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Ausgabe:

September/2011

Spalte:

950-954

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Körtner, Ulrich H. J.

Titel/Untertitel:

Leib und Leben. Bioethische Erkundungen zur Leiblichkeit des Menschen.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010. 230 S. gr.8° = Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 61. Kart. EUR 60,95. ISBN 978-3-525-62412-8.

Rezensent:

Eberhard Schockenhoff

Bereits der Titel des Buches ist ein Volltreffer. Die Sorge um Leib und Leben bezeichnet eine Grundaufgabe jedes Menschen, die sich aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten lässt: vom biblischen Liebesgebot und der schöpfungsgemäßen Bestimmung des Menschen her, von seiner anthropologischen Bedürftigkeit und seiner konstitutiven Angewiesenheit auf Hilfe her, oder im Blick auf den Heilungsauftrag der Medizin und die Fürsorgetätigkeit der Pflegeberufe. So klingen schon im Titel wie in einem machtvollen Präludium die Grundakkorde der überaus luziden Argumentationsführung des Buches an, in dem der bekannte Wiener protestantische Theologe Ulrich H. J. Körtner die philosophischen und theologischen Grundlagen einer reformatorischen Bioethik erläutert, die anschließend in vielen materialethischen Einzelthemen entfaltet werden.
Der Untertitel beschreibt dabei das leitende Frageinteresse: Der Vf. möchte die Leerstelle ausfüllen, die in der Tradition phänomenologischer Leibphilosophie erstaunlicherweise offenblieb: das Fehlen ethischer Erwägungen in den Werken von Heidegger, Merleau-Ponty und – sofern man Ethik nicht nur als Ablösung der Metaphysik auf der Höhenlage einer ersten Philosophie, sondern als eine Form praktischen Wissens versteht, die zu konkreter Ur­teilsbildung führen soll – selbst von Emmanuel Levinas. Der Vf. greift auf deren Einsichten in die unhintergehbare Leibgebundenheit menschlicher Existenz zurück, um sie für eine kritische, gegenüber den Gefahren eines latenten Dualismus wachsame Bioethik fruchtbar zu machen. Die Grundbestimmung des Menschen als »leiblicher Vernunft« (26 ff.) zielt auf eine Integration moderner Phänomenologie der Leiblichkeit in Kants Vernunftethik und eine universalistische Konzeption von Menschenwürde und Menschenrechten, die theologisch unter dem dreifachen Vorzeichen der Schöpfung, der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus und der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade steht.
Auf der philosophischen Ebene seiner überaus differenzierten Argumentationsführung kritisiert der Vf. einen abstrakten Vernunftbegriff, den er sowohl in Kants Transzendentalphilosophie als auch bei zahlreichen Autoren der modernen philosophy of mind ausmacht, die Person-Sein ausschließlich über mentale Eigenschaften definieren. Ebenso scharf fällt das Urteil über eine unter der Vorherrschaft eines abstrakten Autonomiekonzeptes stehende Bioethik aus, die für die leiblichen Konstitutionsbedingungen von Autonomie, Freiheit und Selbstbestimmung blind bleibt und in der Verfügung über den menschlichen Körper einen Ausdruck von Selbstbestimmung sieht. Doch wahren die sorgfältigen Analysen zum Zusammenhang von Sprache und Leiblichkeit, von Personalität und intersubjektiver Kommunikationsgemeinschaft mit gleicher Wachsamkeit Abstand zu einem entgegengesetzten Ex­trem: Die Emphase der Leiblichkeit dient nicht der Sakralisierung des Natürlichen und Urwüchsigen, die den Handlungsspielraum der Medizin und ihre Befugnis zu Eingriffen in den kranken Organismus in die versehrte Leiblichkeit des Menschen schon auf einer frühen Entwicklungsstufe zunichte machen würde, sondern der Einsicht in das dialektische Selbstverhältnis des Menschen in seinem Leib und gegenüber seinem Leib. Er ist sein Leib und hat zugleich seinen Leib als Körper, in den er zu Heilzwecken eingreifen und über den er zugunsten des Nächsten verfügen darf. Dennoch sind die Organe des Menschen nicht beliebig austauschbare Ersatzteile einer Maschine, zu denen der Mensch in ein Subjekt-Objekt-Verhältnis treten dürfte, indem er sie z. B. am freien Markt als Handelsware zum Zwecke der Gewinnerzielung anbietet. Vielmehr ist die Leiblichkeit die indispensable Vorbedingung aller menschlichen Grundvollzüge; als Person stellt sich der Mensch im Medium seines Leibes dar und tritt in Kommunikation mit den anderen. Deshalb scheut sich der Vf. auch nicht, den zentralen Terminus der Selbstzwecklichkeit nicht nur auf die menschliche Person, sondern auch (mit Dietrich Bonhoeffer) auf ihren Leib zu beziehen (21). Zugleich übt er jedoch Kritik an einer unreflektierten Rede von der Unverfügbarkeit des menschlichen Körpers oder an dem Pauschalvorwurf seiner Instrumentalisierung. Ausdrücklich besteht er darauf, dass es eine moralische Pflicht zur Nutzung des biomedizinischen Wissens gibt, die auch am Lebensanfang und am Lebensende zwangsläufig mit Eingriffen in den menschlichen Körper verbunden ist.
In dezidierter Weise bezieht der Vf. theologische Argumente in seine Analysen ein. Dabei stellt er sich jedoch der hermeneutischen Herausforderung, das christliche Menschenbild und die zentralen Forderungen der christlichen Ethik in die Sprache säkularer Ethiktraditionen und in den öffentlichen Diskurs der säkularen Gesellschaft zu übersetzen. Die Begriffe der Leiblichkeit, des Personseins als relationalem Selbstsein und der Menschenwürde bieten sich für derartige hermeneutische Transferaufgaben in besonderer Weise an, weil sie einerseits in den philosophischen Strömungen der Phänomenologie, des dialogischen Personalismus und der Menschenrechtsethik verankert sind und andererseits originäres Heimatrecht in der biblischen Anthropologie besitzen. In den dargebotenen Analysen greifen die beiden Stränge der philosophischen und theologischen Perspektive ständig ineinander, so dass von einer echten Strukturparallelität zwischen ihnen gesprochen werden kann.
Die dabei leitende theologische Denkform zeigt insofern ein markantes protestantisches Profil, als sich die schöpfungsmäßige Bestimmung des Menschen erst in der Rechtfertigung des Sünders erfüllt. Die Würde des Menschen gründet nicht allein in der schöpferischen Anrede Gottes an ihn, der er in seinem Handeln entsprechen soll, sondern in der zuvorkommenden Gnade Gottes, die dieses zuallererst ermöglicht (42). Ebenso ist Freiheit kein natürliches Vorrecht des Menschen und keine seinem Willen inhärierende Eigenschaft, sondern bedingte, im Glauben zugesprochene und angeeignete Freiheit. Unter Rekurs auf Luthers Lehre vom unfreien Willen beharrt der Vf. darauf, dass die natürliche Ausgangslage des Menschen nicht durch ein vorgegebenes Vermögen der Willensfreiheit bestimmt, sondern durch das Resultat eines Freiheits­verlustes gekennzeichnet ist, der mit Paulus als Folge der Sünde verstanden werden muss. Auf diese Weise führt die rechtfertigungstheologische Weiterführung der Schöpfungslehre zu einer be­sonderen, vom Geist der Liebe geprägten Form der Verantwortungsethik, die sowohl um die Gefährdung menschlichen Handelns durch die Sünde als auch um die befreiende und zum Handeln ermächtigende Wirkung der Gnade Gottes weiß. Dies ermöglicht im Blick auf konkrete Fragen der angewandten Ethik eine differenzierungsfähige Urteilsbildung, die sich in der Debatte um die enhancement-Strategien der modernen Medizin durchaus be­währt: Einerseits wendet sich der Vf. immer wieder gegen eine soteriologische Überhöhung des ärztlichen Heilungsauftrages, wobei das Streben nach einer medizinischen Optimierung der menschlichen Natur als eine Gestalt sündhafter Verzweiflung er­scheint, andererseits ist nicht jede Form des enhancement bereits als illegitime Selbstschädigung einzustufen (vgl. 33 und 37).
Breiten Raum nimmt in der Gedankenführung des Vf.s die Analyse der Geburtlichkeit des Menschen ein, in der er zusammen mit seiner Sterblichkeit die beiden grundlegenden Modalitäten seiner konstitutiven Endlichkeit sieht. Ausdrücklich weist er die Annahme Hannah Arendts zurück, die in der Geburt und nicht schon in der Zeugung des einzelnen Menschen eine bestätigende Wiederholung des Schöpfungsaktes Gottes sieht, mit der Folge, dass ihr analog zum Verständnis der creatio ex nihilo zwar nicht einfach nichts, doch jedenfalls nur ein »Niemand« vorausgeht (63 f.). Dieser auch in der gegenwärtigen Philosophie (Volker Gerhardt) und Theologie (Johannes Fischer) einflussreichen Interpretation des Phänomens der Natalität widerspricht der Vf., indem er die vielschichtigen kommunikativen Bezüge aufzeigt, durch die das im Mutterleib heranwachsende Kind schon vor der Geburt sein Dasein zu erkennen gibt. Nicht selten sprechen die Eltern schon lange vor der Geburt über ihr Kind, indem sie es mit dem Namen nennen, den sie ihm geben wollen. Auch verhalten sie sich untereinander so, als wäre es schon geboren; nach Fehlgeburten verlangen nicht wenige Eltern eine Begräbnisfeier für ihr totes Kind. Vor allem aber entwickelt sich der Hörsinn bereits während der Schwangerschaft, so dass das Kind schon vor der Geburt die Stimme seiner Mutter erkennen kann. Wiederum führen die vorgetragenen phänomenologischen Untersuchungen und die tiefsinnigen Anmerkungen zum Vorrang des Hörens vor dem Sprechen zu einem differenzierten Ergebnis: Zwar geschieht in der Geburt insofern ein »qualitativer Sprung in das In-der-Welt-Sein« (67), als das Kind und die bereits Geborenen nunmehr auch füreinander Personen werden, während das ungeborene Kind nur einseitig für seine Eltern oder andere ein Gegenüber sein kann, zu dem diese sich verantwortlich verhalten können. Andererseits ist zu bezweifeln, dass der Mensch vor der Geburt noch kein Jemand, sondern ein Niemand sein soll, da es keine plausible Annahme darstellt, dass durch die Durchtrennung der Nabelschnur und die Umstellung auf einen autonomen Stoffwechsel plötzlich ein bis zu diesem Zeitpunkt als Nicht-Person zu qualifizierender Niemand zu einer Person wird. Zu beachten ist auch der Umstand, dass die Geburt selbst ihre Natürlichkeit weithin eingebüßt hat und Kinder immer häufiger auch ohne medizinische Notwendigkeit durch Kaiserschnitt geboren werden. Wollte man das Person-Sein des Menschen an den Geburtsvorgang knüpfen, so hätte dies zur Folge, dass der Personstatus einem Menschen nicht mehr von sich aus, sondern als Resultat elterlicher Entscheidungen zukäme.
Zu kritischen Gegenfragen fordern die Darlegungen über die Unbestimmtheit des menschlichen Lebensbeginns und die aus ihnen gezogenen Schlussfolgerungen hinsichtlich einer nur ein­-geschränkten Schutzwürdigkeit der Frühphasen menschlichen Lebens heraus.
Zwar ist es richtig, dass in der biblischen Tradition sowohl die Zeugung als auch die Geburt mit dem Schöpfungshandeln Gottes in Verbindung gebracht werden kann. Auch ist es angemessen, den transzendentalen Ursprung des Menschen vom zeitlichen Anfang seiner geschichtlichen Existenz zu unterscheiden. Daher ist der Feststellung beizupflichten: »Biblisch gesprochen liegt der Ursprung jedes Menschen in Gott und seiner zuvorkommenden Gnade« (76). Aber was folgt daraus für den Zeitpunkt, von dem ab der sich entwickelnde Mensch als schutzwürdig zu betrachten ist? Was ergibt sich aus dem unbestreitbaren Hinweis darauf, dass »zwar jeder geborene Mensch an seinem Anfang eine Zygote war, dass sich aber nicht jede befruchtete Eizelle zu einem Menschen entwi­ckelt« (76)? Solange über der Zukunft der einzelnen Zygoten, von denen sich in der Tat nur einige weiterentwickeln werden, noch der Schleier der Ungewissheit liegt, ist es ein Erfordernis der Gerechtigkeit, keine ihrer Entwicklungschance zu berauben, auch wenn diese im statistischen Mittelwert nur 40 % beträgt. Daher tappt man auch keineswegs in die Falle eines Biologismus, wenn man die Schutzwürdigkeit jedes individuellen Menschenlebens vom Abschluss der Befruchtung an annimmt. Urteilt man aus der möglichen Lebensperspektive des Embryos heraus, so erweist sich dieser Zeitpunkt aus normativen Gründen als wohlbegründet, da er gegenüber späteren Festlegungen weniger willkürlich erscheint und die Eigenperspektive des Embryos besser berücksichtigt. Sollten nicht, wenn sich in der Unbestimmtheit des Lebensanfangs das Geheimnis der menschlichen Person manifestiert, schon Vorsichtsgründe den Ausschlag dafür geben, dem zeitlichen Anfang ihres Daseins die Achtung entgegenzubringen, die wir einer Person schulden? Gerade innerhalb eines Denkansatzes, der die Leibgebundenheit der menschlichen Existenz in allen ihren Erscheinungsformen ernst nehmen möchte, liegt eine derartige Schlussfolgerung nahe (vgl. 79).
Unter den Kapiteln, die sich mit medizinethischen Einzelfragen zum Begriff der Krankheit, zur Marginalisierung bestimmter Pa­tientengruppen, zur Gerechtigkeit im Gesundheitswesen, zur spiritual care und der Krankenhausseelsorge, zum Personsein von Wachkomapatienten und zum Umgang mit dem menschlichen Leichnam (auch im Blick auf die Ausstellung »Körperwelten«) be­fassen, verdient die Studie über »Leiblichkeit und Verlust im Alter« besondere Erwähnung.
Wiederum stellt der Vf. in vortrefflicher Weise seine Kunst des differenzierungsfähigen Abwägens unter Beweis: So wendet er sich mit wichtigen Strömungen der gegenwärtigen Gerontologie gegen eine defizitorientierte Betrachtung des Alterns und plädiert stattdessen für einen ressourcenorientierten Ansatz, der auch positive Aspekte des Alterns (z. B. hinsichtlich der »späten Freiheit« im sog. dritten Lebensalter) würdigen kann. Zugleich kritisiert der Vf. jedoch die verharmlosende Redeweise vom »erfolgreichen« Altern (161) und die Plattitüden, die in Seelsorge und Theologie unter dem Stichwort des »gelingenden Lebens« transportiert werden (162). Selbst der in der jüngeren protestantischen Ethik einflussreiche Begriff der »Lebensführung« erscheint in diesem Zusammenhang ambivalent. Denn einerseits ist jede Handlung eingebettet in den Kontext einer Lebensgeschichte, von dem her sie ihre Bedeutung gewinnt; die Biographie eines Menschen ist immer mehr als die Summe seiner einzelnen Handlungen. Andererseits unterstellt der Begriff der Lebensführung, dass der Mensch seines Lebens zu jeder Zeit mächtig ist und seine Biographie nach einem frei gewählten Selbstkonzept formen kann. Dabei bleiben die Kontingenzerfahrungen unberücksichtigt, die dazu führen, dass der faktische Lebensverlauf vieler Menschen nur teilweise von ihrer Selbstbestimmung abhängt (164). Ausgehend von Bonhoeffers Gedanken zur Bedeutung von Widerstand und Ergebung im christlichen Leben folgen dichte und einfühlsame Gedanken zu den Haltungen der Abschiedlichkeit, der Annahme von Grenzerfahrungen sowie der Resignation als einer Form der Gelassenheit, die dazu verhelfen können, unvermeidliche Verlusterfahrungen im Alter würdevoll zu tragen. »Das Ethos der Resignation ist ein Ethos der Gelassenheit, des Sein-Lassens und des Loslassens. Insofern schafft Resignation Distanz und Freiheit bis zu jener letzten Freiheit, die darin besteht, das Leben selbst loslassen zu können, im Vertrauen darauf, dass wir nicht tiefer als in Gottes Hand fallen können.« (176)
Der Vf. hat eine brillante, höchst lesenswerte Studie vorgelegt, in der er auf mustergültige Weise vorführt, auf welchem Reflexionsniveau theologische Ethik ihrer Verpflichtung zum öffentlichen Vernunftgebrauch nachkommen und sich in die bioethischen Diskurse der säkularen Gesellschaft mit profilierter Stimme ein­-mischen kann. Ohne jemals in eine plakative Pauschalkritik zu verfallen, decken seine Analysen die Einseitigkeiten und Fehlent- wick­lungen im medizinethischen Denken der Gegenwart auf, die sich immer dann einstellen, wenn dieses die Leibgebundenheit menschlicher Existenz aus dem Auge verliert.