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Ausgabe:

Februar/1996

Spalte:

179–181

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Albert, Hans

Titel/Untertitel:

Kritik der reinen Hermeneutik. Der Antirealismus und das Problem des Verstehens.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1994. XIV, 272 S. gr. 8o = Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften, 85. Kart. DM 54,­. ISBN 3-16-146246-7.

Rezensent:

Michael Murrmann-Kahl

Der Mannheimer Philosoph und Karl Popper-Schüler Hans Albert bündelt in seinem, vorwiegend aus überarbeiteten Aufsätzen komponierten, Buch, (VIII f) seine Grundsatzkritik an derjenigen Form philosophischer Hermeneutik, die die "Welt als Text" interpretieren möchte. (3, 36 f, 47, 61) Dabei können die ersten drei Kapitel des Buches als Grundlegung der eigenen Position genommen werden, wogegen die übrigen die Anwendung auf die Geschichtswissenschaft (IV.), Nationalökonomie (V.), Jurisprudenz (VI.) und Theologie (VII.) enthalten.

Die philosophische Hermeneutik steht dem Vf. zufolge im Schatten Martin Heideggers, dessen in "Sein und Zeit" (1927) exponierte "Hermeneutik des Daseins" einen solchen ontologischen Apriorismus zu garantieren scheint, der sich jeder Nachprüfung entzieht. (I. Kapitel, 6-35; Anhang, 263 ff) Sie wird daher so gegen das wissenschaftliche Denken gestellt, daß sie sich mit ihrer vermeinten Wesenseinsicht über die "bloß rechnende Vernunft" erhaben dünkt. (18, 22) Die Daseinshermeneutik geriert sich als die gegenüber Natur- und Geisteswissenschaften fundamentale Disziplin. Die Einführung des "Vorverständnisses", das die Universalhermeneutik insgesamt übernimmt (24 f), führt zur vom Vf. monierten "Rehabilitierung des Vorurteils, die sich bewußt zur üblichen Methodologie der Wissenschaften in Widerspruch setzt". (23) Dies spricht den ihr verpflichteten Positionen, wie Gadamers Hermeneutik, aber auch K.-O. Apels Transzendentalpragmatik (vgl. 78-95) und der Theorie des kommunikativen Handelns von J. Habermas (VIII. Kapitel, 230-262) vorab das Urteil. Denn sie terminieren in einem solchen Anti-Naturalismus, der die hermeneutische Erkenntnisweise apart setzt und sich seiner möglichen Vermittelbarkeit mit der naturwissenschaftlichen Methodik entschlägt. Im Gefolge Heideggers konzipiert Hans-Georg Gadamer in "Wahrheit und Methode" (1960) seine Hermeneutik der Geschichtlichkeit, Wirkungsgeschichte und Horizontverschmelzung am totalisierten Textmodell. (II. Kapitel, 36-77) Sogar Apel und Habermas folgen mit ihrer Trichotomisierung der Wissensarten dieser Abwertung des Naturalismus und der Abschottung einer vermeintlich autonomen Geisteswissenschaft. (84 ff, 238 ff)

Gegenüber dieser Fehlentwicklung wird vom Vf. eine doppelte Strategie verfolgt (III. Kapitel, 78-112, hier 95 ff): Einmal ist im Abschluß an G. Simmel und M. Weber der Terminus des Verstehens präzise auf Text- (bzw. den semasiologischen Sinn) und Handlungsverstehen (den teleologischen Sinn) einzuschränken (105 ff, 122 ff), so daß Hermeneutik als eine "Theorie..., mit deren Hilfe man in der Lage ist, das Verstehen zu erklären", konzipiert werden müßte. (100) Zum anderen könnte das vom Vf. präferierte einheitswissenschaftliche ("naturalistische") Modell (1, 26, 77, 121, 232ff) die Dichotomie von Natur- und Geisteswissenschaften insofern überwinden, als die letzteren ohnehin "inhaltlich an die nomologischen Realwissenschaften" anschließen, "die man üblicherweise zu den Naturwissenschaften zählt". (111) In der von Polemik nicht freien Skizze der kritisierten Positionen (17, 30 ff, 70 ff) verwendet der Vf. seinen seit den sechziger Jahren standardisierten Immunisierungsvorwurf so redundant, daß die an sich berechtigte Kritik an der Totalisierung des Textmodells aus dem Blick zu geraten droht. (10, 19, 27, 46, 83, 96 f, 200f) Auch die Triftigkeit der von K. Löwith bezogenen These, daß der Universalhermeneutik eine "verkappte" und zugleich "säkularisierte" Theologie zugrunde liege, ist in ihrer Pauschalität fraglich. (10 ff, 18, 27, 62, 73, 78 ff) Schließlich leuchtet die Herleitung dieser normativen Hermeneutik aus "dem" Idealismus insofern nicht ein (2, 68, 76), als zum einen der geschichtswissenschaftliche Historismus selber schon eine Reaktion auf den philosophischen Idealismus (Hegels) darstellt und zum anderen die Universalisierung der Hermeneutik (im Gegensatz zum Autor, 98ff, schon ab W. Dilthey!) über ein ahistorisches Fundament (der "Geschichtlichkeit") den historischen Relativismus zu kompensieren trachtet und daher gerade kein "radikaler Historismus" sein kann (gegen 57, 63, 65).

Im Fortgang der Argumentation sucht der Vf. für Geschichtswissenschaft und Nationalökonomie eine an Max Weber ge-schulte Methodologie zu plausibilisieren. Demnach ist im Gegensatz zum klassischen Selbstverständnis die Geschichtsschreibung als eine Erklärungsskizze auf nomologischer Grundlage aufzufassen. (IV. Kapitel, 113-135) Dabei setzt sich der Autor allerdings nicht mit den internen Bemühungen um eine "historische Sozialwissenschaft" seit den sechziger Jahren auseinander, die seiner Intention entgegenkämen. Entsprechend wird der Versuch einer rein hermeneutischen Nationalökonomie im Anschluß an W. Sombart und L. Lachmann verworfen. (V. Kapitel, 136-163) Naturgemäß müssen die Rechts- und die theologische Dogmatik die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, da sie (angesichts der Forderung des "Einverständnisses" mit der behandelten Sache) das Leitmodell der Gadamerschen anwendungsorientierten Universalhermeneutik darstellen. (51 ff) Der rein normative Charakter der Rechtsdogmatik scheint sich der Auflösung in die naturalistische Realwissenschaft zunächst zu widersetzen. (VI. Kapitel, 164-197, hier 167 ff) Aber der Vf. kann an die alternativen Selbstinterpretationen der Jurisprudenz anknüpfen, die zwischen metaphysischem Naturrecht und menschlicher Kulturleistung schwanken. (170 ff) Als "Tatbestand des sozialen Lebens" (172) sind auch die präskriptiven Rechtssätze von der sozial verbürgten Geltung abhängig, so daß eine realwissenschaftliche Beschreibung der Rechtsdogmatik möglich erscheint. (182 ff) Demnach könnte man die Jurisprudenz als eine "Sozialtechnologie" (185 ff) konzipieren, in der die Texthermeneutik als Hilfsmittel fungiert und die Rechtsnormen als "Mittel sozialer Steuerung" nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten betrachtet werden. (188) Sonach entfiele eine für die Rechtsdogmatik eigens zu postulierende "Werterkenntnis" normativer Art. (197)

An der neuzeitlichen Theologie kritisiert der Vf. diejenigen Religionstheorien von F. Schleiermacher bis H. Lübbe, die eine "reine Religion" (im Gefühl) jenseits von Theorie und Praxis positionieren. (VII. Kapitel, 198-229, hier 200 ff). Dagegen schärft er zu Recht ein, daß die christliche Religion nicht einfach von ihren kognitiven Inhalten abgelöst werden kann. (208 ff) Indem er aber von vornherein nur die Alternative von (moderner) inhaltsloser Religion und (traditionellen) religiösen Inhalten, die der radikal-genetischen Religionskritik erliegen, zuläßt (217 ff), bleibt der modernen Theologie nur noch die negative Diagnose des frommen "Selbstbetrugs" zu stellen (203, 210f). Denn offenbar kollidieren hier die "alternative(n) Wirklichkeitsauffassungen" (216) von traditioneller Religion und moderner Naturwissenschaft. Wenn die der Religion zugeschriebenen Funktionen der Erklärung, Steuerung und Sicherung (227ff) an obsoleten kognitiven Voraussetzungen hängen, muß die moderne theologische Hermeneutik "raffinierter Umdeutungen" als eine "korrupte" gelten. (229) Dabei ist allerdings übersehen, daß der Vf. für sein Urteil die vorneuzeitlichen kognitiven Inhalte verabsolutieren und er deshalb die Transformationsbemühungen des Neuprotestantismus verfehlen muß. Entsprechend schließt er sich in diesem Punkt der einschlägigen Kritik der "dialektischen" Theologie an, ohne doch deren affirmative Gestalt zu teilen. (201ff) Im Duktus der eigenen Argumentation hätte es aber gelegen, auf den rein normativen Charakter der Dogmatik einzugehen, zumal wenn diese sich nicht im Modus einer Religionstheorie präsentiert, sondern sich als emphatische Offenbarungstheologie selbst inszeniert. Oder läßt sich die Dogmatik nicht in Analogie zum Recht empirisch analysieren, sondern nur noch religionskritisch destruieren?

Die positionsbestimmte Kritik des Autors produziert insgesamt ein "al fresco"-Gemälde, in dem die immunisierende "reine Hermeneutik" dem eigenen, sich für kritisch haltenden Rationalismus kontrastiert. Angesichts dieser positionell verfaßten Kritik einiger hermeneutischer Konzepte, deren Kenntnis weitgehend vorausgesetzt wird, scheint die Titelwahl, die bestimmte philosophiegeschichtliche Assoziationen weckt, ein wenig hochtrabend ausgefallen zu sein. Denn eine kritische Selbstreflexion der gewiß nicht unproblematischen Universalhermeneutik wird gerade nicht vorgeführt.