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Ausgabe:

September/2011

Spalte:

956-958

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Rehm, Johannes, u. Sigrid Reihs [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kirche und unternehmerisches Handeln – neue Perspektiven der Dialogarbeit. M. Beiträgen v. B. Bertelmann, Ph. Büttner, D. H. Enste, M. Huhn, A. B. Kunze, R. Pelikan, Th. Posern, S. Reihs, C. Schäfer, F. Segbers, M. Stahlmann, H. G. Ulrich, W. Wendt-Kleinberg.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2010. 232 S. m. Abb. gr.8°. Kart. EUR 25,00. ISBN 978-3-17-021307-4.

Rezensent:

Wolfgang Nethöfel

Die 2008 erschienene Unternehmerdenkschrift der EKD hat beim Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt (KDA) heftige Diskussionen ausgelöst. Herausgeberin und Herausgeber nahmen die Referate auf der anschließenden Bundesversammlung zum Ausgangspunkt einer Textsammlung, die vor diesem Hintergrund einen Einblick in die dort geleistete Dialogarbeit gewähren soll – die Unternehmerdenkschrift als dialogischer Stresstest
Mustergültig dialogisch war der Einsatz. Mit Claus Schäfer und Dominik H. Enste eröffneten je ein Arbeitnehmer- und ein Arbeitgebervertreter die Denkschrift-Diskussion. Sie setzen unterschiedlich an, aber bemerkenswerterweise konvergieren ihre Stellungnahmen in der Kritik an einem verengten Ansatz. »Unternehmerische Verantwortung« sei »eine Defizitgeschichte«, schreibt Schäfer. Und zwar nicht nur wegen des spätestens in der Finanzkrise offenkundig werdenden faktischen Versagens Einzelner, sondern weil der verantwortungsethische Ansatz dort nicht operationalisiert sei und schon die notwendige Differenzierung unterschiedlicher Unternehmertypen (vom Eigentumsunternehmer bis zum Manager) überspiele. Der durch Deregulierung befreite Unternehmer (hier wieder einheitlich typisiert) habe »seine neoliberale Chance bekommen … und verspielt« (16).
Nach der Finanzkrise fordert auch Enste eine ordnungspolitische Rückbesinnung. Sie solle den »Zusammenhang von Kompetenz und Haftung« sichern (24; vgl. 22, mit Bezug auf Eucken). Wie die vorangegangene Wirtschaftsdenkschrift geht er davon aus, dass in der Sozialen Marktwirtschaft Gemeinwohl und Eigennutz kein Gegensatz sind. Es gehe aber darum, »den ökonomischen Nutzenbegriff … breiter aufzufassen, so dass auch moralische Anreize und nicht monetäre, intrinsische Nutzen und Kosten in das Vorteils- und Nachteilskalkül einbezogen werden« (42). Seine Forderung: »mit Ordnungs-, Unternehmens- und Individualethik Krisen be­wältigen und vermeiden« (19).
Die Fortsetzung inszenieren die Herausgeber konsequent, aber anders dialogisch. Mit Axel Bernd Kunze und Hans G. Ulrich wurden je ein katholischer und ein evangelischer Theologe zu Stellungnahmen eingeladen. Kunze zitiert eingangs die von Thomas Wagner (Sankt Georgen) diagnostizierten Individualisierungs-, liberale Fairness-, Idealisierungs- und Blickwinkelfallen, in welche die Verfasser der Denkschrift sämtlich getappt seien. Er hält sie dennoch »für anschlussfähig an ein beteiligungsfokussiertes Verständnis von Gerechtigkeit, wie es in der katholischen Sozialethik ge­genwärtig breit vertreten wird« (48). Vor dem Hintergrund des Veröffentlichungszusammenhangs (z. B. mit der vorangegangenen Armutsdenkschrift), in dem die Denkschrift steht und aus dem heraus ihre Verantwortungskonzeption verstanden werden muss (54–57), benennt Kunze als »(m)ögliche Ungleichgewichte und Engführungen« das unterbestimmte Verhältnis von unternehmerischem und Unternehmenshandeln, die Relativierung von Mitarbeiterrechten durch die Überbetonung der unternehmerischen Verantwortung, die schon von Schäfer beklagte fehlende Diffe­renzierung unterschiedlicher Unternehmertypen und schließlich den fehlenden Hinweis auf die Begrenzung unternehmerischer durch politische Verantwortung (58–69). – Unklar bleibt freilich, wie dieser Dialog nicht als akademischer, sondern als kirchlicher Dialog geführt werden soll. Die hier als Partner stilisierte, vom klassischen Naturrecht befreite und ganz einem modernen Ge­rechtigkeitskonzept verpflichtete katholische Sozialethik bleibt ein sehr deutsches Unternehmen. Im Gegensatz dazu kann Hans G. Ulrich, langjähriger theologischer Begleiter des KDA-Industriepraktikums, ähnlich wie Enste konsequent institutionalistisch argumentieren und schließlich institutionenethisch plädieren.
Ulrich verweist dabei weniger auf Integrationskonzepte St. Galler Tradition, sondern setzt politischer an. Der als Unternehmer Handelnde wird als Wirtschaftsbürger angesprochen. Die »Ethik der Governance« (Josef Wieland) wird dabei eingefordert von einer Kirche, die nicht irgendwie dem Gemeinwohl verpflichtet ist, sondern kenntlich wird: »Diese Kennzeichen sind: die Nähe zum anderen als eine Form der Gerechtigkeit und das kritische Durchhalten dieser direkt auf den anderen gerichteten Zuwendung, auch in einer gemeinsamen politischen Praxis.« Wobei »der andere, der womöglich herausgefallen ist, Vorrang hat« (79). Erkennbar versucht sich Ulrich an einer theologisch-sozialethischen Begründung der KDA-Dialogpraxis, auf die er sich immer wieder bezieht, etwa auf die Mitwirkung in den Arbeitskreisen »Kirche und Wirtschaft« (81 f.).
Ein anderes Beispiel sind die von Ulrich jahrelang theologisch begleiteten KDA-Arbeitsweltpraktika für Theologiestudierende, in denen dieser Dialog Kirche-Wirtschaft eingeübt wird (Roland Pelikan). Verwandt sind die Dialogtätigkeit des EKHN-Zentrums Gesellschaftliche Verantwortung nach der Finanzkrise, die Hintergrundgespräche und Podiumsdiskussionen umfasste (Brigitte Bertelmann, Thomas Posern) und die ökumenischen, Ge­werkschaften und Verbände einschließenden Bündnisse für den freien Sonntag »jenseits des üblichen Lagerdenkens« (137, Philipp Büttner). Dass institutionalisierte, teilweise verrechtlichte Dialoge in der Unternehmerdenkschrift zu wenig beachtet sind, ist die gemeinsame Überzeugung der Beiträge von Martin Huhn, Martin Stahlmann und Walter Wendt-Kleinberg, die dabei auf die Mitbestimmung und die daran anknüpfende Gemeinsame Sozialarbeit der Konfessionen im Steinkohlebergbau verweisen können.
Die grundsätzlichen Überlegungen in diesen Kontexten werden im Schlussbeitrag der Mitherausgeberin Sigrid Reihs aufgenommen. Sie stellt einem konfrontativen wirtschaftsethischen Ansatz mit exklusivem Dialogverständnis, der die Marktwirtschaft (im kirchlichen Bereich: unter Berufung auf das Evangelium) für unüberwindbar gemeinwohlwidrig hält, einen korrektiven Ansatz mit inklusivem Dialogverständnis gegenüber, in dem (unter Berufung auf christliche Leitbilder) an die unterschiedliche, aber letztlich konvergierende Verantwortlichkeit der Akteure appelliert werden kann. In gewisser Weise integrativ sei die Homann-Position, in der die immanente Ethik der Ökonomie in einem pluralistischen Dialogverständnis die Konvergenz relativerbarer Ethikpositionen ermögliche (227 f.).
Mit Rückblick auf die praktischen KDA-Erfahrungen, die sie induktiv auswertet (223–226), hält sie von allen drei Positionen aus einen Dialog Kirche-Wirtschaft unter zwei Voraussetzungen für möglich: »Zum einen müssen repressionsfreie Dialogbedingungen garantiert sein. Und zum zweiten müssen allgemeine Tugenden des Dialogs gepflegt werden, die vor allem darin bestehen, den anderen wirklich verstehen zu wollen und eine gewisse Bereitschaft zur Kritik bzw. zur Selbstkritik zu haben.« (228) Damit solche Dialoge sich realisieren, müssten allerdings auch die kirchlichen Arbeitsbereiche unterhalb der Ebene gefördert werden, auf der Denkschriften und grundsätzliche Stellungnahmen ausgetauscht werden.
Zuvor hat Franz Segbers, der sicherlich der erstgenannten Position zuzurechnen ist, einen Dialog eingefordert, der Kirche sich nicht entziehen kann, weil sie in der »Unternehmensdiakonie« selbst unternehmerisch handelt. Segbers warnt vor der »einzelbetriebswirtschaftlichen Falle« (191 u. ö.), in die schon die Unternehmerdenkschrift mit ihrem »Paradigma des unternehmerisch handelnden Individuums« getappt ist (192). Er plädiert für eine konsequente Orientierung der Diakonie an ihrer »theologischen Achse« (Jäger), die er justiert an der »universellen und unteilbaren Würde eines jeden Menschen«, an der »Freiheit eines Christenmenschen« und am »Vorrang für die Armen« (203–205) und die in einer zweistufigen Verantwortung konkret werde: in einer »organisationsethischen Verantwortung des diakonischen Unternehmens« und in einer »branchen- und ordnungspolitischen Verantwortung des Diakonie« (194).
Gibt es ein Fazit? Vielleicht wäre der gemeinsame Fokus aller dieser Dialoge leichter zu bestimmen, wären Gegensätze leichter einzuordnen und wäre der Druck gesetzlicher Überforderung der engagierten Dialogpartner weniger spürbar, wenn die Beteiligten sich mit einer theologisch fundierten statt mit einer lediglich funktional begründeten Bestimmung dessen hätten auseinandersetzen können, was unternehmerisches Handeln für alle Christenmenschen bedeutet.