Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2011

Spalte:

930-932

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Laage, Karl Ernst

Titel/Untertitel:

»Wenn ich doch glauben könnte!« Theodor Storm und die Religion.

Verlag:

Heide: Boyens Buchverlag 2010. 71 S. m. 15 Abb. 8°. Kart. EUR 9,95. ISBN 978-3-8042-1308-1.

Rezensent:

Philipp David

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Demandt, Christian: Religion und Religionskritik bei Theodor Storm. Berlin: Schmidt 2010. 273 S. gr.8° = Husumer Beiträge zur Storm-Forschung, 8. Lw. EUR 39,80. ISBN 978-3-503-12235-6.


Die Beziehung zwischen deutschsprachiger Literatur und Religion ist ergiebig, aber nicht unkompliziert. Von theologischer Seite führte sie nicht selten zu einer ideologischen Vereinahmung von literarischen Texten, die mit religiösen Zeichensystemen operieren. Für das Forschungsfeld Theologie und Literatur sind daher auch literaturwissenschaftliche Studien anregend und aufhellend, wie z. B. die zwei jüngst unabhängig voneinander entstandenen Studien über Religion bei Theodor Storm. In beiden wird deutlich, dass das Verhältnis des Schriftstellers und seines literarischen Werkes zum Christentum konfliktreich und ambivalent ist. Es changiert zwischen religionskritischem Verwerfen und religiöser Sehnsucht und legt so die komplexen Widersprüche zwischen Goethezeit und Moderne offen.
Karl Ernst Laage, der die moderne Stormforschung in den vergangenen 50 Jahren maßgeblich angeregt und geprägt hat, entfaltet seine Studie in zehn prägnanten Kapiteln, die sich entwi­cklungsgeschichtlich an Storms Lebensstationen vom Elternhaus über Schule und Universität bis hin zum fürsorgenden Vater einer Großfamilie orientieren. Er entwickelt das Bild eines mit seinem Glauben ringenden Freigeistes, dessen fundamentale Kritik an den überlieferten Dogmen und Frömmigkeitspraktiken der Kirche gerade in existentiellen Grenzsituationen (Tod seiner ersten Frau Constanze) immer wieder erschüttert wird und der sich in seinem Hang zu Spuk- und Gespenstergeschichten eine transzendente Gegenwelt zu bilden versuchte. L. kommt zum Schluss, dass Storm »trotz seines ausgeprägten Vergänglichkeitsbewusstseins und seiner schroffen Ablehnung von Kirche und Orthodoxie … ein Mensch [war], der an einen Gott der Liebe glaubte« (64 f.) und sich »dem Guten und der Verantwortung dem Nächsten gegenüber verpflichtet gefühlt« (65) hat. Gerade die herausgearbeitete Diskrepanz zwischen Ablehnung des kirchlichen Glaubens einerseits und der Lebensorientierung an der zentralen christlichen Einsicht »Gott ist Liebe« andererseits machen Storms Texte für L. noch heute aktuell.
Während es in L.s für Laien und Storm-Liebhaber geschriebenen Studie auf den »Gott der Liebe« hinausläuft, arbeitet die bei H. Detering in Göttingen entstandene Dissertationsschrift des Germanis­ten und Theologen Christian Demandt heraus, wie Storm in biographischen und literarischen Texten verzweifelt um diesen Gott der Liebe ringt, der sich dann doch immer wieder als liebloser Gott des Grauens zeigt. Diese existentielle Wunde – so D.s Hauptthese – sei die notvolle, treibende Energiequelle, aus der das poetische Schaffen Storms seine vielleicht grundlegendsten Impulse empfängt (vgl. 65 f. und vor allem 251). In dieser ersten umfangreichen Studie zu diesem Thema werden zudem konsequent die Bezüge zum zeitgeschichtlichen Denken und kulturellen Prozess offengelegt (11). Plausibel gelingt es D., die Unzulänglichkeit der Etikettierung Storms als »Atheist« und »Feuerbachianer« aufzuzeigen (19). Zwar bestätigt die Arbeit einerseits Analogien zwischen Storm und Feuerbach, zeigt aber zugleich, dass Storms Religionskritik unter anderen Bedingungen entsteht und aus einem anderen gedanklichen Wurzelboden entstammt als der Feuerbachschen Philosophie.
D. konzentriert sich auf wenige exemplarische Texte, das übrige Werk bleibt dabei durchgehend im Blick (29). Es wird ein enger Zusammenhang deutlich zwischen Leben und Werk des Schriftstellers, ohne dass die Studie Storms Werk biographistisch überblendet. Sondern es geht D. darum, »geneaologische Kontinuitäten zwischen Texten unterschiedlicher Fiktionalitätsgrade« (29) nachzuzeichnen. Der Aufbau der Arbeit ist als Drei-Schritt konzipiert (30). Der erste Schritt dient als Einführung in das Thema: Zum ersten Mal wird das Gedicht Größer werden die Menschen nicht aus dem Tiefe Schatten-Zyklus (1865) eingehend interpretiert als Glaubensbekenntnis eines Angefochtenen und eines um seine verstorbene Frau Trauernden (31–74). Mit diesem Kapitel zusammen be­reiten das zweite über den Gedichtentwurf An deines Kreuzes Stamm o Jesu Christ, den D. als Kontrafaktur der Soteriologie interpretiert (75–90), und das dritte Kapitel über das Liebesevangelium der Brautbriefe (91–126) das zentrale vierte Kapitel vor, da sie die Verstehensbedingungen schaffen für Storms wichtigste novellistische Auseinandersetzung mit Religionskritik und Religion: Unter dem Titel »Freigeister im Märchenreich der Liebe« wird die Novelle Im Schloß ausgelegt (127–169). Der dritte Schritt umfasst die Kapitel über die Novellen Waldwinkel (171–183) und Der Schimmelreiter (185–248). Storms letzte und bedeutends­te Novelle über den Aufstieg und Untergang des Deichgrafen Hauke Haien wird von D. eindrucksvoll als eine von theologischen Denkmustern durchwobene fünfaktige Tragödie aus dem Geiste der Musik interpretiert (185–193), die »sich in dieser Perspektive als ein einziges langes Gedicht von überwältigender sprachlicher Schönheit« (187) erweist.
Eine Zusammenfassung (249–251) und ein Literaturverzeichnis (255–271) beschließen das Buch, in dem D. vor allem aufzeigt, dass Storm nie ein im christlichen Sinne Glaubender war, der in eine Glaubenskrise stürzt und fortan nicht mehr glauben kann. Vielmehr geht es bei Storm um die seltsame Ambivalenz von einer ideal-romantisierten kindlichen Glaubensgeborgenheit mit christlichem Figurenarsenal und zugleich positiv emanzipierter wie apokalyptisch-abgründiger Erwachsenenwelt. Demnach setzt Storm auch Religion und nicht einfach Aufklärung an die Stelle von Religion (102), wenn er über den Verlust des jenseitigen Trostes und die Einsamkeit angesichts der Erfahrung des Todes der eigenen Frau schreibt, die ihn in ein religiöses Dilemma stürzt (75). Denn die Liebe zwischen Mann und Frau nimmt für Storm die soteriologische »Strukturposition« (77) ein, die im Christentum Jesus als dem Christus zukommt (»Komm geliebtes Weib/Wir müssen unser eigner Heiland sein«, 91). In dieser Liebe erfährt der Mensch Geborgenheit und Ganzheit und wird wie im platonischen Mythos durch sie allererst wirklich zum Menschen (77). Darin werden bereits die Grenzen von Storms Liebesreligion deutlich: Entsteht nicht die Liebe zwischen zwei autonomen Menschen, die einander eigenständig begegnen? Den anderen zum eigenen Überleben zu brauchen, kann nur in gegenseitige Abhängigkeit oder in eben dieses Dilemma des Schriftstellers führen.
D. zeigt nicht nur auf, dass Storm in Leben und Werk die Frage nach Gott nie wirklich losgelassen hat (21), sondern bietet auch ein Lesevergnügen, das die Augen öffnet für viele neue Entdeckungen in seinem Werk, zu dessen Lektüre beide Studien jeweils ermutigen und das nach Storms poetologischem Konzept den Leser zwischen Erschütterung und Rührung »in einer herben Nachdenklichkeit über die Dinge des Lebens« (24) zurücklassen will.