren Werthaltungen denen stabiler christlicher Milieus entgegenstehen. Das Ziel eines wirklich schülerorientierten Religionsunterrichts kann nach G. nicht sein, diese in ihren Werthaltungen zu korrigieren. Vielmehr müssen Wege gefunden werden, auch ihre Weltsicht »mit Hilfe der systematisch-theologischen Deutungstradition des Christentums zur Sprache« (11) zu bringen. G. plädiert deshalb für den Einbezug unterschiedlichster theologischer Ansätze in den Unterrichtsprozess.
Die zweite Pointe steckt in der Empirie. Echte Schülerorientierung setzt voraus, dass Einstellungen der Schüler nicht bloß nach den Wahrnehmungen der einzelnen Lehrkräfte, sondern empirisch gründlich erhoben werden. Zu diesem Zweck wertet G. die Datensätze von insgesamt elf neueren Jugendstudien aus, um möglichst gesicherte Einschätzungen vorlegen zu können.
Die Herausforderung besteht mithin in der Vermittlung von Religionspädagogik und den sozialwissenschaftlichen Einsichten. Die gehaltreiche Einleitung stellt deren theoretische Grundlagen dar. Schlüssel ist ein hermeneutisches Verständnis von Dogmatik im Anschluss an Schleiermacher: Aufgabe der Dogmatik ist es, Kategorien bereitzustellen, welche eine »verstehende Bezugnahme auf die religiösen Überzeugungen der heutigen Christen und Chris­tinnen« (15) erlauben. Das Buch ist also eine religionspädagogische Glaubenslehre in der Tradition von W. Lohff, J. Werbick und P. Biehl. Eine solche Glaubenslehre aber, will sie wirklich schülerorientiert verfahren, kann sich nicht an althergebrachten Aufbauprinzipien wie etwa der Heilsgeschichte orientieren. G. bezieht sich stattdessen auf »Theorien der Jugendforschung« (22), die zu den klassischen dogmatischen Topoi ins Verhältnis gesetzt werden.
Ist der dogmatische Ansatz der Schlüssel, so die empirische Methodik das Herzstück der Arbeit. Sie muss zum einen die Daten der verschiedenen Studien so aufbereiten, dass sie in einem Schema lesbar werden, zum anderen ein einheitliches Modell von Schülererfahrung entwerfen, in dem sich die Einstellungen der verschiedenen Themenbereiche erfassen lassen. Beides gelingt – auf der Grundlage komplexer statistischer Verfahren – mithilfe des sog. Wertefelds des israelischen Psychologen Shalom H. Schwartz (45–49).
Zentraler empirischer Befund ist, dass der herkömmliche Religionsunterricht im Wesentlichen Jugendlichen mit einer eher traditionell-prosozialen Werteeinstellung entgegenkommt und diese prämiert. Das bedeutet umgekehrt, dass der Religionsunterricht Schwierigkeiten hat, anderen Jugendlichen plausible Deutungsangebote zu machen. Es ist aber nach G. – im Anschluss an einen originell gedeuteten G. Bohne – fatal, wenn sich Religion »als ein eigener Wertebereich definiert …, der mit den anderen Wertebereichen in Harmonie oder Opposition steht.« (64 f.) Denn dann reproduziert er lediglich die Distanz zur institutionalisierten Religion, welche die Jugendlichen ohnehin verspüren.
Daraus erwächst nun die Aufgabe, die Glaubenslehre so zu entfalten, dass sie für alle Werthaltungen Deutungsangebote machen kann. Das funktioniert aber nur, wenn verschiedene dogmatische Traditionen im Unterricht vorkommen. Die Pluralisierung der Dogmatik ist als notwendig erwiesen, sobald die sozialisatorischen Verstehensbedingungen auf Seiten der Schüler in den dogmatischen Prozess selbst einbezogen werden.
Die Darlegung dieser Glaubenslehre selbst macht das eigentliche corpus der Arbeit aus. Sie erfolgt in sieben Kapiteln, die jeweils einen dogmatischen Topos im Lichte von Schülererfahrungen durchdenken: »Sünde und die Frage der Selbstbewertung« (66–129), »Glaube und die Frage des Vertrauens« (130–174), »Rechtfertigung, Stellvertretung und die Frage der Anerkennung« (175–217), »Weisheit, Vorsehung, Gericht und die Frage der Gerechtigkeit« (218–264), »Exodus, Umkehr, Wunder, Auferstehung, Reich Gottes und die Frage der Hoffnung« (265–324), »Schöpfung und die Frage der Ordnung« (325–348) sowie »Nächstenliebe, Positionswechsel, Gemeinschaft und die Frage des christlichen Ethos« (349–386).
All diese Kapitel sind gleich, nämlich dreiteilig aufgebaut, wie hier am Beispiel des Sündenkapitels deutlich gemacht werden soll. Ein erster Abschnitt gibt eine theologische Orientierung, welcher über verschiedene dogmatische Positionen informiert. Die Referate – hier etwa von W. Pannenberg, W. Härle, aber auch W. Künneth und anderen – sind dabei streng an der Frage der Beziehbarkeit auf Schülererfahrung orientiert. Deshalb kommen ganz unterschiedliche Sündenbegriffe in den Blick: legalistische, selbst-zentrierte, strukturelle Sünde usw. Ein zweiter Abschnitt erwägt empirische Perspektiven. Dabei werden die Aussagen der Dogmatiker empirisch ernst genommen und es wird danach gefragt, wo sich in den Jugendstudien Entsprechungen im Wertefeld auftun. Selbstdiskrepanzen, moralische Urteile, Leiden unter Strukturen usw. sind den Schülern gut bekannt. Geht man an diese bloß mit einem einzigen Sündenverständnis heran, so ergibt sich, dass die meisten Erfahrungen für eine religiöse Deutung brach liegen bleiben. Der Sündenbegriff muss daher nach G. »zielgruppenbezogen gedacht werden« (95). Nur dann können heilsame, weil auf Erlösung bezogene Konzepte sinnvoll im Unterrichtsprozess entfaltet werden. Nach entsprechenden didaktischen Perspektiven fragt ein dritter Abschnitt. Grundsätzlich erhofft sich G. zwei Leistungen: zum einen eine expressive in der »Bereitstellung von Sprachvorlagen« (117), welche Erfahrungen überhaupt artikulierbar machen, zum anderen eine hermeneutische: Religionsunterricht will Deutungsmuster be­reitstellen, welche nicht nur aufklärerischen Charakter haben, sondern auch Erfahrungen ›bearbeiten‹ sollen: G. orientiert sich vor allem an experimentellen, narrativen oder performativen Didaktiken (B. Dressler, T. Klie, B. Zilleßen), die Probehandeln erlauben und dadurch imaginative Räume öffnen, in denen die angestrebten ex­pressiven und interpretativen Zuwächse möglich sind (408–413).
Der von G. gestellten Diagnose ist rundheraus zuzustimmen. Die oben erwähnte Vermittlungsleistung scheint mir darüber hinaus in dieser Glaubenslehre in besonderer Weise erbracht zu sein. G.s Einsichten sind nicht alle geradezu neu, aber empirisch wie theologisch exzellent aufgeschlüsselt: Mit diesem Ansatz könnte es tatsächlich gelingen, Schüler dabei zu unterstützen, ihre eigenen Theologen zu sein.
Diese Hoffnung ruht aber auf einer Voraussetzung, die in einer Zeit, wo das Lehramtsstudium immer stärker dahin tendiert, lediglich ›Grundwissen‹ zu servieren, nicht selbstverständlich ist: nämlich auf einem »hinreichenden Überblick der Lehrenden über entsprechende erfahrungsorientierte Interpretationen theologischer Kategorien« (410). Anders gesagt: Die Lehrkräfte benötigen eine plurale dogmatische und dogmatiktheoretische Bildung, die der des sog. Volltheologiestudiums in nichts nachsteht. Dies macht G. mit Nachdruck deutlich.