Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2011

Spalte:

937-939

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Heidegger, Martin

Titel/Untertitel:

Gesamtausgabe. III. Abtl.: Unveröffentlichte Abhandlungen. Vorträge – Gedachtes. Bd. 71: Das Ereignis. Hrsg. v. F.-W. von Herrmann.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Klostermann 2009. XXI, 347 S. 8°. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-465-03640-1.

Rezensent:

Ingolf U. Dalferth

Dieser Band, herausgegeben von Friedrich Wilhelm v. Hermann, ist der vorletzte von sieben seinsgeschichtlichen Abhandlungen aus dem Nachlass Martin Heideggers. Erschienen sind bisher die »Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)« (GA 65), »Besinnung« (GA 66), »Die Überwindung der Metaphysik« (GA 67), »Die Geschichte des Seyns« (GA 69) und »Über den Anfang« (GA 70). Noch ausstehend sind die »Stege des Anfangs« (GA 72). Die Bedeutung dieses vorletzten Bandes dieser Reihe ist, dass er die Seinsfrage unter dem zentralen Thema Ereignis ins Zentrum der Überlegungen stellt. In elf Kapiteln und 386 Paragraphen wird in Gedanken, Reflexionen, Skizzen, Notizen und auch einigen wenigen ausgearbeiteten Passagen das Thema Ereignis aus immer neuen Perspektiven als unvordenklicher Anfang des Seins und Denkens umkreist. Die Überlegungen sind auf der Grundlage einer 1941/42 datierten Handschrift unter folgenden Titeln angeordnet: I. Der erste Anfang; II. Der Anklang; III. Der Unterschied; IV. Die Verwindung; V. Das Ereignis. Der Wortschatz seines Wesens; VI. Das Ereignis; VII. Das Ereignis und das Menschenwesen; VIII. Das Da-seyn; IX. Der andere Anfang; X. Weisungen in das Ereignis; XI. Das seynsgeschichtliche Denken. Denken und Dichten. Sechs knappe Entwürfe zu Vorworten leiten die Gedankensammlung ein und zeigen ihren Ort im Verhältnis zu den »Beiträgen zur Philosophie« an. Ein kurzes Nachwort des Herausgebers schließt den Band ab (343–347).
Das Gefälle der elf Kapitel des Buches lässt die Ordnung des Gedankengangs erkennen. Ausgehend von einem »Anfang«, der »älter [ist] denn alles, was die Historie feststellt« – »Das Ereignis läßt sich niemals in der Weise einer Idea fest- und vor-stellen.« (184) – sucht Heidegger den Weg vom Beginn zum Bleiben, vom Nichts und Ereignis zur Geschichte des Seyns, vom Ereignis des Seyns zum Daseyn des Menschenwesens, vom Da-sein zur Stimmung, zum Denken, Dichten und Danken auszubuchstabieren. Dabei stehen in Kapitel I die Themen Wahrheit ( ἀλήτεια) und Meinung (δόχα) im Zentrum, in Kapitel II. die Metaphysik, in Kapitel III. der Unterschied zwischen Seyn, Nichts und Ereignis, in Kapitel IV. die Geschichte und die Fuge (Fügung) des Seyns, in Kapitel V. und VI. das Ereignis, in Kapitel VII. das Ereignis und der Mensch, in Kapitel VIII. das Da und das Seyn, in Kapitel IX. das Verhältnis von Anfang, Ereignis und (dem letzten) Gott; in Kapitel X. die Erfahrung, das Denken und das Wort; in Kapitel XI. das Sagen, Denken und Dichten des Anfangs. Im Zentrum der Reflexionen stehen die Überlegungen zum Ereignis in den Kapiteln V. und VI. Kapitel V. bietet in den am besten ausgearbeiteten Passagen des Buches eine sprach­-liche Analyse des Wortgebrauchs für die elf Weisen des »Wesens« des Ereignisses, die ihre Unterschiede, Übergänge und Zusam­menhänge aufzuweisen sucht (147–178): Ereignis, das Ereignen (die Er-eignung), die Ver-eignung, die Übereignung, die Zu-eignung, die An-eignung, die Eigentlichkeit, die Eignung, die Geeignetheit, die Ent-eignung und das Eigentum. Dieser konzentrierte Versuch, über ein genaues Hören auf den Wortgebrauch das Thema genauer fassen und beschreiben zu können, belegt den grundlegend hermeneutischen Charakter von Heideggers Philosophieren. Er geht davon aus: Das Seyn »ist grundlos und kennt deshalb kein Warum. Das Seyn ist, indem es ist: reines Er-eignis.« (121) Es gibt daher keine Möglichkeit und es hat auch keinen Sinn, hinter das Ereignis des Seyns zurückzufragen und etwa in Gestalt der Herleitungs- oder Fundierungsbeweise der klassischen Metaphysik die Kontingenz des weltlichen Seins aus der Notwendigkeit des göttlichen Seins gewinnen bzw. in dieser begründen zu wollen. Dieser Weg des Begründens des Seyns in einem anderen ist ungangbar und unnötig, weil sich die Warum-Frage hier gar nicht (mehr) stellt. Bei dieser Feststellung kann man es angesichts der horrenden Abirrungen der metaphysischen Tradition philosophisch allerdings nicht bewenden lassen. Will man deren Fehler nicht fortsetzen, indem man Antworten zu geben sucht, wo sich gar keine Fragen stellen, dann bleibt nur der umgekehrte Weg, das Seyn aus sich selbst zu verstehen, es also so verständlich zu machen, wie es sich selbst zu verstehen gibt. Und so betont Heidegger: »Das Wort ist der Schatz, den der Anfang in sich birgt. Nur zuweilen lichtet sich das Seyn selbst. Dann geht ein Suchen nach diesem anfänglichen Reichtum durch die Menschengeschichte; denn im Wort ist das Seyn ereignishaft im Eigentum seiner Wahrheit. Das Ereignis ist das anfängliche Wort, weil seine Zueignung (als die einzige An-eignung des Menschenwesens in die Wahrheit des Seyns) das Wesen des Menschen auf die Wahrheit des Seyns stimmt.« (170 f.) Das behutsame Hören auf den Wortgebrauch ist keine skurrile Idiosynkrasie Heideggers, sondern eine angemessene Weise des Philosophierens, wenn man den Wettlauf der Philosophie mit den nach Erklärungen suchenden Wissenschaften und den um Letzterklärung bemühten metaphysischen Entwürfen der Vergangenheit und Gegenwart als abwegig durchschaut hat.
Heideggers Überlegungen zum Ereignis in diesem Band fügen sich nicht zu einem kohärenten Text oder diskursiven Gedankengang. Man kann sie nicht flüssig lesen, wie man sonst Texte zu lesen gewohnt ist. Sie erlauben vielmehr den Einblick in ein philosophisches Denken, das unablässig unterwegs ist zur Sache, das bohrend und fragend nach Zugängen und Ausdrucksweisen für eine Problematik sucht, die sich nicht erschließen oder nennen lässt, ohne dicke Schichten des überkommenen Missverstehens und metaphysischen Übertünchens abzutragen. Deutlich ist, dass Heidegger erkannt hat, dass gängige Antworten nicht weiter führen, weil sie suggerieren, eine Erklärung für etwas zu haben, was gar keiner Erklärung bedarf. Wie aber ist das, was man zu verstehen sucht, dann zu beschreiben und zu denken? Heideggers Wort dafür ist: als »Ereignis«. Aber deutlich zu machen, was das besagt, ist eine Aufgabe, die Heidegger trotz aller Anstrengungen nicht zu Ende brachte. Der vorliegende Band belegt in seiner Skizzenhaftigkeit, seinen Notizen und Korrekturen, seinen sprachsensiblen Formulierungen, die nicht immer erhellend sind, sondern auch verdunkeln können, ein Denken, das unterwegs und nicht angekommen ist. Wer eine »Theorie des Ereignisses« sucht, sollte dieses Buch nicht aufschlagen, sondern sich an Alain Badious L’Être et l’Événement halten. Wer aber ein philosophisches Denken in Aktion beobachten will, der hat hier neben Wittgensteins philosophischen Untersuchungen ein zweites gewichtiges Beispiel dafür, dass Philosophie ihren Sinn und Zweck nicht im Entwerfen metaphysischer Theorien, sondern im Philosophieren hat.