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Ausgabe:

September/2011

Spalte:

928-930

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Kurzke, Hermann

Titel/Untertitel:

Kirchenlied und Kultur. Red.: Ch. Schäfer.

Verlag:

Tübingen: Francke 2010. 261 S. gr.8° = Mainzer Hymnologische Studien, 24. Kart. EUR 58,00. ISBN 978-3-7720-8378-5.

Rezensent:

Peter Bubmann

Die Hymnologie ist als Wissenschaft im evangelischen Kontext in keinem sehr rühmlichen Zustand. Wenige Emeriti und (überwiegend bereits) pensionierte Liebhaber halten sie mühsam am Leben. In der universitären Praktischen Theologie ist sie derzeit (fast) verwaist. Oder wie es der zu besprechende Autor formuliert: »Die Hymnologie war einmal eine angesehene Wissenschaft.« (259) Sie könnte es auch heute sein – so Hermann Kurzke –, wäre den Impulsen zu einem stärker interdisziplinär-kulturwissenschaftlichen Verständnis der Hymnologie, um das sich K. in seinem akademischen Wirken stets bemühte, nachhaltigerer Erfolg beschieden gewesen. Vielleicht ist sein Rückblick auf eine lang währende Forschungs- und Publikationstätigkeit auf dem Felde der Hymnologie etwas zu melancholisch geraten – und allzu bescheiden angesichts einer ansehnlichen Reihe von Publikationen aus dem Kontext des Mainzer Graduiertenkollegs in den »Mainzer Hymnologischen Studien«, das primär im germanistischen und katholisch-theologischen Umfeld angesiedelt ist. Aber K. will gar nicht primär Trübsal blasen, sondern Zukunftsperspektiven eröffnen, indem er es unternimmt, »das hymnologische Pferd einmal in einigen Gangarten vorzureiten« (259). Das lässt aufmerken, wenn ein ausgewiesener emeritierter Germanist und Intellektueller – bekannt vor allem durch seine Veröffentlichungen über Thomas Mann – dem Kirchenlied solche Ehre angedeihen lässt. Und es muss interessieren, wenn K. (dem in der Studie mehrfach zitierten Jürgen Habermas nicht unähnlich) auch sehr persönlich die Möglichkeit und die Bedeutung des Glaubens in der Postmoderne erörtert – verbunden mit einem gewissen Phantomschmerz des verlorenen und vermissten Glaubens. Anders als Habermas geht es K. dabei nicht primär um die ethisch-moralischen Gehalte der Religionen, sondern um deren ästhetische Gestalt, die mit den religiösen Gehalten un­trennbar verwoben sei.
Durch die gesammelten Beiträge des Bandes zieht sich immer wieder, was im ersten Kapitel auch ausdrücklich formuliert wird: K. plädiert dafür, die mythischen und ästhetischen Bestände des Christentums nicht als akzidentiell und überholt zurückzulassen, sondern zum Ausgangspunkt zu nehmen einer neuen, nun mehr die ästhetischen Inszenierungen ins Zentrum stellenden Form von kulturchristlicher Annäherung ans Christentum. Die Beschäftigung mit dem Liedgut der Kirche steht stellvertretend für diese ästhetische Ingebrauchnahme von Religion. Man kann kritisch (insbesondere als protestantischer Theologie) zurückfragen, ob K.s dazu benutzter Leitbegriff der »Remythisierung« wirklich hilfreich ist, um dieses Projekt einer ästhetisch sensiblen Form des »Kulturchristentums« (19) zu tragen. Die umfangreiche neuere Diskussion zur ästhetischen Theologie hat K. kaum rezipiert. Die aus seiner katholischen Herkunftswelt stammenden Beispiele (vom Weihwasser bis zum Blasiussegen) zeigen jedoch, worauf es ihm an­kommt: Die symbolischen und rituellen Formen lebensweltlichen Christentums sollten nicht als vormoderne Restbestände des Christentums ausgeschieden werden, sondern seien für den christlichen Glauben konstitutiv. Allerdings sei substantieller Glaube (den er offenbar als durch Sozialisation erworbene, dauerhafte, vorbewusste Auslieferung an die symbolischen religiösen Kommunikationsformen versteht) in einer nachaufklärerischen Gesellschaft kaum mehr denkbar. Heute bleibe daher nur das »Imitieren des überlieferten Glaubens, Inszenieren, Imaginieren, Zitieren, Spielen« (17), kurz, die Re-Kultivierung der Mythen. Ebendies empfiehlt er auch der katholischen Kirche als Weg aus der Glaubenskrise.
In mehreren Beiträgen des Bandes weist K. mit dem historisch geschulten Blick des Hymnologen nach, wie es in der Gesangbuchgeschichte immer wieder zu Verlusten und Restaurationen kam, zur Wiedergewinnung bereits vergessener Lieder, die dann nach einiger Zeit wieder als selbstverständliches Traditionserbe galten. Im kritischen Dialog mit der Psychoanalyse S. Freuds und C. G. Jungs arbeitet K. heraus, dass solche alten Lieder eine Vielzahl von Rollenmustern anbieten und die menschliche »unaufhebbare Unmündigkeit« (25) kultiviert zum Ausdruck bringen können. Damit aber stiften Kirchenlieder (gerade auch in ihrer Melodie und im Klang, dem K. zwar nicht den Schwerpunkt seiner Erör­terungen, aber doch einige treffliche Hinweise widmet) Verbindungen zu den Tiefenschichten und damit auch zu den Schatten der Psyche. Im Singen werden etwa Gefühle ozeanischen Eingebundenseins, des Verbundenseins mit einer überirdischen Ganzheit geweckt. Hier könne sich positive Regression ereignen, die erst die Kraft zur gesellschaftlichen Progression bereitstelle. Als Mittel gegen eine überdrehte und damit überfordernde ständige Progression in unserer Leistungsgesellschaft seien regressive Kirchenlieder daher »ein wirksames Antidepressivum« (31). Heute – endlich gelöst aus neurotisierenden kirchlichen Sozialisationsprozessen – hätten Kirchenlieder die Chance, ihre heilsame Wirkung als kultivierte Symbolisierung des sonst nicht Thematisierbaren zu leisten. Eine zukünftige Hymnologie hätte daher herauszuarbeiten, dass gerade das spätmoderne flexible Subjekt der Kirchenlieder bedürfe.
Neben derartigen fundamental-hymnologischen Überlegungen, die in den ersten Kapiteln dominieren, interessiert sich K. in den weiteren Beiträgen vor allem für die Veränderungs- und Rezeptionsgeschichten einzelner Lieder in der Geschichte der Gesangbücher. Beiläufig lässt er dabei sein profundes Wissen über die Gesangbuchgeschichte und damit die Früchte der Beschäftigung mit der Gesangbuchsammlung in Mainz einfließen. Er zeigt etwa, wie allzu erotisch wirkende Textstellen eliminiert wurden (im Lied »Ich will dich lieben, meine Stärke«), aber auch, wie ein ursprünglich demokratisch-progressiv auf die Einigung Deutschland zielendes utopisches Lied als Nationalhymne der Deutschen völkisch missverständlich wurde. Eine erhellende Miniatur des Frömmigkeitsmilieus des Militärs bietet seine Analyse einiger Feldgesangbücher. Selbst in Skurrilem entdeckt K. noch exemplarische Vollzüge der Veränderungsprozesse im Liedgebrauch (etwa mit einem Bericht über das Auftauchen der neu eingeführten Po­-ckenschutzimpfung in einer Liedstrophe, woran sich der in sich wenig konsistente Vorgang aufklärerischer Kirchenliedbearbeitungen aufzeigen lässt).
Das Buch ist, was die ausgewählten Lieder betrifft, die in einem Liedregister erfasst sind, gut ökumenisch ausgerichtet, das Evangelische Gesangbuch ist eigens bedacht. Auch Hinweise zur anstehenden Neubearbeitung des Gotteslobs wurden aufgenommen. Allerdings ist der ganze Bereich des neuen geistlichen Liedes (seit 1960) ausgespart. Hier fände sich ein weiterer riesiger Fundus an Quellen, dem sich eine kulturwissenschaftlich orientierte Hymnologie ebenfalls zuwenden müsste. Wer immer in den nächsten Jahrzehnten an der Weiterentwicklung und Rettung der Hymnologie sich beteiligen will – er oder sie ist in jedem Fall gut beraten, K.s Überlegungen zu »Kirchenlied und Kultur« aufzugreifen und in Anknüpfung oder Widerspruch weiter zu schreiben.