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Ausgabe:

September/2011

Spalte:

934-935

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Zirker, Angelika

Titel/Untertitel:

Der Pilger als Kind. Spiel, Sprache und Erlösung in Lewis Carrolls Alice-Büchern.

Verlag:

Berlin-Münster: LIT 2010. IX, 415 S. gr.8° = Religion und Literatur, 2. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-643-10470-0.

Rezensent:

Markus Mühling

Hier handelt es sich um die unter ihrem Doktorvater Matthias Bauer 2009 in Tübingen angenommene anglistische Dissertation Angelika Zirkers. Die Alice-Bücher »Alice in Wonderland« und »Through the Looking Glass« von Lewis Carroll/Charles Dodgson werden ausführlich beschrieben, analysiert und kritisiert. Z. geht zunächst von dem unterschiedlichen Befund zwischen den Rahmenerzählungen/Gedichten und dem eigentlichen Inhalt der Erzählungen aus: Während die Rahmenerzählungen ein distanziertes und damit sentimentales Bild der Kindheit zeichnen, stehen die Erzählungen in ihrer nicht-sentimentalen, unmittelbaren Welt der Kindheit dazu in gewisser Spannung. Die Erzählungen werden als kindliche Pilgerreise beschrieben, die zahlreiche Motive der entsprechenden Literatur, von Milton über John Bunyans »The Pilgrim’s Progress« bis zu den sinnorientierenden, soteriologischen Kunstmärchen George MacDonalds und Charles Kingsleys, indirekt, häufig aber auch direkt, verarbeiten. Der angestrebte Erlösungsgedanke besteht dabei in einer Regression in die Kindheit, bzw. noch deutlicher zum Ursprung, bzw. absoluten principium selbst. Damit können die Aliceerzählungen gemäß Z. christliche Motive aufnehmen.
Es sei aber schon hier bemerkt, dass sich Z. hier nur auf ein bestimmtes, neuplatonisch gefärbtes Bild von Erlösungsvorstellungen im Christentum konzentriert, das biblisch eher randständig ist: Nicht der Rückschritt ins Paradies des Ursprungs, sondern der Fortschritt in die Stadt des Neuen Jerusalem, in der durchaus menschliche Kulturleistungen aufgenommen werden, ist das vorherrschende Erlösungsmotiv des Neuen Testaments. In ähnlicher Weise bildet die Vorstellung des vergänglichen Leibes bei einer unsterblichen Seele, auf die Z. anspielt (298), kein biblisch prominentes Gedankengut, sondern nur eine, nämlich neuplatonische, Interpretation christlicher Anthropologie. Auch wenn Z. hier nicht angibt, dass es sich nur um einen bestimmten und recht engen christlichen Traditionsstrang handelt, der hier als Interpretationskontext infrage kommt, und wenn sie zuweilen Parallelen zu theologischem oder biblischem Gedankengut auch überstrapazieren mag, bedeutet dies doch keinen Schaden, da tatsächlich das neuplatonisch gefärbte Christentum den historischen Kontext auch der Vorlagen, etwa MacDonalds, bietet, auf die Carroll/Dodgson anspielt.
Die Welt der kindlichen Pilgerreise selbst entpuppt sich in unterschiedlicher Hinsicht als eine Spielwelt: Sei es, dass der Rahmen die Welt eines Karten-. bzw. Schachspiels bildet, sei es, dass zahlreiche weitere Spiele in der Geschichte selbst erscheinen, oder sei es, dass sich Dodgson selbst sprachspielerischer Mittel, wie vor allem des Rätsels, bedient. Das Spiel ist dabei vor allem durch unterschiedliche Regeln konstituiert, natürliche Regeln, die es für Alice zu entdecken gilt, soziale Regeln, die es gemeinsam zu konstituieren gilt, oder ad hoc eingeführte Regeln, die es zu kritisieren gilt. Insgesamt ist das Kritikmotiv der Regeln das beherrschende: Alice Suche nach verlässlichen Regeln scheitert immer wieder und die Regelsuche wird insgesamt in den Nonsens des Nichtwissens überführt. Dieses Nichtwissen ist allerdings für die Protagonistin im Verlauf der Erzählung und deren Dialoge zunehmend enttäuschend, so dass am Ende jeweils wieder ein mehr oder weniger bewusster Ausstieg aus der Spielwelt für Alice ansteht.
Im Vergleich zu den verarbeiteten Vorlagen, insbesondere den sinnorientierend-soteriologischen Märchen MacDonalds und Kings­leys, fällt deutlich auf, dass all deren Motive durch den spielerischen Umgang Carrolls/Dodgsons gebrochen sind oder verkehrt werden: Statt Sinnstiftung steht Nonsens, statt Moralisierung findet sich ein nicht-moralisierender spielerischer Umgang mit den Motiven, was gerade bei Erlösungsmotiven, Bedrohungen im Laufe der Geschichte, dem Umgang mit dem Tod, der Pilgerreise nicht in die Zukunft, sondern zurück in die Kindheit, und an der gänzlich unteleologischen, sondern letztlich einfach abgebrochenen Pilgerreise deutlich wird. Insofern könnte der Umgang Carrolls/Dodgsons mit Erlösungsmotiven am treffendsten als Parodie neuplatonisch-christlicher Erlösungs- und Pilgerwege beschrieben werden, wie es schon Robert Pattinson, Humphrey Carpenter u. a. hervorgehoben haben. Z. bleibt aber gerade bei dieser Meinung nicht stehen, sondern geht darüber hinaus: Das Grundanliegen Carrolls/Dodgsons sei nicht das einer gar religionskritischen Parodie, sondern seine Spielwelt sei die eines serio ludere, durch die der Leser gerade zur Erlösung gelange (353), so dass sich »[i]m Spiel … die Annäherung an das Göttliche« (ebd.) vollziehe. Die Grundthese, von der diese Deutung abhängig ist, besteht darin, dass Carroll/Dodgson, indem er den Gehalt der Bezugstexte gerade durch die mannigfachen Mittel des Spiels negiere, so doch deren metaphysische Grundlagen bejahe (265), so dass gerade in der »Negation aber … die Affirmation der Vorstellung« (299, vgl. auch 298. 307f. 314.316 u. ö) bestehe. Die Plausibilität dieser Interpretation setzt eine ganz bestimmte Vorstellung von Erlösung und Theologie voraus, die sich im engen Rahmen des neuplatonischen Christentums im Wesentlichen bei Nikolaus von Kues findet:
Hier wird der neuplatonische mystische Aufstieg über die Kategorien nicht nur allgemeinneuplatonisch mit dem Rückschritt zum principium des göttlichen hen gedeutet, sondern hier geht die via negativa ihren konsequent logischen Weg so zu Ende, dass sich die Affirmation in die Negation verkehrt (und umgekehrt), dass Sein und Nicht-Sein in eins fallen, mit der erkenntnistheoretischen Folge, dass gerade Unwissenheit zum vollkommenen Wissen werde. Z. geht nun da­von aus, dass Carroll/Dodgson genau diesen »Prozess des Nichtwissens und der Erkenntnis in eine Kinderwelt« transportiere (195). Diese Annahme kann als die Schlüsselthese Z.s gelesen werden, insofern ihre Hauptthese, dass durch die spielerische Negation sinnhafter Gehalte gerade Sinnhaftigkeit erzeugt werde, von dieser historischen These abhängig ist. Z. weiß dabei, dass es keine Hinweise auf eine explizite Bekanntschaft Carrolls/Dodgsons mit dem Kusaner gibt, kann aber eine Reihe impliziter Indizien für eine solche Bekanntschaft anführen (97 f.193–199).
Mag die Frage, inwieweit Z. hier das Anliegen Carrolls/Dodgsons wirklich trifft oder inwieweit es sich hierbei um ihre eigene Interpretation handelt, auch offen bzw. zukünftiger Forschung überlassen bleiben müssen, so kommt ihr doch das Verdienst zu, sowohl die Forschung der Carrollinterpretation jenseits anachronistischer psychologistischer, übermäßig religiöser oder religionskritischer Deutungen auf ein neues Niveau gehoben als auch einen wertvollen Beitrag im interdisziplinären Gespräch zwischen Theologie und Literaturwissenschaft geleistet zu haben.