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Ausgabe:

September/2011

Spalte:

919-921

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Lubac, Henri de

Titel/Untertitel:

Corpus mysticum – L’Eucharistie et l’Église au Moyen Âge. Étude historique. Sous la direction d’É. de Moulins-Beaufort.

Verlag:

Paris: Cerf 2010. XLVII, 592 S. 8° = Œuvres complètes, XV. Kart. EUR 45,00. ISBN 978-2-204-09134-3.

Rezensent:

Kristin Skottki

Eine Rezension zu einem Werk von Henri de Lubac (1896–1991) zu verfassen, heißt, in den Kosmos eines der größten katholischen Theologen des 20. Jh.s einzutauchen, dessen zahlreiche Schriften sich zwar häufig der mittelalterlichen Theologiegeschichte widmen, jedoch durch ihre theologische Tiefe Dimensionen des Denkens für das 20. Jh. eröffnen und so zahlreiche junge Theologen beeinflusst haben, unter ihnen etwa Karl Rahner und Hans Urs von Balthasar. Von Balthasar war es auch, der einige bedeutende Schriften de L.s auf Deutsch veröffentlichte, unter ihnen etwa die vorliegende Studie zum »Corpus mysticum« (»Kirche und Eucharistie im Mittelalter. Eine historische Studie«, Johannes Verlag 1969).
Der deutschsprachige Leser mag sich fragen, warum er sich die Mühe machen sollte, dieses Werk auf Französisch zu lesen. Man muss an dieser Stelle gar nicht auf die allgemeinen Probleme von Übersetzungen verweisen, die stets Entscheidungen für eine Bedeutung des Geschriebenen verlangen. Entscheidender als das Sprachkriterium ist die Edition, in der de L.s Schrift veröffentlicht wurde: Sie bietet dem Leser mehr als nur eine Neuauflage dieser erstmals im Jahre 1944 erschienenen Studie.
Das französische Verlagshaus »Les Éditions du Cerf« begann 1998 mit der Herausgabe der gesammelten Werke de L.s und dazugehöriger Studien zum Leben und Wirken des Kardinals (»Œuvres du Cardinal Henri de Lubac et Études Lubaciennes«). Von den auf 50 Bände angelegten »Œuvres Complètes« sind bislang 19 Bände erschienen, dazu acht Studien. Im 15. Band der gesammelten Werke findet sich nun »Corpus mysticum« nach der zweiten Auflage von 1949, dazu eine Einleitung von Éric de Moulins-Beaufort sowie sechs weitere Texte aus dem Umfeld der Studie. Anliegen der Reihe ist es, die Schriften von de L. bestmöglich nutzbar zu machen, weshalb sämtliche lateinischen und griechischen Zitate und Begriffe ins Französische übersetzt und in einem Appendix beigegeben wurden. Des Weiteren wurde die Studie erstmals durch ein Namenverzeichnis erschlossen.
Die sechs beigegebenen Texte sollen die Bedeutung, die de L. den ekklesiologischen und sakramentalen Implikationen des »Corpus mysticum« beimaß, weiter erhellen. In verschiedenen Formen und für unterschiedliche Anlässe legt de L. hier im Grunde die Leitgedanken von »Corpus mysticum« dar: Die christliche Gemeinschaft stiftende Lehre und Spiritualität wird durch das Mysterium der Messe und das Mysterium der Kirche, die im Mysterium Christi zusammenfließen und in ihm ihren Wesensgrund haben, bereitgestellt. De L. versucht, anhand seiner mittelalterlichen Zeugen zu beweisen, dass die eucharistische Gemeinschaft und die Kirche untrennbar sind, da die Kommunion im wahrsten Sinne des Wortes die Gläubigen, also die Kirche, als Leib Christi konstituiert. Während das Hauptwerk vornehmlich eine Untersuchung zum mittelalterlichen Sprachgebrauch darstellt, werden in diesen meist sehr kurzen Texten vor allem die aktuellen Dimensionen seiner Untersuchung deutlich.
Der erste Text von 1940 wurde in den Unterlagen des Kardinals gefunden und ist hier erstmals veröffentlicht. Es handelt sich dabei um einen Aufruf, die Ostervigil wieder in einem angemessenen liturgischen Rahmen zu feiern. Der zweite Text ist ein Aufsatz von 1942 über die soziale Dimension der Messe. Der dritte, der erstmals 1942 in einem Sammelband erschien, handelt von der christlichen Gemeinschaft und der sakramentalen Kommunion. Der vierte Text ist eine kurze Einleitung zur Bedeutung der Messe von 1946. Die Jahreszahlen lassen erkennen, dass de L.s Studien ihm nicht nur die Möglichkeit eines willkommenen Rückzugs aus den Wirren des Krieges boten (wie er selbst in seinen Memoiren anmerkte, siehe »Mémoire sur l’occasion de mes écrits«, Cerf 2006, 27). Durch die Betonung der Gemeinschaft der Christen konnte er darüber hinaus Vereinnahmungen von außen theologisch begründet zurückweisen (vgl. dazu auch sein Werk gegen den Nationalsozialismus, »Résistance chrétienne au nazisme«, Cerf 2006). Der fünfte Text ist die französische Übersetzung der Einleitung zu der von Hans Urs von Balthasar besorgten deutschen Ausgabe des »Corpus mysticum« aus dem Jahre 1969, in der de L. vornehmlich auf die liturgischen Reformen durch das Vatikanum II eingeht. Der letzte Text von 1971 über das unerschöpfliche Mysterium der Eucharistie ist eine Besprechung des Buches »L’Eucharistie, présence du Christ« von François-Xavier Durrwell.
De L.s »Corpus mysticum« wurde schon von seinen Zeitgenossen zumeist wohlwollend, aber auch kritisch besprochen und rezipiert, wie de Moulins-Beaufort in der Einleitung darlegt. Auch die zahlreichen jüngeren Auseinandersetzungen mit seinen Werken und natürlich das neue Editionswerk von Cerf weisen auf die Aktualität dieses Œuvres hin. Als junge, evangelische Kirchenhistorikerin fällt es mir dabei schwer, die Bedeutung seiner Studie für die aktuelle katholische Theologie zu erhellen. Für die ökumenische Diskussion über die Möglichkeiten einer gemeinsamen Abendmahlsfeier von Protestanten und Katholiken scheint mir dieses Werk aber wenig hilfreich, betont de L. doch die Einheit der katholischen Kirche, die durch das Mysterium der Eucharistie gestiftet wird. Eine entsprechende Formulierung findet sich auch im Dekret »Unitatis Redintegratio« aus der Zeit des II. Vatikanischen Konzils, demnach die Protestanten die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt haben (siehe AAS 57 [1965] 90–112, c. 22).
De L. hat dieses Werk selbst als historische Studie bezeichnet: Deshalb erscheint es an dieser Stelle gewinnbringender, seine historiographische Herangehensweise zu beurteilen. Ausgangspunkt seiner Untersuchung ist die Auseinandersetzung um Liturgiereformen zwischen Amalarius von Metz und Florus von Lyon in der ersten Hälfte des 9. Jh.s. Sie veranlasste de L. zu einer Untersuchung über die Vorstellungen vom Leib Christi in der mittelalterlichen Theologie bis zur Zeit des Thomas von Aquin. Obwohl seine Studie vor benutztem Quellenmaterial geradezu überströmt, findet die Auswertung nicht unbedingt nach historisch-kritischen Gesichtspunkten statt. Vielmehr scheint es de L. darum gegangen zu sein, den Leser an seiner Begeisterung für die Vielfalt und Komplexität der theologischen Auseinandersetzungen im frühen Mittelalter teilhaben zu lassen. Dabei ist sein Anliegen ganz klar theologisch ausgerichtet: Aus der Vielfalt soll schlussendlich die Einheit der kirchlichen Tradition bewiesen werden. Dies schließt jedoch ein dekadenzgeschichtliches Modell nicht aus, denn in seinem letzten Kapitel (»Vom Symbol zur Dialektik«) zeichnet er die, seiner Einschätzung zufolge fatale, Entwicklung der abendländischen Theologie seit der Hochscholastik nach, die eine Trennung von Glauben und Vernunft, von Symbol und Realität und schließlich eine Zerstückelung des Mysteriums mit sich gebracht habe. Im Verlust des Verständnisses für die symbolhafte Sprache des frühen Mittelalters sieht de L. den Grund dafür, dass die Sakramentenlehre und die Ekklesiologie sich voneinander entfernten und so die Fülle der Vorstellung vom mystischen Leib verloren ging. Die erneute Verbindung dieser Vorstellungen und die Betonung der katholischen Kirche als eucharistische Gemeinschaft seit dem II. Vatikanischen Konzil ist auch auf de L.s einflussreiches Wirken zurückzuführen: Er war selbst maßgeblich am Konzil beteiligt.
Bilanzierend ist festzuhalten, dass die Lektüre dieses Werkes sehr wohl lohnt: Nicht nur für diejenigen, die es als Zeitzeugnis für den Katholizismus der ersten Hälfte des 20. Jh.s lesen, sondern insbesondere auch für jene, die sich wie Kardinal Henri de L. für die faszinierende Reichhaltigkeit der theologischen Sprache des lateinischen Mittelalters begeistern und auf diese Weise das oft so fern und fremd scheinende Frühmittelalter für sich neu entdecken können.