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Ausgabe:

September/2011

Spalte:

926-928

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Bayreuther, Rainer

Titel/Untertitel:

Was ist religiöse Musik?

Verlag:

Badenweiler: Wissenschaftlicher Verlag Bachmann 2010. 304 S. 8°. Geb. EUR 32,90. ISBN 978-3-940523-09-9.

Rezensent:

Stefan Berg

»Der Begriff ›religiöse Musik‹ ist unüblich« (33), gibt der Musikwissenschaftler Rainer Bayreuther freimütig zu, und dennoch fragt er im Titel seines Buches, was ›religiöse Musik‹ sei. Um einen solchen Zugang zum komplexen Problemfeld ›Musik und Religion‹ zu rechtfertigen, müsste sich zeigen, dass sich mit ihm neue Perspektiven eröffnen.
Darauf hat es B. ohne Zweifel abgesehen. Wie er dabei vorgeht, lässt sich aber nur bedingt an den Überschriften der fünf Teile ablesen: »I. Musik als Gegenstand religiöser Erfahrung«, »II. Musik als Ausdruck religiösen Fühlens«, »III. Strittigkeit der Religiosität von Musik in der Geschichte«, »IV. Religiöse Erfahrung von Musik« und »V. Religiöse Musik«. Es ist eher ein durchlaufender, immer wieder vor- und zurückgreifender Gedankengang, der in 50 durchnummerierten Kapiteln vorgetragen wird.
›Religiöse Musik‹ dient B. als unbelasteter Begriff, der es ihm ermöglicht, sich von Konzepten der Kirchenmusik oder der kirchlichen bzw. geistlichen Musik abzusetzen. Von ›religiöser Musik‹ sei dort zu sprechen, wo mit Musik faktisch »eine religiöse Erfahrung verbunden ist« (28), d. h. ausschließlich dort, wo ex post konstatiert werden kann, dass sich tatsächlich eine religiöse Erfahrung eingestellt hat, keinesfalls aber dort, wo sie bloß ex ante erhofft oder gar erzwungen werden soll. Daraus folgt: »Es sind nur Einzelfallbeschreibungen religiöser Erfahrung mit Musik möglich« (23). B., der auch an der Hochschule für evangelische Kirchenmusik Bayreuth unterrichtet, ist sich der praktischen Konsequenzen dieser These bewusst. Eine religiöse Erfahrung lasse sich durch nichts erzeugen – weder etwa durch eine gattungsspezifische Faktur noch durch einen situativen Kontext, weder durch eine milieuorientierte Ausrichtung noch durch einen gezielt-funktionalen Gebrauch (Kapitel 9–20). Auf diese Weise destruiert B. nicht nur den Kernbestand kirchenmusikalischer Legitimationsstrategien, sondern distanziert sich auch von all jenen Floskeln, die die Musik etwa ob ihrer ›religiösen Dimension‹ loben (vgl. Kapitel 4). B. hat sich in vielerlei Hinsicht mit bewundernswerter Konsequenz in den Augiasstall des Un- und Halbreflektierten hineingewagt, als der sich der Diskursraum um die Begriffe ›Musik‹ und ›Religion‹ präsentiert. Doch dient dies nicht bestenfalls als ein Korrektiv – analog zur Mahnung der Dialektischen Theologie, dass sich Gott nicht durch kulturelle Techniken zwingen lasse?
B. begründet seine Überlegungen konstruktiv mit einem Entwurf, der das Verhältnis von Musik und Religion als Verhältnis von musikalischer und religiöser Erfahrung bestimmt. Dabei stößt man schnell auf das Problem, dass Ästhetisches und Religiöses immer nur als zwei bereits miteinander vermittelte Größen behandelt werden. Dies ergibt sich nicht allein aus der ungünstigen Disposition, die die musikalische Erfahrung ganz von der Frage nach der Möglichkeit einer religiösen Erfahrung her entfaltet, sondern auch aus der unzureichenden Trennung von musikwissenschaftlicher und theologischer Perspektive. B. geht davon aus, dass es im Prinzip möglich ist, mit jeder Musik eine religiöse Erfahrung zu machen, und er schließt daraus, dass es in jeder musikalischen Erfahrung einen prädestinierten Anschlusspunkt für eine religiöse Erfahrung geben müsse. Diesen möchte er suchen – und zwar als Musikwissenschaftler: »Ich versuche, die Analyse der religiösen Erfahrung von Musik bis an die Stelle zu führen, über die hinaus musikwissenschaftlich nichts mehr zu sagen ist. Bis dahin kann und soll ein Musikwissenschaftler etwas sagen« (23). Die Begründung für diesen Anspruch ist nicht überzeugend: B. sieht die Mu­sikwissenschaft für die diesseitigen Erfahrungsdinge, die Theo­logie allein für die jenseitigen zuständig (z. B. Kapitel 1 und 50), folgt damit letztlich einer dichotomen Immanenz/Transzendenz-Metaphysik, glaubt, die Zuständigkeitsbereiche so hinreichend auseinandergehalten zu haben, und übersieht, dass er in der Folge über weite Strecken uneingestandenerweise Theologie betreibt. Es ist nicht hinreichend, die zwei Perspektiven bloß zu markieren, indem der Musikwissenschaftler ›Gott‹ in Anführungszeichen setzt, d. h. »als Platzhalter für eine religiöse Bedeutung des Erfahrungsgegenstands« (290, vgl. 17 ff.) verwendet, der Theologe aber auf die Anführungszeichen verzichten kann.
Doch wie steht es nun um den gesuchten Anschlusspunkt für die religiöse Erfahrung? B. skizziert – insbesondere in den Teilen IV. und V. – eine Musikästhetik, die auf Überlegungen vor allem Heideggers, aber auch solchen Freges, Gadamers und Deweys basiert. Im Zentrum steht der Gedanke, dass der Hörer so in das Ereignis des Werks hineingenommen werde, dass Rezipientensubjekt und Werksubjekt zur Gänze miteinander verschmelzen. Der Weg zu solcher Versammlung im Werk werde von diesem selbst gebahnt, fordere vom Hörer nicht mehr als eine Entschließung zur Hingabe und ereigne sich als Eröffnung der dem Werk eigenen Wahrheit. Auch wenn offen bleibt, wie sich dies zu B.s Erfahrungsverständnis und in den Horizont einer Diesseits/Jenseits-Metaphysik fügen soll, so erlaubt dieser Entwurf doch, Momente des ästhetisch Außerordentlichen überzeugend zu beschreiben; an alltäglicheren Phänomenen ist er hingegen dezidiert nicht interessiert. Den gesuchten Anschlusspunkt für die Religion findet B. nun genau dort, wo sich mit der Versammlung im Werk eine Unmittelbarkeitserfahrung ereigne. Er markiert damit in der ästhetischen Erfahrung eine Struktur, die der religiösen Erfahrung weitgehend gleiche, ohne jedoch mit ihr identisch zu sein (vgl. Kapitel 34, 36, 46 und 48). B. ist merklich um die Aufrechterhaltung dieser Differenz bemüht, doch haben Anlage und Dynamik der Argumentation die Tendenz, sie zu unterminieren. »Nun zeigt sich«, schreibt B. gegen Ende, »dass musikalische Erfahrung überhaupt ein Platz-Halter für eine religiöse Erfahrung ist« (290), und geht davon aus, so den Ort einer möglichen Gotteserfahrung in der Musikerfahrung ästhe­tisch lokalisiert zu haben.
Das ist eine starke theologische These, und bezeichnenderweise bleibt offen, warum eine ästhetisch überwältigende Unmittelbarkeitserfahrung eigentlich eine latente religiöse Qualität besitzen sollte. B. setzt implizit ein theologisches Konzept voraus, das ich grob mit Hinweis auf die unio mystica, das aufklärerische Erhabene und die ›Momente des Numinosen‹ Rudolf Ottos umreißen würde. Die beiden einzig näher besprochenen musikalischen Beispiele (Kapitel 37 und 40) – die unheimliche Szene mit dem steinernen Gast aus Mozarts Don Giovanni und die von brautmystischen Anklängen durchsetzte Bachkantate BWV 162 – würden dies jedenfalls unterstützen.
Aufs Ganze gesehen mag die Untersuchung mit ihrer Frage nach ›religiöser Musik‹ die eine oder andere neue Perspektive eröffnen – vor allem dort, wo sie sich historisch und ästhetisch auf dem genuinen Feld der Musikwissenschaft bewegt. Wo sie jedoch in philosophische und theologische Bereiche vorstößt, geraten Perspektiven methodisch durcheinander, die hätten getrennt werden müssen.