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Ausgabe:

September/2011

Spalte:

898-901

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stegemann, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Jesus und seine Zeit.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2010. 448 S. m. 3 Abb. gr.8° = Biblische Enzyklopädie, 10. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-17-012339-7.

Rezensent:

Jens Schröter

Mit dem Werk von Wolfgang Stegemann betritt die auf zwölf Bände angelegte Reihe »Biblische Enzyklopädie« erstmals die Zeit des Urchristentums bzw. des Neuen Testaments. Für diesen Bereich sind insgesamt drei Bände vorgesehen: neben dem hier zu besprechenden ein weiterer über »Paulus und seine Zeit« (Ekkehard Stegemann) sowie schließlich ein die Reihe abschließender über »Die Anfänge der Kirche« (Peter Lampe). Ob die für eine Geschichte des Urchristentums zu behandelnden Inhalte und Fragestellungen mit diesem Konzept überzeugend abgedeckt werden können, bleibt abzuwarten, ebenso wie die Lösung der spannenden Frage, wie das Verhältnis zwischen der Zeit Jesu und der des Paulus be­stimmt wird.
Der Zeitbegriff wird hier (und beim Folgeband), worauf schon das Possessivpronomen hinweist, durch eine Person inhaltlich qualifiziert. S. rekurriert dazu auf Beobachtungen zum Epochenbegriff, der für die Anlage seiner Darstellung grundlegenden Cha­rakter besitzt. Darauf verweisen bereits die Überschriften der einzelnen Teile des Buches, nämlich: »I. Das biblische Bild der Epoche«; »II. Das historische Bild der Epoche«; »III. Die biblische Literatur der Epoche« (ein unverhältnismäßig kurzer und irreführend betitelter Hauptteil, der auf neun Seiten die literarische Gattung der Evangelien abhandelt) sowie »IV. Theologische Bedeutung der Epoche – der historische Jesus als theologisches Problem«. Aus dieser Anlage wird bereits deutlich, dass die Gegenüberstellung von »historisch« und »biblisch« bzw. »theologisch« für S. basal ist, obwohl doch gerade die Vermittlung beider Perspektiven die fundamentale methodologische und hermeneutische Aufgabe der historisch-kritischen Jesusforschung darstellt.
Diesem Ansatz entsprechend werden zunächst in einem vergleichsweise knappen Durchgang (27–72) die Jesusbilder der kanonischen Evangelien vorgestellt, gefolgt von geschichtshermeneutischen Reflexionen zur historisch-kritischen Jesusforschung. Im Anschluss an neuere Überlegungen zum »erinnerten Jesus« sowie zum kulturellen Gedächtnis stellt S. heraus, dass historische Forschung die Person Jesu nicht wie in einem Spiegel zu erkennen gebe, sondern ihn »als Ergebnis eines Verhandlungsprozesses« (112, dort kursiv) präsentiere, in das implizite Prämissen, historische Kenntnisse und subjektive Vorannahmen einfließen. Ein derart konstruierter Jesus sei ein »artifizielles Wesen«, das nicht für theologische Letztbegründungen herhalten könne. Auf die mit dieser Schlussfolgerung verbundene Problematik wird gleich noch zurückzukommen sein.
Im Unterschied zu anderen als »Epoche« geltenden Zeitabschnitten wie »Exilszeit« oder »hellenistisches Zeitalter« verbinde sich mit der Person Jesu in christlicher Sicht eine grundlegende Neuqualifikation der Zeit, was bereits im Neuen Testament durch Wendungen wie »erfüllte Zeit«, »nahegekommenes Gottesreich« bzw. die zeitliche Charakterisierung »von der Taufe des Johannes bis zu dem Tag, an dem er von uns hinweg aufgenommen wurde« (Apg 1,22) zum Ausdruck gebracht wird und dann zur christlichen Zeitrechnung führte (S. verweist zur Illustration auf Hermann Melvilles Formulierung »Christ was a chronometer«). Es handle sich um eine mythische Sicht auf die Zeit von der Weltschöpfung bis zu deren Vollendung, in der das Auftreten Jesu Christi den entscheidenden Einschnitt darstellt. Davon zu unterscheiden sei der »historische Epochenbegriff«, der seit dem Aufkommen der historischen Vernunft Jesus nicht als die Zeit an sich qualifizierenden Gottessohn, sondern als historische Person auffasse.
Die daraus resultierende, für S.s Darstellung grundlegende Gegenüberstellung von »mythisch« und »historisch« taucht im Schlussteil als »kategoriale Differenz zwischen der historischen Rückfrage nach Jesus als einem wissenschaftlichen und dem Glauben an Christus als einem religiösen Unternehmen« (427, dort kursiv) wieder auf. S. zufolge ist die »historisch-kritische Lektüre der Evangelien« nämlich »fundamental vom Glauben unterschieden« (ebd.), weshalb sie auch nicht zur Begründung der Sicht des christlichen Glaubens an Jesus als den Sohn Gottes herhalten könne.
Dieser Zugang wirkt wie ein Rückfall in überwunden geglaubte Frontstellungen zwischen Exegese und Dogmatik und wirft grundlegende hermeneutische Fragen auf. Zwar kann man S.s Kritik an Joseph Ratzingers Vermischung von dogmatischer und historischer Ebene durchaus zustimmen, wird jedoch die von ihm selbst favorisierte Entgegensetzung von »wissenschaftlich« und »religiös« kaum als befriedigende Lösung des bezeichneten Dilemmas betrachten wollen. Zu voreilig wird dabei ausgeblendet, dass die Entstehung des Glaubens an Jesus Christus selbst ein historisches Phänomen darstellt, das in seiner Genese zu untersuchen eine zentrale Aufgabe historisch arbeitender Theologie darstellt. Die von S. zu Recht betonte »Subjektivität und Relativität der historischen Jesusforschung« stellt dabei die Grundlage dafür dar, die Bezogenheit des christlichen Glaubens auf ein historisches Ur­sprungsgeschehen unter den Voraussetzungen ebendieser Relativität zu beschreiben und angesichts sich wandelnder historischer Erkenntnisse immer wieder neu zur Geltung zu bringen.
S. weiß sich mit seiner Darstellung vornehmlich in Diskursen der neueren nordamerikanischen Jesusforschung beheimatet und konstatiert bereits im Vorwort, dass vieles dort Diskutierte »in der deutschsprachigen Wissenschaft noch nicht etabliert« sei (13) – eine angesichts der aktuellen deutschsprachigen Jesusforschung er­staunliche Behauptung, die zudem zu insinuieren scheint, dass die Etablierung von Sichtweisen der genannten Forschungsrichtung bereits für sich ein Qualitätsmerkmal darstelle.
Konkret bezieht sie sich auf diejenigen Abschnitte des Buches, die S.s eigener Auskunft zufolge das Herzstück seiner Darstellung bilden, nämlich die Teile II.5–9, in denen die Einordnung Jesu in das antike Judentum sowie die kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse seiner Zeit behandelt werden (155–296). S. entwickelt dort die These, dass Jesus keine jüdische Rand- oder Sonderexistenz darstellte, sondern inmitten der jüdischen Kultur, ihrer Traditionen und Texte, lebte und dies als seine ethnisch-kulturelle Identität zu bestimmen sei. Dazu wird im Anschluss an Shaye J. D. Cohen und Steve Mason ein »Ethnizitätsmodell« vorgestellt, welches das antike Judentum als »Ethnie« auffasst, was eine präzisere und umfassendere Beschreibung erlaube als ein »Religionsmodell«, wie etwa dasjenige des »common Judaism« von Ed Parish Sanders.
S. grenzt sich in diesen Abschnitten immer wieder von Infragestellungen des »Judentums Jesu« ab, die er nicht nur in der älteren (vor allem deutschsprachigen protestantischen) Forschung, sondern auch in der aktuellen Diskussion identifiziert – etwa bei einer semantischen Differenzierung zwischen den »Ioudaioi« in antiken jüdischen Quellen und den Termini »Judentum« bzw. »Judaism« in gegenwärtiger Verwendung. Diese Teile erwecken mitunter den Eindruck, als werde ein Maßstab von »political correctness« eingeführt, der Jesusdarstellungen daraufhin durchmustert, ob sie der von S. favorisierten Einordnung Jesu in das antike Judentum entsprechen. Problematisch ist aber vor allem, dass das »Ethnizitätsmodell« seine Pointe gerade darin besitzt, die in den antiken Quellen als »Ioudaioi« bezeichnete Gemeinschaft als Volksgruppe mit eigenen (durchaus auch religiösen) Merkmalen zu erfassen. Mit S.s eigenem Interesse verträgt sich das nur in Grenzen, was etwa an seinen Ausführungen zu »Ehre und Scham« als einer angeblich die gesamte antike Mittelmeerkultur prägenden Werteordnung sichtbar wird.
Die eigentliche Darstellung des Wirkens Jesu (II.9–II.12) widmet sich ausgewählten Bereichen: Toraauslegung; Ankündigung der nahen Gottesherrschaft; Ende in Jerusalem. Dementsprechend kommen auch nur einige wenige Texte ausführlicher zur Sprache (so etwa das Wort über die Gegenwart der Gottesherrschaft in den Exorzismen Jesu in Lk 11,20). Wichtige Themen wie Nachfolgegemeinschaft, Gleichnisse, Mahlgemeinschaften, Konflikte mit Pharisäern und Sadduzäern treten dagegen nur am Rand in den Blick und werden der die Darstellung beherrschenden soziologisch-politischen Perspektive ein- bzw. untergeordnet. So sind etwa die wenigen Seiten zur »Soziologie der Jesusbewegung« (257–262) einer Auseinandersetzung mit Gerd Theißens bekannter These gewidmet, wogegen man eine differenzierte exegetische Analyse der einschlägigen neutestamentlichen Texte zur Nachfolge vermisst. Die Torakritik Jesu sei als Diskurs innerhalb des Judentums aufzufassen, die von ihm verkündigte Gottesherrschaft vor allem durch soziale Implikationen charakterisiert und als »frohe Botschaft für die Subalternen« (348, dort kursiv) zu beschreiben. Das Wirken Jesu verbleibe vollständig innerhalb jüdischer Parameter, wogegen es der folgenschwerste Fehler der Forschung gewesen sei, ihn aufgrund ideologischer (nämlich antijüdischer) Vorurteile aus diesem isoliert zu haben.
Offen bleibt freilich, wie es zu erklären ist, dass schon die ersten Anhänger Jesu, die sämtlich selber Juden waren, in ihm den letzten und entscheidenden Repräsentanten Gottes sahen, der in einzigartiger Autorität wirkte, dessen Lehre der Tora übergeordnet werden konnte und dem bereits in den ältesten Texten des Christentums eine einzigartige Würde als präexistenter Sohn und erhöhter Herr zugesprochen wurde. Man entkommt dieser Frage, die kein Phänomen einer antijüdischen Auslegungsgeschichte ist, sondern sich von den neutestamentlichen Zeugnissen selber her aufdrängt, nicht dadurch, dass man sie als »religiöses Unternehmen« einer »wissenschaftlichen Jesusforschung« gegenüberstellt. Vielmehr handelt es sich um eine eminent historische Frage, die da lautet: Wie ist es zu erklären, dass Wirken und Geschick Jesu zum Ausgangspunkt einer neuen Überzeugungs- und Wertegemeinschaft werden konnten, die sich in der Konsequenz einer bei Jesus grundgelegten Entwicklung vom Judentum getrennt hat?
Man wird S. für seinen engagierten Beitrag, der vor allem der nordamerikanischen Forschung verpflichtet und durch eine soziologisch-politische Perspektive auf das Wirken Jesu bestimmt ist, vor allem für die konsequente Einzeichnung des Wirkens Jesu in das antike Judentum dankbar sein. Dass mit dieser Vorgehensweise gewisse Verkürzungen und Einseitigkeiten einhergehen, ist unübersehbar. Man wird deshalb darin nicht fehlgehen, das hier gezeichnete Jesusbild im Sinne von S.s eigenen geschichtshermeneutischen Ausführungen als »artifizielles Wesen« zu betrachten, dem andere an die Seite zu stellen sicher kein Schade ist.