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Ausgabe:

September/2011

Spalte:

918-919

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Wengert, Timothy J.

Titel/Untertitel:

Philip Melanchthon, Speaker of the Reformation. Wittenberg’s Other Reformer.

Verlag:

Farnham-Burlington: Ashgate 2010. XVI, 306 S. m. 1 Abb. gr.8° = Variorum Collected Studies Series, CS963. Lw. £ 80,00. ISBN 978-1-4094-0662-4.

Rezensent:

Markus Wriedt

Der international sehr bekannte Reformationshistoriker und in Philadelphia lehrende Melanchthonpreisträger Timothy Wengert hat neben etlichen monographischen Werken auch eine große Zahl von Aufsätzen in weit verstreut erschienenen Periodika und Sammelwerken veröffentlicht. Die Variorum Collected Studies Series des britischen Ashgate-Verlages hat es sich zur Aufgabe gemacht, das nicht monographische Œuvre bekannter Autoren in Sammelbänden zu vereinigen und so leichter zugänglich zu machen. Dabei verzichtet die Wiedergabe gänzlich auf editorische Eingriffe und reproduziert das typographische Original der Erstveröffentlichung. U. a. bleibt damit die Originalzählung erhalten, freilich auch Druck­fehler und inzwischen überholte Forschungsangaben bzw. -stellungnahmen. Insofern W. zumindest im kontinental-europäischen Kontext weniger für positionelle Streitlust als vielmehr für historisch akribische Melanchthonforschung bekannt ist, dürften die meisten seiner Beiträge, die hier aus den Jahren 1991 bis 2007 versammelt sind, kaum Überarbeitungsnotwendigkeit aufweisen.
Insgesamt 13 Beiträge werden in zwei Abteilungen präsentiert: Melanchthons Theologie und Melanchthon und seine Zeitgenossen. Die erste Abteilung »Melanchthon’s Theology« verzeichnet insgesamt neun Artikel: zunächst einen Überblick zu Melanchthons Leben und Werk, sodann vier weitere, die sich mit dem biblischen und dem historischen Œuvre des Reformators beschäftigen. Hierzu gehört eine Studie zu Melanchthons Umgang mit dem Corpus Paulinum, zwei weitere analysieren in Fortsetzung des Werkes von Pierre Fraenkel Melanchthons Umgang mit der altkirchlichen Tradition. Ein weiterer Beitrag untersucht Melanchthons Ge­schichtsverständnis. Mit systematisch-theologischem Interesse werden sodann in vier weiteren Aufsätzen die Anthropologie, die Ekklesiologie, die Sakramentenlehre und die politische Ethik (political theology) untersucht. Hierbei vermag W. zu zeigen, wie das Verständnis einer zweifachen Gerechtigkeit (iustitia civilis sive humana und iustitia divina) die gesamte Theologie Melanchthons strukturiert.
Stärker historisch akzentuiert sind sodann wieder die folgenden vier Aufsätze, die jeweils Melanchthons Beziehungen zu Martin Luther, Johannes Calvin, Erasmus von Rotterdam und Kaiser Karl V. gewidmet sind. Hierbei zeigt sich deutlich, wie sehr die humanistische Prägung auch während der schwierigen Zeit als Wortführer der Wittenberger Reformation stets erhalten bleibt. Der Maurersche Gegensatz von Humanismus und Reformation ist damit in entscheidender Weise als leitendes Paradigma der Melanchthonforschung überholt. Weiterhin zeigt sich ebenfalls sehr deutlich die theologische Unabhängigkeit Melanchthons gegenüber seinen Zeitgenossen einschließlich Luther, die freilich im Blick auf den Letzteren zu keiner Feindschaft oder kritischen Distanz Anlass gibt. Gerade darum tragen diese Beiträge ganz entscheidend dazu bei, Melanchthon aus dem Schatten Luthers heraustreten und ihm als eigenständigen Vertreter der Wittenberger Reformation in kongenialer, komplementärer Ergänzung zu den Universitäts- und Konsistorialkollegen eine historisch angemessene und von konfessionalistischen Vorbehalten freie Würdigung angedeihen zu lassen. Doch dies nicht allein: Auch das in den wenigen innovativen Gesamtdarstellungen der jüngeren Zeit verbreitete theologische Profil Melanchthons dürfte auf der Basis dieser Beiträge zahlreiche Korrekturen erfahren. Zugleich greift W., der mit der kontinen­- taleuropäischen Forschung eng vertraut ist, etliche neuere Forschungsergebnisse auf und trägt sie so über den Atlantik in den englischsprachigen amerikanischen Raum, in dem die Reformationsgeschichte zunehmend ein Schattendasein führt.
In den Dank an den Verlag für diese schöne Zusammenstellung mischen sich gleichwohl einige kritische Anmerkungen: Der Preis des Bandes dürfte zahlreiche Bibliotheken, von individuellen Käufern ganz abgesehen, an den Rand ihrer Budgetverantwortung führen. Insofern die Beiträge editorisch nicht überarbeitet wurden, ist die akribische Forschungsarbeit der Heidelberger Melanchthonforschungsstelle unter der Leitung von Heinz Scheible, Johanna Löhr und Christiane Mundhenk nur teilweise aufgenommen. Damit sind auch zahlreiche Einzelkorrekturen, Um- und Neudatierungen sowie Textemendationen des Briefwechsels Melanchthons hier nicht berücksichtigt, die W. zwar kennt und in die jüngeren Arbeiten einfließen lässt, die im Blick auf ältere Beiträge den Blick in die Edition der Originalquellen zwingend gebieten.