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Ausgabe:

September/2011

Spalte:

901-903

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Williams, Guy

Titel/Untertitel:

The Spirit World in the Letters of Paul the Apostle. A Critical Examination of the Role of Spiritual Beings in the Authentic Pauline Epistles.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. 336 S. gr.8° = Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, 231. Geb. EUR 80,95. ISBN 978-3-525-53095-5.

Rezensent:

Werner Kahl

Guy Williams, Dozent für Philosophie und Religion am Wellington College im englischen Berkshire, versucht in The Spirit World die Bedeutung zu erheben, die geistlichen Mächten in den als authentisch erachteten Paulusbriefen zugeschrieben wird. Anders als in der neutestamentlichen Forschung bisher üblich (zur Forschungsgeschichte: 31–55), setzt W. den Glauben an die Existenz und die Wirkung einer Vielzahl göttlicher und widergöttlicher geistlicher Mächte im alltäglichen Leben für Paulus und seine Zeitgenossen als selbstverständliche Matrix ihres Weltwissens voraus: Für die Antike im Allgemeinen und für das antike Judentum, in dessen Traditionen W. Paulus verortet, im Besonderen gelte, dass die sichtbare Welt als in numinose Zusammenhänge eingebettet gedacht, erlebt, manipuliert und kommuniziert wird.
Methodisch macht W. hier Anleihen bei der Ethnologie, wenn er die dort zu Recht als wesentlich erachtete Unterscheidung zwischen emischen und etischen Herangehensweisen in Bezug auf die Erfassung und Beschreibung fremder Welten auch für die neutes­tamentliche Wissenschaft in Bezug auf ihren Untersuchungsgegenstand einfordert. Die von ihm favorisierte emische Perspek­tive zielt darauf ab, der Innenperspektive antik-frühchristlicher Äu­ßerungen gerecht zu werden, indem Forscher von dem ihnen selbstverständlichen Weltwissen zu abstrahieren versuchen, um anachronistische Verzerrungen in der Analyse und Darstellung zu vermeiden.
Die aus der Analyse antik-jüdischer Texte gewonnene Arbeitshypothese von W. lautet in Bezug auf die Paulusbriefe: Geistwesen sind eine Grundkategorie des paulinischen Denkens. Als solche seien sie nicht etwa als periphere Erscheinungen zu vernachlässigen, sondern hinsichtlich ihrer zentralen Bedeutung für Paulus zu würdigen. Sowohl für den Heiligen Geist – der Begriff sei nicht unter dem Eindruck späterer theologiegeschichtlicher Entwick­lungen als Prinzip oder trinitarische Größe zu fassen – als auch für Satan, Dämonen, Engel usw. sei zu veranschlagen, dass es sich um supernatural powers (77) handele, wenn auch unterschiedlicher Qualitäten, Potenzen und Funktionen. Nicht nur antik-jüdische Texte, sondern auch die von W. herangezogene Rezeptionsgeschichte der authentischen Paulusbriefe im Frühchristentum und in der antiken Kirche legen es tatsächlich nahe, dass sich Paulus in dieser Hinsicht im Rahmen einer Weltdeutung bewegte, die insgesamt gemeinantik war, die aber in ihrer besonderen Ausprägung starke Kontinuitäten aufweist mit antik-jüdischen Vorstellungen, wenn auch unter dem Eindruck des Christusgeschehens als zentraler Perspektive (83–183; fokussiert werden 1Kor 8,5–6; 10,20–21; 2Kor 12,7). Was dies für spezifisch paulinische Themen bedeutet, entfaltet W. im weiteren Verlauf seiner Arbeit in Bezug auf die Christologie (189–223), die Soteriologie (225–266) und die Gemeinschaft der Gläubigen (267–306).
Nach einem Vergleich der Funktionen und Attribute, die Paulus Christus zuschreibt, mit denen von Geistwesen, wie sie im antiken Judentum vorausgesetzt wurden, sei für die Christusfigur eine Nähe zu Erzengeln zu konstatieren, was insbesondere hinsichtlich der Funktionen »Anführer himmlischer Heerscharen« und Mittler zwischen Gott und Menschen zu konstatieren sei. In diesem Zu­sam­menhang diskutiert W. auch die Frage, ob Paulus in emischer Perspektive als »besessen« zu bezeichnen wäre. Aufgrund von Analogien aus dem Bereich des Schamanismus und unter Rekurs auf einige Belegstellen bei Philo lege es sich tatsächlich nahe, angemes­senerweise von einer Besessenheit des Paulus – und potentiell von frühchristlichen Gläubigen generell – durch den Geist Christi bzw. den Geist Gottes zu reden. Dies brächte Paulus sprachlich zum Ausdruck u. a. durch Wendungen wie πνεῦμα θεοῦ οἰκεῖ ἐν ὑμῖν oder πνεῦμα Χριστοῦ θεοῦ ἔχειν (vgl. Röm 8,9 u. ö.), wozu auch aus den synoptischen Evangelien aufschlussreiche Beispiele – auch in Bezug auf Jesus – beizubringen wären. Was aus den Bereichen Religionswissenschaft und Ethnologie für vergangene und kontemporäre Kulturen zu beobachten ist, gelte analog auch für frühchristliche Erfahrungen von Geistbesessenheit: Insbesondere aus der Perspektive antik-jüdischer Vorstellungen über Geistwesen und numinose Mittler sei es evident, dass »the figure of Christ himself at times emerges as a distinct type of spiritual force. He is a spirit of life within believers (Rom 8.9–11; 1Cor 15.45) and is the power that drives Paul ever onwards (2Cor 4.11; 5.13–14; 12.9)« (222).
Die Ernstnahme eines Weltwissens für Paulus, das einander widerstreitende, Leben gefährdende und Leben fördernde, satanisch-dämonische und göttliche Geistwesen als Gegebenheiten von Existenz voraussetzt, führt auch unter soteriologischen Perspektiven zu Interpretationsverschiebungen im Hinblick auf die Christus beigemessene Bedeutung und Relevanz im Frühchristentum. Wiederum orientiert sich W. zunächst an soteriologisch aufgeladenen Motiven in antik-jüdischen Texten einerseits und an der antiken Rezeptionsgeschichte paulinischer Briefe andererseits. In diesem Zusammenhang würde 1Kor 2,6–8 verständlich als Passage, mittels derer Paulus Christus als Überwinder feindlicher Engelmächte kommuniziert. Der sog. Philipperhymnus in Phil 2,6–11 wie auch Kol 2,15 – der Kolosserbrief wird somit unter die genuinen Paulusbriefe gezählt – werden von W. dahingehend gedeutet, dass die soteriologische Hauptfunktion der Christusfigur nach Paulus darin bestehe, »to destroy the power of the angelic rulers of this age« (247). Um dieses Ziel zu erreichen, habe Christus seine Herrlichkeit verborgen, als er auf Erden wandelte. Das Kreuz sei somit auch für Paulus – vgl. das JohEv – das Symbol für die allgemeine Überwindung dämonischer Mächte. Für Paulus erschöpfe sich die soteriologische Bedeutung der Christusfigur aber nicht in dieser universalen Dimension ihrer Wirkung. Innerweltlich und erfahrbar, also überlebensrelevant erwartete Paulus wie andere Christusgläubige auch Rettungen aus konkreten Notlagen als Manifestationen des allmächtigen Wirkens des erhöhten Christus. Von entsprechenden Erfahrungen und Erwartungen, aber auch von diesbezüglichen Enttäuschungen weiß Paulus in seinen Briefen in der Tat zu be­richten.
Unter Berücksichtigung des angezeigten Weltwissens interpretiert W. im weiteren Verlauf Konflikte und Probleme, wie sie nach Auskunft von Paulusbriefen in Gemeinden von Gläubigen bestehen. W. exemplifiziert dies mit unterschiedlicher Evidenzkraft anhand der folgenden Beispiele: die Forderung, dass Frauen ihr Haar zu bedecken bzw. besonders zu tragen hätten (1Kor 11,10), Fragen von Sexualität, (Un-)Reinheit und Heirat (1Kor 5–7), spirituelle Verteidigungsbereitschaft als Aufgabe (unter Rekurs vor allem auf 1Thess 5,5–8; Röm 13,11–12; 2Kor 10,3–5).
Auf die abschließende Conclusion folgen eine differenzierte Bibliographie sowie ein gemischter Index, bei dem die Autorenverweise nicht vollständig sind.
W. rückt mit dieser wichtigen Studie zu Recht ein in der neutes­tamentlichen Wissenschaft lange Zeit tendenziell unterbelichtetes, aber für ein der Innenperspektive angemessenes Verständnis paulinischer Äußerungen wesentliches Thema in das Zentrum exegetischer Forschung. Im Allgemeinen sind die Ausführungen von W. überzeugend. Seine methodologische Vorentscheidung, die Paulusbriefe zunächst im Zusammenhang sowohl mit antik-jüdischen Zeugnissen als auch mit Paulusdeutungen der Antike zu verstehen, ist bestechend, und sie zahlt sich aus. Zuweilen jedoch bleiben seine Darstellungen und Analysen an der Oberfläche und sind holzschnittartig. Dadurch wird das Gesamtergebnis aber nicht beeinträchtigt.
Die aus der amerikanischen Ethnologie und Linguistik stammende und dann zunächst in der Folklorewissenschaft angewandte Differenzierung emisch versus etisch inklusive ihrer Implikationen und auch Problematik hätte vor ihrer exegetischen Nutzbarmachung einer kritischen Diskussion bedurft. Es erscheint vielversprechend, die Methodik zu verfeinern und entsprechende Analysen der Paulusbriefe zu vertiefen. Nachfolgende Paulusstudien werden allerdings die hier hinreichend plausibel gemachte spirituell-numinose Matrix des paulinischen Denkens als grundsätzlich zutreffenden Interpretationsrahmen ernst zu nehmen haben. Damit sind hermeneutisch-theologische Herausforderungen verknüpft, die der Aufarbeitung harren, welcher in einer sich pfingstlich-charismatisch wandelnden Weltchristenheit eine be­sondere Bedeutung zukommen dürfte. W. gibt erste Wegweisungen in dieser Hinsicht (312–314). Ihm gebührt das Verdienst, die Grundlage für eine neue, und zwar wesentliche Paulusperspektive gelegt zu haben.