Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2011

Spalte:

924-926

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Quantin, Jean-Louis

Titel/Untertitel:

The Church of England and Christian Antiquity. The Construction of a Confessional Identity in the 17th Century.

Verlag:

Oxford-New York: Oxford University Press 2009. XII, 511 S. 8° = Oxford-Warburg Studies. Lw. £ 98,00. ISBN 978-0-19-955786-8.

Rezensent:

Hanns Engelhardt

»To write a book on a foreign country is something of an adventure«. Diesem Bekenntnis des französischen Verfassers eines Buches über englische Theologiegeschichte kann der Rezensent sich in Analogie nur anschließen. Jean-Louis Quantin, directeur d’études in der Sektion Sciences historiques et philologiques der École Pratique des Hautes Études in Paris, hat die sich aus der aufgezeigten Problematik ergebenden Probleme ersichtlich mit Bravour bewältigt. Freilich standen ihm während eines zweijährigen Studienaufenthalts in Oxford die dortigen Bibliotheken zur extensiven Benutzung zur Verfügung, und sie schneiden bei dem von ihm angestellten Vergleich mit Frankreich sehr gut ab. Für den Rezensenten, dem vergleichbare Mittel nicht zur Verfügung stehen, kann es daher nicht darum gehen, die Darstellung des Vf.s in ihren Ein- zelheiten zu überprüfen; er muss sich darauf beschränken, den Inhalt des Buches zu umreißen und den Gesamteindruck der Forschungsergebnisse des Vf.s und ihrer Darstellung wiederzugeben.
Es ist unbestreitbar, dass der Alten Kirche und besonders den Kirchenvätern in der anglikanischen Tradition ein großes Gewicht zuerkannt wird. Dabei entsteht leicht der Eindruck, dies sei von Anfang an, also von der englischen Reformation des 16. Jh.s an, so gewesen. Der Vf. untersucht, ob dieser Eindruck der Realität entspricht.
Ausgangspunkt seiner Untersuchung ist eine Erörterung der englischen Reformation und der protestantischen Auffassung von der Alten Kirche. Ihr schließt sich ein Kapitel über die Berufung auf die Alte Kirche in den Streitigkeiten der Regierungszeit James I. (1603–1625) an. Sodann erörtert der Vf. die Einstellung verschiedener Richtungen innerhalb der Kirche von England, der Arminianer und der Laudianer, der theologischen Anhänger des Erzbischofs William Laud (1573 [Eb. 1633]–1645), zu den Kirchenvätern; sie betrifft im Wesentlichen die Regierungszeit von James’ Nachfolger Charles I. (1625–1649). Darauf folgt wiederum, wie der Regierung dieses Königs, die Zeit Cromwells und des Commonwealth.
Einen neuen Abschnitt bildet die auf die Wiederherstellung der Monarchie (1660) folgende Restaurationszeit. Den Abschluss der Reise durch die Theologie von anderthalb Jahrhunderten bildet eine ausführliche Darstellung der Auffassungen Herbert Thorndikes (1598–1672) und des Nonjurors Henry Dodwell (1641–1711).
Bei der Nachzeichnung der theologischen Entwicklung in diesen Abschnitten geht der Vf. davon aus, dass die englische Kirche der elisabethanischen Zeit, der zweiten Hälfte des 16. Jh.s, eine wesentlich reformierte Theologie hatte (vgl. 88). Trotzdem haben ihre Theologen sich, vor allem in der Auseinandersetzung mit Rom, gern auf die Kirchenväter berufen. Dies geschah dem Vf. zufolge aber lediglich in defensiver Absicht und unterscheidet diese Theologen nicht grundsätzlich von ihren kontinentaleuropäischen Kollegen. Eine positive grundlegende Bedeutung wurde den Kirchenvätern nach Ansicht des Vf.s zu dieser Zeit nicht beigemessen. Inwieweit dies mit der Feststellung vereinbar ist, dass etwa Thomas Cranmer die Vätertradition als entscheidendes Argument in der Frage der Realpräsenz ansah, den Schweizer Reformatoren 1537 »infringing the authority of the ancient doctors and first writers of the Christian Church« vorwarf, und sich schließlich unter dem Einfluss von Nicholas Ridley, dessen Argumentation die »authority of doctors« einschloss, zur reformierten Abendmahlslehre bekehrte (25), bedürfte eingehenderer Untersuchung.
Der Vf. stellt fest, dass die Bedeutung, die den Kirchenvätern beigemessen wird, sich im Lauf der von ihm untersuchten Zeit, also der Zeit von der Mitte des 16. bis zum Ende des 17. Jh.s, entwickelt habe. Im Lauf des 17. Jh.s hätten die Kirchenväter und die Berufung auf sie eine identitätsstiftende Bedeutung gewonnen. Als erste Vertreter dieser Auffassung macht der Vf. den aus dem französischen Protestantismus kommenden Isaac Casaubon (1559–1614) und Marcantonio De Dominis (1560–1624), einen früheren Erzbischof von Spalato (Split), aus. Bei beiden spielte der Wunsch eine Rolle, eine kirchliche Identität zwischen Rom und dem kontinentalen Protestantismus zu finden. Sie übten einen beträchtlichen Einfluss auf die anglikanische Theologie der frühen Stuartzeit aus. Trotzdem war die anfängliche Einstellung der Reformationszeit nicht völlig verschwunden: Hier weist der Vf. vor allem auf den Great Tew-Kreis hin, eine Gruppe von Oxforder Theologen, die sich auf dem so benannten Landsitz Lord Falklands (1609/10–1643) versammelten, um theologische Fragen in einem »undogmatischen« Geist zu untersuchen, sowie auf den französischen Calvinisten Jean Daillé, dessen Traicté de l’employ des Saincts Peres (1632, englisch 1651) gerade in England großen Einfluss auf die theologische Diskussion ausübte.
Diese Diskussion führte in den letzten Jahren des Interregnums vor der Wiederherstellung der Monarchie zu einer so starken Betonung und Ausdehnung des Schriftprinzips in den Kreisen der Presbyterianer und Independentisten, dass sich der wiederhergestellten Kirche der Restaurationszeit die erneute Zuwendung zu den Kirchenvätern als Argumentationsgrundlage für ihre wiederhergestellte Ordnung und damit auch als Identitätsmerkmal ihrer Existenz zwischen Puritanismus und Rom geradezu aufdrängte.
Der Vf. beschreibt diese theologische Entwicklung, ohne sie explizit zu bewerten. Freilich weist er auf die Widersprüche zwischen einzelnen Kirchenvätern hin. Sie sind unbestreitbar; aber darin unterscheiden die Kirchenväter sich nicht von den Verfassern der kanonischen Bücher des Neuen und Alten Testaments. Implizit legt die Darstellungsweise des Vf.s eine bestimmte Deutung nahe. Der Rezensent kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Vf. die Kirche von England als eine ursprünglich protestantische Kirche ansieht, die vom rechten Weg der Reformation abgekommen ist. Darauf deutet nicht zuletzt hin, dass der Vf. als Endpunkt und Ergebnis der von ihm beschriebenen Entwicklung mit Henry Dodwell einen Theologen ausmacht, dessen Auffassungen allzu leicht angreifbar sind. Man kann die Geschichte so sehen; und der Vf. wird ohne Mühe auch Anglikaner finden, die ihm darin zustimmen – bis hin zu den Gründern der amerikanischen Reformierten Episkopalkirche, die sich im späten 19. Jh. von der (anglikanischen) Episkopalkirche abgespalten hat, weil diese ihr im Lauf jenes Jh.s zu »katholisch« geworden war. Man kann die Geschichte aber auch anders sehen, nämlich in dem Sinne, dass die Kirche von England in den formativen Jahrhunderten ihrer Geschichte, und damit zuvörderst in dem vom Vf. beschriebenen Zeitraum, und in der Abwehr nacheinander gegen sie vorgetragener Angriffe von Rom und dann von Genf den ihr gemäßen Ort erst gefunden hat. Der Rezensent will nicht verhehlen, dass er dieser letzteren Sicht eher zuneigt.
Dass der hohe Wert der wissenschaftlichen Leistung des Vf.s von diesem (möglichen) Dissens völlig unberührt bleibt, versteht sich von selbst. Jede ernsthafte Beschäftigung mit dem von ihm bearbeiteten Thema wird seine Forschungsergebnisse zur Kenntnis nehmen und sich mit ihrer Bewertung durch ihn auseinandersetzen müssen.