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Ausgabe:

September/2011

Spalte:

913-915

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Janssen, Wibke

Titel/Untertitel:

»Wir sind zum wechselseitigen Gespräch geboren«. Philipp Melanchthon und die Reichsreligionsgespräche von 1540/41.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. 320 S. gr.8° = Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 98. Geb. EUR 61,95. ISBN 978-3-525-55215-5.

Rezensent:

Athina Lexutt

Diese Monographie, mit der Wibke Janssen 2007 in Bonn promoviert wurde, ist – einmal ganz abgesehen vom Inhalt – schon deshalb positiv hervorzuheben, weil sie eine der wenigen Untersuchungen zu Melanchthon ist, die über 20 Seiten hinausgehen. Will sagen: Eine Sichtung entsprechender Publikationen wird feststellen, dass diese meistens unter mindestens einem der drei folgenden Vorzeichen leiden: Entweder wird Melanchthon weniger als eigenständiger Denker wahrgenommen und beschrieben, sondern vielmehr über den Leisten »Luther« geschlagen, und/oder als Konsequenz daraus werden Elemente seines Denkens und Wirkens sehr kleinschrittig bearbeitet, also in Aufsätzen abgehandelt, die meis­tens wichtige Anstöße liefern, welche die Forschung aber nur selten aufnimmt und in Monographien weiter verfolgt. Und/oder drittens wird Melanchthon über zwei Themenfelder wahrgenommen, die einem aktuellen Interesse entspringen, ihm selbst aber und seiner Zeit nicht oder jedenfalls nicht so entsprechen, wie man es gerne als Antwort auf gegenwärtige Probleme hätte, nämlich Ökumene und Bildung.
Neben den Untersuchungen von Wolfgang Matz zur Melanchthonischen Willenslehre (Der befreite Mensch. Die Willenslehre in der Theologie Philipp Melanchthons, FKDG 81, Göttingen 2001) und von Nicole Kuropka zur Rolle Melanchthons zwischen Wissenschaft und Praxis (Philipp Melanchthon: Wissenschaft und Ge­sellschaft. Ein Gelehrter im Dienst der Kirche [1526–1532], SuR.NR 21, Tübingen 2002) liegt mit der Studie J.s nun eine weitere Arbeit vor, die den Versuch unternimmt, Melanchthon aus diesen Verkrustungen und Vorurteilen herauszulösen und ihm historisch und theologisch gerecht zu werden. Dass J. dazu die Reichsreligionsgespräche von 1540/41 ausgewählt hat, ist kein Zufall. Zum einen erklärt sich dies schlicht daraus, dass sie als Mitarbeiterin im Forschungsprojekt zur Edition der Akten und Berichte dieser Gespräche einen vertieften Einblick auch in bis dato unveröffentlichtes Material und die Struktur und Besonderheiten der in Hagenau, Worms und Regensburg stattgefundenen Debatten nehmen konnte. Zweitens aber und vor allem waren bisher diese Gespräche selbst ein eher vernachlässigter Gegenstand der Forschung, so dass J. gleich an zwei Stellen, in Hinsicht auf Melanchthon und auf diesen Zeitabschnitt der Kirchengeschichte, Pionierarbeit leisten konnte. So verdeutlicht der Forschungsüberblick, welcher der Un­tersuchung vorangestellt ist, recht schnell, dass zwei 1899 und 1973 hervorgebrachte Arbeiten zum Thema natürlich längst durch die neue Forschungslage überholt sind und alles dafür spricht, sich ihm in gebotener Ausführlichkeit zu widmen. Um Melanchthons Rolle auf den Religionsgesprächen zu eruieren, ist es inzwischen unabdingbar, einerseits die Akten und Berichte, andererseits die vor allem durch die Herausgabe des Melanchthonischen Briefwechsels und zahlreiche kleinere Veröffentlichungen vorangetriebene Melanchthonforschung gebührend in Anschlag zu bringen.
Folgerichtig setzt J. daher auch nicht sofort 1540/41 ein, sondern bei den Augsburger Verhandlungen 1530, die in ihrer Absicht und Struktur den zehn Jahre später stattfindenden Gesprächen auffallend ähneln. Bei den inoffiziellen und offiziellen Gesprächen in Augsburg spielte Melanchthon eine zentrale Rolle, galt er doch in seiner irenischen Grundhaltung und seiner humanistisch begründeten Dialogbereitschaft als kundiger und geeigneter Ansprechpartner. Diese Rolle erfüllte er, wie J. plausibel nachweist, nach bestem Wissen und Gewissen, was insofern größte Anstrengung für ihn bedeutete (mit entsprechenden somatischen Konsequenzen), als er alle Mühe hatte, den jeweiligen Erwartungen gerecht zu werden. Sein Verhalten und Auftreten in Augsburg jedenfalls haben gewissermaßen die Weichen gestellt, Melanchthon auch in der Folgezeit immer wieder dann vorangehen zu lassen, wenn diplomatisches Geschick einerseits und theologische Souveränität andererseits verlangt wurden. J. analysiert unter diesem Aspekt in der gebotenen Kürze seine Gutachtertätigkeit für den französischen Gesandten 1534, seine Teilnahme an den Leipziger Religionsgesprächen 1534 und 1539 sowie am Frankfurter Fürstentag 1539, schließlich mehrere Texte aus seiner Feder, die seine Position insbesondere in ekklesiologischen Grundfragen verdeutlichen. Interessant und auffällig sind die Klarheit, Schärfe und Unmissverständlichkeit, mit der Melanchthon die protestantische Position vertritt, und das gerade im Angesicht bevorstehender Konsenshandlungen. Einen Verdacht von Wankelmut oder Unentschiedenheit jedenfalls bestätigt er zu dieser Zeit keineswegs. Wohl aber, konstatiert J. zu Recht, zeichnet sich schon in dieser frühen Phase ab, dass er durchaus Fragen der ecclesia visibilis im Bereich der Adiaphora verorten kann und einen Streit an dieser Stelle nicht gleichsetzt mit einem solchen etwa über die Rechtfertigungslehre.
Im Folgenden widmet sich J. nun den einzelnen Gesprächstagen. Für die historische Einordnung kann sie bereits auf das neu zugänglich gemachte Quellenmaterial und darauf fußende Untersuchungen (namentlich Karl-Heinz zur Mühlens, Athina Lexutts und Volkmar Ortmanns) verweisen und ihre eigene Darstellung schnell auf das für ihre Fragestellung Wesentliche konzentrieren. Durch eine Erkrankung verhindert, den Hagenauer Gesprächstag zu besuchen, der insgesamt nicht unterschätzt werden darf, auch wenn es auf ihm noch nicht zu theologischen Debatten kam, sondern um die Festlegung der Geschäftsordnung für die nächsten bereits in Aussicht gestellten Tage in Worms und Regensburg ging, nutzte Melanchthon die Zeit, um umso intensiver das bevorstehende Religionsgespräch vorzubereiten. Dazu gehört an erster Stelle die Überarbeitung der Confessio Augustana, in deren unsichere Entstehungsgeschichte auch J. leider kein neues Licht bringen kann. Die Varianten der überarbeiteten Version beurteilt J. so: »In der Summe erscheinen die Veränderungen in der Variata als Versuch, die Confessio Augustana ›kontextuell‹ zu aktualisieren.« (119) Die diplomatische Absicht, den Verhandlungspartnern, vor allem aber dem einladenden Kaiser entgegenzukommen, sei unverkennbar. Aber auch eine innerprotestantische Funktion müsse konstatiert werden, die der Tatsache Rechnung trägt, wie wenig einheitlich und auf die Wittenberger Linie eingeschworen sich der Pro­- tes­tantismus der Zeit erweist – eine Mahnung auch an uns, die Reformation noch viel stärker in ihrer Vielfalt wahrzunehmen. – Für die Sichtung einer von Melanchthon eingereichten Protestatio, für die Vorgespräche der protestantischen Gesprächsteilnehmer und für die Vorbereitung des Zweierkolloquiums mit Eck über die Erbsünde kann J. nun auch auf das erst jüngst edierte Quellenmaterial zurückgreifen, manches Gerücht der Forschung plausibel entkräften und kenntlich machen, dass die genaue Sichtung einen Melanchthon zeigt, der das theologische Gespräch mehr schätzt als politische Rücksichtnahmen, weil nur so die nötige Klarheit erreicht werden könne, die um der Sache willen einzufordern ist. Dass ein solches Gespräch öffentlich zu führen sei, ist ebenfalls ein wichtiges Ergebnis, das J. für Melanchthon sichern kann. Dies unterstreicht nochmals, dass Melanchthon keineswegs zu irgendwelchen, schon gar nicht zu faulen Kompromissen bereit war; seine Teilnahme an den Colloquia privata in Worms hatten für ihn dann auch genau dieses konspirative Element, dem er sich lieber entziehen wollte.
Viel eher nach seinem Geschmack war das Gespräch, das er Mitte Januar 1541 mit Johannes Eck über die Erbsünde führte. Da es sich bei diesem Kolloquium um einen entscheidenden Kristallisationspunkt (vgl. 154) handelt, widmet J. ihm mehr Aufmerksamkeit als anderen Abschnitten und untersucht hier genau, wie sich Eck und Melanchthon in Methode und Inhalt unterscheiden, so dass auch vorsichtige Annäherungen letztlich nicht zu einem Konsens führten. Angesichts der Tatsache, dass Melanchthon in Worms keinerlei Verdacht erregte, sich in ungebührlicher Weise auf unkonventionelle Handlungen einzulassen oder der gegnerischen Seite zuzuneigen, überrascht es, wie sehr der sächsische Kurfürst in Regensburg darauf bedacht ist, die Bewegungsfreiheit Melanchthons einzuschränken, ja, ihn entsprechend bewachen zu lassen. Wie es zu dieser scheinbar doch übertriebenen Vorsicht gekommen ist, kann auch J. nicht letztlich klären. So lobenswert es ist, sich auf keinerlei Spekulationen einzulassen, so hilfreich wäre doch eine Vermutung gewesen, die auch ihrer Fragestellung insgesamt nützlich gewesen wäre. Stattdessen widmet sie sich ausführlich dem Regensburger Buch und arbeitet sorgfältig so weit, wie es möglich ist, Melanchthons Diskussionsbeiträge heraus. Wiederum erweist sich Melanchthon hier als standfester Bekenner und Verteidiger der protestantischen Position, was auch in einer ersten Fassung eines Gutachtens zutage tritt, während eine zweite, dem Kaiser überreichte Variante sehr viel diplomatischer vorgeht. Melanchthons Dilemma, einerseits im theologischen Streitgespräch deutlich Position beziehen zu wollen und zu sollen, andererseits auf diplomatische Erfordernisse Rücksicht nehmen zu müssen, wird an dieser Stelle einmal mehr deutlich. In den den Religionsgesprächen nachfolgenden Veröffentlichungen, die nach Melanchthons Willen der Aufklärung und besseren Einschätzung dessen dienen sollten, dass diese Gespräche letztlich scheitern mussten, kristallisiert sich die Ekklesiologie als eigentlicher Differenzpunkt immer stärker heraus – angesichts der gegenwärtigen ökumenischen Debatten allemal bemerkenswert und wert, weiterhin genauer untersucht zu werden.
J. ist insgesamt ein detaillierter Einblick in die Jahre Melanchthons von 1530 bis 1541 gelungen, der Melanchthon und den Reichsreligionsgesprächen in gleichem Maße gerecht wird. Dass auch danach immer noch einiges im Dunkeln bleibt, was vor allem eine ab­schließende Antwort auf die Frage betrifft, als wie »lutherisch« Melanchthon in dieser Zeit einzuschätzen ist, ist bedauerlich, indes auch nicht wirklich anders zu erwarten gewesen, will man sich nicht auf wilde Spekulationen einlassen. Dem Wert der Untersuchung geschieht dadurch kein Abbruch, der Forschung sind genug Möglichkeiten und Anregungen gegeben, an diesen Stellen weitere Untersuchungen folgen zu lassen.