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Ausgabe:

September/2011

Spalte:

948-950

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Härle, Wilfried

Titel/Untertitel:

Würde. Groß vom Menschen denken.

Verlag:

München: Diederichs 2010. 157 S. 8°. Geb. EUR 16,99. ISBN 978-3-424-35032-6.

Rezensent:

Wolfgang Vögele

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Marks, Stephan: Die Würde des Menschen. Oder: Der blinde Fleck in unserer Gesellschaft. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2010. 240 S. 8°. Geb. EUR 19,99. ISBN 978-3-579-06755-1.


Die Fülle der Publikationen zum Begriff der Menschenwürde reißt nicht ab. Durch seine Verankerung im Grundgesetz ist »Menschenwürde« zu einem zentralen Begriff der politischen Kultur der Bundesrepublik geworden, und das resultiert in einem andauernden nachhaltigen Strom von Monographien, Tagungsbänden und Zeitungsbeiträgen. Die beiden hier vorzustellenden Bände zeigen die große Spannbreite der Menschenwürde-Reflexion, die weit über die Bereiche von Philosophie, Theologie und Rechtswissenschaften hinausreicht.
Der emeritierte Heidelberger Systematische Theologe Wilfried Härle hat einen ausführlichen Essay über Menschenwürde vorgelegt, in dem er seine eigene Perspektive auf die Menschenwürde vorstellt und diese Perspektive in das Spektrum der unterschiedlichen Positionen einordnet. Das ist nicht nur für Menschenwürde-Experten gedacht, dieser Essay lässt sich durchaus auch als wohlüberlegte Einführung in die Theologie der Menschenwürde lesen. Es macht eine der Stärken von H.s Theologie aus, dass er seine Position in konziser Gedankenführung, Thesen und Abgrenzungen formulieren kann. Er verliert sich nicht im unfruchtbaren Referat anderer Positionen, sondern behält stets den Bezug zur eigenen Argumentation im Blick. Das Resultat ist ein gut zu lesendes, unaufgeregt argumentierendes Buch, dessen eleganter und nüchterner Stil dem Leser Freude bereitet.
Am Anfang macht H. die lange vernachlässigte Unterscheidung zwischen Würde und Menschenwürde stark. Menschenwürde versteht er als das »mit dem Dasein als Mensch gegebene Anrecht auf Achtung als Mensch« (14), während sich die individuell verschiedene Würde aus den Leistungen, Handlungen und Begabungen eines Menschen ergibt. Letztere kann erworben, gewonnen und wieder verloren werden, während Menschenwürde im Gegensatz dazu allen Menschen in gleicher Weise eignet. Dabei lässt sich Menschenwürde durch den Kategorischen Imperativ, durch die be­rühmte Objektformel Günter Dürigs, durch den Begriff der Selbstbestimmung, als Abwehrformel gegen Zwangsmaßnahmen, als Selbstachtung oder Formel für Gleichheit interpretieren. H. be­streitet die Argumente von Kritikern dieses Menschenwürdebegriffs wie Peter Singer und Franz Josef Wetz, die beide Menschenwürde als Leistung einer Person auffassen.
Für seine eigene Menschenwürde-Begründung greift H. auf den Aufklärungstheologen Spalding und seine Rede von der Bestimmung des Menschen zurück. Diese bestehe darin, die eigene »Verfassung (conditio humana) zu erkennen, zu bejahen und in ihrem selbstbestimmten Gebrauch zu reifen« (73). Damit ist theologisch die Gottebenbildlichkeit des Menschen gemeint. Darin erkennt H. die überzeugendste Begründung für Menschenwürde. Gottesglauben und Menschenwürde stützen einander (79).
Diese theologische Begründung und die Begründung der Menschenwürde aus der Vernunftnatur des Menschen stellen für H. die stärksten Positionen im pluralistischen Würde-Diskurs dar – allerdings ohne in ausreichender Weise auf die Frage einzugehen, inwieweit diese theologische Würdebegründung auch von Teilnehmern am Diskurs nachvollziehbar ist, die die theologischen Prämissen nicht teilen. Diese Frage aber darf nicht ausgeklammert werden. Von dieser Begründungsposition her geht H. dann auf die einschlägigen, vor allem medizinethischen Debatten ein, in denen Menschenwürde in den letzten Jahren eine wichtige Rolle spielte, am Beginn und am Ende des Lebens, bei Leihmutterschaft, reproduktivem Klonen und anonymer Geburt sowie bei Sterbehilfe, as­sis­tiertem Suizid und der Frage des Hirntods am Ende des Lebens.
Einen gänzlich anderen Weg verfolgt der Freiburger Pädagoge und Theologe Stephan Marks. Er lässt die rechtliche Diskussion über Menschenwürde beinahe gänzlich außer Acht und fragt stattdessen nach den psychologischen Bedingungen von Menschenwürde. Damit verbindet er den Anspruch, Menschenwürde aus ihrem juristischen Gefängnis zu befreien und die Alltagsdimension der Würde aufzuzeigen. Dieser hohe Anspruch birgt gleichzeitig Gefahren und Chancen.
Die große Stärke des Buches besteht darin, dass M. Menschenwürde aus der Sicht der Schampsychologie versteht. Mit Leon Wurmser hält M. die Scham für die »Hüterin der menschlichen Würde« (30). Scham hält M. für ein peinigendes, oft verborgenes Gefühl, das eng mit körperlichen Reaktionen wie Erröten, Blasswerden etc. verbunden ist. Gefühle der Scham stellen sich ein, wenn körperliche und psychische Grenzen verletzt werden. »Die Würde des Menschen zu achten, bedeutet, ihn in seinen Grundbedürfnissen nach Schutz, Zugehörigkeit und Integrität anzuerkennen und zu unterstützen.« (37) Als Viertes kommt später das Grundbedürfnis nach Anerkennung hinzu (52). Gefühle von Scham indizieren nun Würde-Verletzungen. Gewahrte Würde vermeidet Beschämungen. Diese psychologische Grundlegung vermag vor dem Hintergrund des philosophischen, theologischen und juristischen Würde-Diskurses zu überzeugen. Es wäre der Versuch lohnend, die psychologischen Aspekte von Würde in die theologische und juristische Diskussion einzuordnen.
Aber M. geht diesen Schritt leider nicht. Stattdessen erliegt M. der Gefahr, diesen Erkenntnisgewinn gleich wieder zu verspielen. Denn unter der Überschrift »Die Deutschen und die Menschenwürde« fasst er ein Sammelsurium von Würdeverletzungen, das von der schwarzen Pädagogik über den Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegsfolgen bis zum Sportunterricht, sexuellem Missbrauch von Kindern, zu der Diskriminierung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund, Castingshows und den schulischen Amokläufen der letzten Jahre reicht. Alle Unter scheidungsgewinne der Verknüpfung von Menschenwürde und Scham gehen auf diese Weise wieder verloren. M. spricht von Deutschland als vom »Land der Mobber und Henker« (57). M. er­liegt immer wieder der Versuchung, die psychologische Analyse zur polemischen Sozialkritik umzumünzen. Damit aber tut er seinem eigenen berechtigten Anliegen keinen großen Gefallen. Denn auf diese Weise wird Menschenwürde zum pauschalen Kritikbegriff, welcher in seiner Abstraktheit Tür und Tor für alle möglichen Formen der Sozialkritik öffnet. Bereits erzielte Unterscheidungsgewinne gehen hier leider wieder verloren.
Gegen Ende dieses langen Teils scheint sich M. auf pädagogische Beispiele zu konzentrieren. Eine konsequente Konzentration auf die Bereiche von Bildung und Erziehung, Schulsystem und Unterricht hätte dem Buch gut getan. Indem alles dem Gegenüber von Menschenwürde und Scham eingeordnet wird, wird das Buch überfrachtet. M. erreicht das Ziel nicht, das er sich selbst gesetzt hat. Am Ende, nach seiner lang andauernden Kritik an Würde-Verletzungen in Deutschland nennt M. Personen und Beispiele einer positiven Würdetradition. Er nennt Menschen mit Zivilcourage, die Mitglieder der Weißen Rose, den Hitler-Attentäter Georg Elser, die Philosophen Immanuel Kant und Ernst Bloch. Aber was im vorigen Teil viel zu lang abgehandelt wurde, gerät M. hier zu kurz. Der Leser wüsste gerne mehr darüber, wie die genannten Personen in besonderer Weise für Menschenwürde einstanden.
So bleibt die Reflexion über Menschenwürde stets eine Gratwanderung. Härles Position wäre darin weiterzuführen, dass man nach dem Neben- und Miteinander unterschiedlicher philosophischer und theologischer Würdebegründungen fragt, was mehr als nur eine politische oder gesellschaftliche Frage ist. Der psychologisch geschärfte Würdebegriff von Marks hingegen würde es verdienen, mit den anspruchsvollen Positionen juristischer, theologischer und philosophischer Würdebegründung in Kontakt gebracht zu werden.