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Ausgabe:

September/2011

Spalte:

946-948

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Bedford-Strohm, Heinrich, Jähnichen, Traugott, Reuter, Hans-Richard, Reihs, Sigrid, u. Gerhard Wegner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Zauberformel Soziale Marktwirtschaft?

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2010. 305 S. m. Abb. 8° = Jahrbuch Sozialer Protestantismus, 4. Kart. EUR 29,95. ISBN 978-3-579-08053-6.

Rezensent:

Daniel Dietzfelbinger

Zauberformeln dienen gemeinhin dazu, ein Etwas mittels Aussprechen dieser Formel in etwas Anderes zu verwandeln: Das Nichts in einem Zylinder mit einem Hasen zu füllen, den Frosch in einen König zu verwandeln oder einen zuvor scheinbar in mehrere Teile zersägten Menschen unter Tusch und Blitzlicht wieder zu einem ganzen werden zu lassen. Zauberformeln beschwören. Immer wieder erlebt man in Märchen oder Geschichten, dass auch Zauberformeln nicht immer ihre ganze Wirkkraft entfalten, ja manchmal gar vergebens sind. Das mag unter anderem daran liegen, dass die Zauberformel nicht immer mit dem nötigen Ernst, mit dem richtigen Akzent oder der richtigen Sprachmelodie vorgetragen wurde.
Ein bisschen wie mit Zauberformeln ist es in der Tat, wenn heute von der Sozialen Marktwirtschaft gesprochen wird. Jeder verwendet den Begriff, aber ebenso unklar ist bei den meisten, was damit intendiert ist. Von links bis rechts, von wirtschaftskritisch bis ökonomiefreundlich, es gehört zur wirtschaftspolitischen Korrektheit, die Soziale Marktwirtschaft als Basis aller Argumente jederzeit heranziehen zu können, ohne dass damit schon klar ist, was damit inhaltlich genau gemeint ist.
Diese Problematik des Begriffs erkannten schon die Theoretiker und Gründerväter der wirtschaftswissenschaftlichen Theorie und der wirtschaftspolitischen Umsetzung der Sozialen Marktwirtschaft und dieser Problematik widmet sich der vierte Band des Jahrbuchs Sozialer Protestantismus, der von dem Bamberger Sozialethiker und künftigen bayerischen Bischof Heinrich Bedford-Strohm u. a. herausgegeben wurde.
Im ersten Beitrag geht Traugott Jähnichen dem wirtschaftsethischen Profil des sozialen Protestantismus nach (18 ff.). Der Verfasser will erneut seine These begründen, die da lautet: »Die Soziale Marktwirtschaft ist von ökonomischen und ethischen Grundentscheidungen geprägt, die sich wesentlich auf protestantische Traditionen zurückführen lassen und die historisch in widerständigen Gruppen gegen den Nationalsozialismus zu verorten sind.« (19)
Zurückhaltender argumentiert Hans-Richard Reuter in seinem Beitrag »Die Religion der Sozialen Marktwirtschaft. Zur ordoliberalen Weltanschauung bei Walter Eucken und Alexander Rüstow« (46 ff.), der an einigen Punkten Jähnichen grundsätzlich widerspricht (etwa in der Entwicklungsgeschichte der Sozialen Marktwirtschaft, die Reuter – nach Ansicht des Rezensenten zu Recht – deutlich früher ansetzt). In seinem hochinteressanten Beitrag verdeutlicht Reuter anhand einiger biographisch-wissenschaftlicher Grundgedanken von Walter Eucken und Alexander Rüstow, wie deren unterschiedliche Vorstellungen und Ideen von Religion und Glaube sich direkt oder indirekt in ihren wirtschaftspolitischen Konzeptionen niederschlagen.
Aktuellen Fragen widmet sich Gustav Horn in seinem Beitrag »Der große Irrtum – Warum die Finanzmarktregulierung scheitern musste« (77 ff.). Dabei wendet er sich retrospektiv der wirtschaftspolitischen und -ethischen Diskussion der zurückliegenden Jahre zu. Anhand ausführlicher Studien legt er dar, warum es zu dem Krisenphänomen kommen musste: »Das Grundproblem der vergangenen Jahrzehnte war, dass Ökonomen die Ökonomie als ein im Kern krisenfreies System verstanden haben. Diese Sichtweise lag in einem nahezu grenzenlosen Vertrauen in das Marktsystem begründet.« (88/89)
Jörg Hübner setzt sich in seinem Aufsatz »Die Erzeugung von Informationen am Finanzmarkt reformieren – die Fundamente Sozialer Marktwirtschaft unter Beachtung der globalen Perspektive erneuern« (103 ff.) mit der Reform der globalen Finanzarchitektur auseinander und entwickelt fünf Verantwortungsebenen (120 ff.), die nach seiner Ansicht für eine Neubestimmung einer Sozialen Marktwirtschaft im internationalen Kontext notwendig sind.
Passend dazu widmet sich Monika Burmester in ihrem Beitrag »Offene Märkte – Herausforderung für die Soziale Marktwirtschaft?« (130 ff.) der Frage, wie die Grundgedanken der Sozialen Marktwirtschaft angesichts der modernen Globalisierung der Wirtschaft Grenzen ziehen muss, um auch künftig Bestand haben zu können.
Peter Pavlovic nimmt in seinem Aufsatz »Grundfragen der EU-Strategie für 2020 aus der Perspektive der evangelischen Ethik« (147 ff.) das von der EU 2010 vorgelegte Grundsatzpapier in den Blick und untersucht, welche Defizite das Papier im Blick auf ethische Implikationen hat: »Insbesondere ist nach der kulturellen Einbettung der Ökonomie und der Perspektive einer nachhaltigen und solidarischen Ökonomie zu fragen, die über eine bloße Orientierung an der Wettbewerbsfähigkeit hinausgeht.« (165)
Die »Zukunftsperspektiven« der Sozialen Marktwirtschaft nimmt Wolfram Stierle in den Fokus (166 ff.) und kommt dabei in kritischer Bewertung einiger in der Diskussion immer wieder als wesenseigen bezeichneten Charakteristika der Sozialen Marktwirtschaft zum Urteil: »Die Globalisierung weist über die Möglichkeiten des Ordoliberalismus hinaus. Die Welt globaler Zukunftsfragen weist über die Soziale Marktwirtschaft hinaus.« (186)
John Itty setzt sich in seinem Beitrag »Eine sozialkontrollierte Ökonomie: Das Beispiel Indien« (187 ff.) grundsätzlich mit dem System Marktwirtschaft in seiner historischen Entwicklung auseinander und fordert – ausgehend von der historischen Entwicklung des Kapitalismus in Indien mit ihren gesellschaftlichen Verwerfungen – eine »effektive … gesellschaftliche … Kontrolle des Marktes« (213).
Den Aufsatzteil des Jahrbuches schließt die Studie von Hans Nutzinger, der sich mit dem Radermacherschen Konzept eine Ökosozialen Marktwirtschaft kritisch auseinandersetzt (214 ff.).
Die Dokumentation der Verleihung des Klaus-von-Bismarck-Preises der Stiftung Sozialer Protestantismus (225 ff.), der Abdruck thematisch wesensverwandter Studien sowie einige Rezensionen runden das Jahrbuch ab.
Die unterschiedliche Ausrichtung der Beiträge im Jahrbuch macht die eingangs erwähnte Problematik deutlich, dass die Verwendung der »Zauberformel Soziale Marktwirtschaft« noch wenig über ihren eigentlichen Inhalt aussagt. So lesenswert die Mehrzahl der Beiträge ist, so vielschichtig ist die Begriffsdeutung des Konzepts. Dies muss kein Defizit der Formel sein, im Gegenteil, die keineswegs neue Erkenntnis könnte produktiv für die Evangelische Wirtschaftsethik genutzt werden. Es war Alfred Müller-Armack, der aus seiner wirtschaftshistorischen Forschung heraus – im Anschluss an Werner Sombart, Arthur Spiethoff und Heinrich Bechtel – den retrospektiv verwendeten Begriff Wirtschaftsstil auf das Konzept Soziale Marktwirtschaft anwendete, um aus der retrospektiven Funktion eine antizipatorische Form des Stilbegriffs zu entwi­ckeln. Damit sollte die Soziale Marktwirtschaft den Charakter eines orientierenden Leitbildes bekommen, dessen einzelne normative Implikationen immer wieder neu auszutarieren sind. Die jeweiligen Kriterien dieses Leitbildes seien – wie die Soziale Marktwirtschaft ein dynamischer Wirtschaftsstil sei – je nach Zeit immer wieder neu zu definieren.
In dieser Perspektive könnte das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft wenn nicht eine Zauber-, so doch eine Zukunftsformel sein, auf die sich evangelisch orientierte Ethik berufen kann.