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Ausgabe:

September/2011

Spalte:

943-946

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Bauer, Emmanuel J., Fartacek, Reinhold, u. Anton Nindl

Titel/Untertitel:

Wenn das Leben unerträglich wird. Suizid als philosophische und pastorale Herausforderung.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2011. 303 S. m. Abb. u. 1 Tab. gr.8° = Forum Systematik, 40. Kart. EUR 27,90. ISBN 978-3-17-021413-2.

Rezensent:

Michael Coors

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Frieß, Michael: Sterbehilfe. Zur theologischen Akzeptanz von assistiertem Suizid und aktiver Sterbehilfe. Stuttgart: Kohlhammer 2010. 175 S. gr.8°. Kart. EUR 22,90. ISBN 978-3-17-021508-5.


Die beiden hier zu rezensierenden Werke führen in das Zentrum der sog. ethischen Fragen am Lebensende. Dabei konnte man in den letzten Jahren durchaus den Eindruck gewinnen, dass der Suizid an sich unter Verweis auf die geltende Rechtslage kaum mehr als ethisches Thema vorkommt. Strafrechtlich kann ein Suizid nicht be­langt werden und ethisch scheint er durch das Prinzip der Selbstbestimmung gedeckt. Die Fachdiskussion hat sich darum vor allem auf Psychologie, (Geronto-)Psychiatrie und die Soziologie verlagert. Im Fordergrund der ethischen Debatten stehen medial wie wissenschaftlich die »spektakuläreren« Themen wie Sterbehilfe oder (ärztlich) assistierter Suizid, denen sich Frieß in seinem Buch widmet. Dabei wird man gerade das zuletzt genannte Thema nicht bearbeiten können, ohne die ethische Dimension des Suizids an sich wieder in die Debatte mit hineinzunehmen. Genau dies unternimmt das Buch von Bauer, Fartacek und Nindl, indem es den Suizid im Spannungsfeld von Empirie, Moralphilosophie, Psychotherapie und Existenzanalyse zum Thema macht. Der katholische Moraltheologe Bauer führt in die Thematik zunächst anhand eindrück­lichen Zahlenmaterials ein (Kapitel 2), um von dort aus zum Suizid als philosophischer und theologischer Herausforderung (Kapitel 3) fortzuschreiten. Daran schließt sich ein Kapitel über das Verhältnis von Suizid und Religion an. Die psychiatrische Perspektive wird dann im 5. Kapitel von Fartacek informativ und gut lesbar dargestellt. Den Abschluss bildet die noch speziellere Perspektive der psychotherapeutischen Methode der Existenzanalyse, dargestellt von Nindl.
Die Stärke dieses Buches liegt sicher in dieser Multiperspektivität auf das Phänomen des Suizids. Probleme ergeben sich aus dem Anspruch, die Thematik sowohl in wissenschaftlicher als auch praxisbezogener Perspektive zu bearbeiten. So bieten manche Passagen des Buches äußerst dichte philosophische, ethische und psychologische Reflexionen, andere Passagen sind in ihrem Charakter eher handbuchartige Handlungs- und Reflexionsanleitungen.
So sehr es nur lobenswert genannt werden kann, dass Bauer den Suizid selbst wieder zum ethischen Thema macht, so auffällig knapp sind dann allerdings die moralphilosophischen Erwägungen, die unter der m. E. unglücklichen Überschrift »Ist Suizid aus moralphilosophischer Sicht erlaubt?« (111) stehen: Sollte man die Frage des Suizids wirklich einseitig von dieser stark normativen Seite her betrachten? Es scheint mir weiterführender, nach den Wechselwirkungen zwischen Suizidpraxis und ethischen Orientierungen und Intuitionen zu fragen: Wie wirkt sich die Wirklichkeit des Suizids auf unsere Vorstellungen von einem guten und gelingenden Leben aus? Das würde allerdings eine erheblich weniger normativ imprägnierte Ethik verlangen, als sie in der katholischen Moralphilosophie üblich ist. Es würde aber in der Perspektive einer hermeneutischen Ethik der sozialethischen Argumentation ein stärkeres Gewicht geben. Dabei zeigt gerade Bauers Bearbeitung der Frage, dass es gar nicht so sehr um die Frage nach der Erlaubnis geht, sondern um die Wahrnehmung und Bewertung der Freiwilligkeit eines Suizids. Schon die eingenommene Außenperspektive ist interessant: Es geht vor allem um die Frage, ob ich den Suizid eines anderen verhindern muss oder darf, oder ob ich ihn zulassen oder gar unterstützen darf oder soll. Kriterium dafür ist nach B. die Frage, ob ein Suizid wirklich freiverantwortlich geschieht. Im konkreten Fall ist dann aber die größte Schwierigkeit, »dass man es von außen wohl nur sehr schwer beurteilen kann, ob und wann in der Realität wirklich jener Fall vorliegt, dass in einem Menschen die Entscheidung zum Suizid aus reiner Freiheit und reifer Überzeugung … getroffen wurde« (135). Im Hintergrund steht dabei das Wissen darum, dass laut WHO-Statistik über 90 % aller Suizide im Zusammenhang mit einer psychischen Störung stehen (69) und dass es mitunter als fraglich erscheint, ob es überhaupt einen völlig freiverantwortlichen Suizid gibt (25.132). Stringent würde sich daran nun eigentlich die Frage anschließen, wie denn solche Freiverantwortlichkeit eigentlich zu bestimmen ist: Wie frei oder unfrei ist der Mensch angesichts psychischer Zwänge? Diese philosophisch wie theologisch höchst spannende Frage wird aber leider nicht aufgegriffen. Dabei würde gerade das interdisziplinäre Setting des Buches dafür eine gute Gelegenheit bieten.
Weiterführend scheint mir, dass die Debatte über den (ärztlich) assistierten Suizid in den Horizont der ethischen Frage nach der Suizidprävention gestellt wird. Die Argumentation scheint dabei zu sein, dass angesichts der Tatsache, dass die weitaus meisten Suizide im Zusammenhang mit krankhaften psychischen Veränderungen stehen, eher die Suizidprävention geboten ist als die Assis­tenz beim Suizid. Ob man es aber bei einer schlichten Gegenüberstellung belassen kann, scheint wiederum fraglich. Deutlich ist, dass man in der Diskussion um assistierten Suizid und Sterbehilfe in sozialethischer Perspektive unbedingt das Verhältnis von Sui­-zid­assistenz und Suizidprävention erörtern muss. Ob aber Prävention oder Assistenz zum Suizid geboten ist oder ob und wie beides seinen Ort in der Praxis des Umgangs mit Suizidalen hat, hängt letztlich von der Bewertung des Suizids an sich ab.
Eine ganz andere Stoßrichtung hat das Buch von Frieß, das ge­zielt die strittigen Themen mit provokanten Thesen angeht. Das Buch ist im Wesentlichen ein gekürzter, in weiten Teilen textidentischer Neuabdruck der zwei Jahre zuvor im selben Verlag erschienenen Dissertation von F., die lediglich geringfügig dem aktuellen Diskussionsstand angepasst wurde (ohne dass diese Ähnlichkeit irgendwo in dem Buch erwähnt würde). F. behandelt im europäischen Horizont Stellungnahmen der Kirchen zu den benannten Themen und votiert gegen den Großteil dieser Stellungnahmen für die theologische Akzeptanz von assistiertem Suizid und aktiver Sterbehilfe. F. arbeitet dabei aber argumentativ nicht sauber und bedient sich schon in der Darstellung immer wieder implizit wertender Formulierungen. Er handelt zentrale und hochkomplexe Problemfelder der medizinethischen Debatte viel zu knapp ab und mutet sich dann zu diesen Urteile zu, die vor dem Hintergrund gegenwärtiger Diskussionslagen vielfach befremdlich erscheinen. Dabei ist das Problem nicht so sehr, dass F. theologisch für assis­tierten Suizid und aktive Sterbehilfe argumentiert – eine sauber gearbeitete Studie, die das vertritt, wäre eine hochrespektable Leis­tung, die natürlich der inhaltlichen und argumentativen Kritik zugänglich bliebe. Das Problem des vorliegenden Buches ist schlicht, dass es schon auf methodischer Ebene fehlerhaft ist. Das sei an zwei Beispielen verdeutlicht:
F. argumentiert, dass die Grenzen zwischen Sterbenlassen (sog. passive Sterbehilfe) und Tötung auf Verlangen (sog. aktive Sterbehilfe) unklar sind (13 ff.), so dass am Ende die Alternative besteht, entweder alles zuzulassen oder alles zu verbieten (137 f.140 f.). So kann die Position der Kirchen, die einen differenzierten Mittelweg suchen, als inkonsequentes Werben um »Kundenanteile … auf den Religionsmärkten« (138) polemisch diffamiert werden. Entsprechend kritisiert F. den Versuch des Nationalen Ethikrates und zahlreicher anderer Medizinethiker, hier mehr Klarheit durch eine präzisere Begriffswahl zu gewinnen. Weil F. auf der unklaren Begrifflichkeit von aktiver und passiver Sterbehilfe besteht, entsteht Raum für problematische Behauptungen wie, »dass die Einstellung der künstlichen Ernährung etwa bei Wachkomapatienten, die sich nicht in der Sterbephase befinden, eine bewusste und gezielte Tötungshandlung ist« (137). Was F. übergeht, ist, dass sie solches nur ist, wenn sie nicht in Übereinstimmung mit dem Willen des Patienten geschieht: Hat der Patient der Behandlung nämlich widersprochen, wäre die Weiterbehandlung schlicht Körperverletzung. Darum macht es einen erheblichen Wertungsunterschied aus, ob man eine einmal begonnene Therapie beendet, weil sie dem Willen des Patienten nicht entspricht, oder ob man einen medizinischen Eingriff vornimmt, der auf die Tötung des Patienten zielt. Dabei kann es im medizinethischen Diskurs inzwischen als eine Binsenweisheit gelten, dass der Arzt natürlich in beiden Fällen aktiv handelt: Gerade darum hat der Nationale Ethikrat vorgeschlagen, nicht mehr von der Unterscheidung aktiv-passiv auszugehen, an der F. aber unbedingt festhalten will. Der Verdacht liegt nahe, dass hier gezielt Unklarheit erzeugt werden soll.
Entscheidend sind die Gründe für das Handeln des Arztes: Will der Patient nicht behandelt werden, dann bleibt dem Arzt nichts anderes, als den Patienten sterben zu lassen. Zwar mag dann immer noch eine medizinische Indikation vorliegen, aber diese erlaubt keine Behandlung gegen den Willen des Patienten. Es ist leider charakteristisch für die Arbeit von F., dass dieser verbreitete argumentative Konsens von ihm nicht korrekt referiert wird – dabei ist diese Argumentationslinie gerade im Urteil des BGH vom 25. Juni 2010, auf das F. eingeht (36 f.), sehr klar durchgeführt. Die Kategorie der Selbstbestimmung kommt in F.s Darstellung der Diskussion und in der Analyse konkreter medizinethischer Problemstellung erheblich zu kurz, so sehr er sich dann am Ende für seine Position auf sie beruft (140). Die solide Darstellung der Diskussionslage aber wäre die Mindestvoraussetzung, um sich dann kritisch dazu zu äußern. Denn natürlich liegen auch der begrifflichen Rekonstruktion der ethischen Konfliktsituation durch den Nationalen Ethikrat Wertungen zugrunde, die man kritisieren kann, und sie hat Unschärfen, auf die sich ein Verfechter sog. aktiver Sterbehilfe berufen könnte.
Ähnliche Probleme lassen sich an F.s Umgang mit dem Thema der Sedierung am Lebensende deutlich machen. Dass dies eine höchst strittige Praxis ist, um deren Bewertung argumentativ gerungen wird, ist dabei ausdrücklich zu betonen. Umso fataler allerdings ist die Abbreviatur der Problematik, die F. bietet:
Er stellt die Frage, wie die Kombination von palliativer Sedierung und Einstellung der künstlichen Ernährung zu bewerten sei. Dabei begreift er dies als Kombination zweier Formen der Sterbehilfe, nämlich indirekter und passiver Sterbehilfe, und fragt, ob die Kombination nicht auf aktive Sterbehilfe hinauslaufe (21.42). Schon die Behauptung, dass eine palliative Sedierung indirekte Sterbehilfe sei, ist umstritten: F. geht darauf nicht ein. Zur Bewertung der Einstellung der künstlichen Ernährung muss man sich zunächst die getroffenen Entscheidungen verdeutlichen:
a) Es ist eine Entscheidung gefallen, dass keine kurativen Maßnahmen mehr getroffen werden, weil der Patient diese nicht will oder weil es keine medizinisch indizierten Maßnahmen mehr gibt.
b) In Übereinstimmung mit dem Patientenwillen ist dann die Entscheidung für eine palliative Sedierung gefallen.
Daraus folgt c), dass eine künstliche Ernährung schon medizinisch kontraindiziert ist, weil sie unnötige Lebensverlängerung bedeuten würde. Darum ist die Frage nach aktiver Sterbehilfe hier irreführend.
Man kann die Frage freilich auch leicht anders stellen: Wie ist damit umzugehen, dass eine palliative Sedierung eingeleitet werden könnte, um damit die Indikationsstellung für einen Abbruch der künstlichen Ernährung überhaupt erst zu erzeugen? Diese Frage wird in der Tat intensiv diskutiert, wird aber so von F. nicht formuliert. Zur Erörterung dieser zugegebenermaßen feinen Differenzen müsste F. aber die Problem- wie auch die Diskussionslage näher analysieren. Dass er in diesem Zusammenhang nicht auf die im März 2010 erschienen Richtlinien zur Sedierung am Lebensende der AG »Ethik am Lebensende« der Göttinger Akademie für Ethik in der Medizin eingeht, ist schlicht unverständlich (spätere Literatur wird zum Teil berücksichtigt). Ebenso fehlt die Auseinandersetzung mit theologisch absolut grundlegender Literatur zum Todesverständnis (z. B. Jüngel, Kittel): Für einen theologischen Beitrag zur Debatte ist das doch irritierend.
All das ist sehr bedauerlich – auch weil mitunter wichtige und interessante Fragen aufgeworfen werden, deren solide und methodisch saubere Bearbeitung man sich gewünscht hätte: Das gilt gerade auch für die theologischen Fragen zur Deutung von Sterben und Tod und die darin mitgesetzten Fragen nach dem Verhältnis von Gottes Schöpfermacht und menschlicher Selbstbestimmung (118 ff.). Dass man mit Hilfe einer funktionalen Religionstheorie, wie sie F. am Ende des Buches als eine seiner Voraussetzungen offenlegt (131), auf diese Fragen eine theologische Antwort findet, kann man allerdings mit Gründen bezweifeln. In Summe trägt dieses Buch vor allem zur Verwirrung in einer Debatte bei, die dringend ein höheres Maß an Sachlichkeit und Differenziertheit benötigt.