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Ausgabe:

September/2011

Spalte:

895-898

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schnelle, Udo [Ed.]

Titel/Untertitel:

The Letter to the Romans.

Verlag:

Leuven-Paris-Walpole: Peeters 2009. XXVIII, 894 S. gr.8° = Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium, 226. Kart. EUR 85,00. ISBN 978-90-429-2199-3.

Rezensent:

Florian Wilk

Das Buch enthält 44 Aufsätze zum Römerbrief, die auf zehn Plenums-, drei Seminar- und 31 Kleingruppenvorträgen des 56. Colloquium Biblicum Lovaniense vom Juli 2007 beruhen, ferner eine trotz des englischen Buchtitels auf Deutsch verfasste Einleitung (in der der Herausgeber die 13 Hauptbeiträge zusammenfasst [XV–XXVI], die Titel der übrigen Beiträge auflistet [XXVI–XXVIII] und drei häufig behandelte »Themen- bzw. Textbereiche« benennt [XXVIII]), ein Autoren- und ein (wiederum deutschen Konventionen folgendes) Stellenregister.
Der Aufbau des Bandes ist unübersichtlich: Die Aufsätze des ersten Teils (»main papers« [1–325]) sind dem Konferenzverlauf entsprechend angeordnet, die des zweiten Teils (»offered papers« [327–838]) in fünf teils thematisch, teils methodisch definierten Rub­-riken, innerhalb derer sie dann in alphabetischer Folge der Autorennamen erscheinen. Es ist daher nicht leicht zu entdecken, in welcher Weise »die gegenwärtige internationale Paulusexegese« (VII) hier repräsentiert und vorangetrieben wird.
Drei Beiträge nehmen explizit die Eigenart des Römerbriefs als eines Ganzen in den Blick: U. Schnelle (3–23) deutet den Brief als »Versuch einer denkerischen Bewältigung der Krisensituation, in der sich Paulus … befand« (6). Um »die römische Gemeinde für sich zu gewinnen« (9), habe er sich »grundlegenden Aporien seines bisherigen Lebens- und Denkweges« (22) gestellt und die Fragen nach dem »Gesetz«, »Israel« und der »Gerechtigkeit« sachgemäßen Lö­sungen zugeführt. Nach B. R. Gaventa (179–195) soll der Brief den überwiegend heidenchristlichen Adressaten gemäß Röm 1,14 f. nicht zuletzt die kosmische Dimension des Evangeliums erschließen; jene hätten zwar begriffen, dass sie als Unbeschnittene Abraham zum Vater haben, aber noch nicht verstanden, dass Gott sie als Menschen aus ihrer Versklavung durch Sünde und Tod befreit. P.-A. Bernheim (827–838) plädiert angesichts der vielen Auslegungsprobleme für eine stärkere Berücksichtigung von Interpolationstheorien.
Die meisten Aufsätze sind der Auslegung bestimmter Passagen des Römerbriefs gewidmet. Dabei werden einzelne Verse, kleinere Abschnitte oder größere Zusammenhänge analysiert.
V. Koperski (441–451) und H. Debel (631–640) gelangen in einen kritischem Disput mit der These B. Brootens, Paulus nehme in Röm 1,26 f. eine patriarchale Haltung zur Sexualität ein, ihrerseits zu verschiedenen Deutungen dieser Verse. J. Lambrecht (733–737) skizziert seine Lesart der Argumentation in Röm 3,19b–20 und 25b–26, T. J. Do (641–657) erläutert den Sinn von ἱλαστήριον in 3,25 vor dem Hintergrund der Septuaginta, M. M. S. Ibita (679–690) untersucht die Funktion der vierfachen Bezugnahme auf Gen 15,6 in Röm 4. A. Dettwiler (279–296) legt Röm 6,1–14 aus: Paulus beschreibe hier auf der Basis gemeindlichen Wissens über die Taufe einen radikalen Seinswechsel, den Übergang aus der Herrschaft der Sünde in die durch die Christusbeziehung begründete Freiheit; Kol 2,12 biete eine relecture dieses Textes.
Vier Beiträge befassen sich mit Röm 7,7 ff.: Nach A. Gignac (113–134) inszeniert Paulus in 7,7–8,4 einen Dialog, in dem das eine »Ich« auf den Konflikt zurückblicke, den das andere »Ich« mit V. 7a–b.13a.14b–24.25b als gegenwärtige Realität darstelle, und fordert damit den Leser zu neuer Selbstwahrnehmung heraus; A. Reichert (297–325) deutet 7,7–25a als – aus der Position der »Wir« (V. 7a–c.14a.25a) gewonnenen – Einblick in die Lage des durch die Sünde definierten »Ich«, gegliedert in den erst narrativen, dann reflektierenden Rückblick V. 7–13, die Situationsanalyse V. 14–23 und den expressiven Schluss V. 24–25a. C.-C. Murariu (739–753) betont gegen S. Stowers den inklusiven, Juden wie ›Heiden‹ betreffenden Sinn von V. 7–25, E. Süld (771–777) den intensiven Rekurs auf Gen 1–3 in Röm 7,7–13.
T. A. Vollmer (789–797) präsentiert eine theozentrische, ökologisch orientierte Lektüre von Röm 8,18–30; O. Wischmeyer (799–809) legt dar, wie Paulus in 8,31–39 ein Rechts-, ein Teilhabe- und ein Kampfszenario miteinander verknüpft, um argumentativ den Sieg der Liebe Gottes aufzuweisen.
Weitere fünf Beiträge betreffen Röm 9–11: M. Theobald (135–177) stellt, ausgehend von den »autobiographischen« Notizen in 9,1–3; 10,1 f.; 11,1.13 f., die Kohärenz der drei Kapitel heraus: Indem Paulus sein apostolisches Amt mit seiner jüdischen Existenz verknüpfe, bereite er die Ansage der Errettung »ganz Israels« in 11,25–27 so vor, dass sich diese als Klimax eines einheitlichen Diskurses unter dem Leitmotiv vom »sich erbarmenden Gott« erweise.
Ferner bieten J. Khalil (691–697) eine akkurate Übersetzung von Röm 9,7a und B. Kowalski (713–732) eine textorientierte Untersuchung zur Funktion der Schriftzitate in 9,19–29.
J.-N. Aletti (197–223) analysiert die Argumentation von Röm 11, die den klimaktischen Aufbau des Kapitels und den logischen Konnex zwischen Israels Verhärtung, der Völkermission und Israels Eifersucht unterstreiche. J. M. Gundry (25–53) wiederum sieht Paulus in 11,13–36 ein Verständnis Gottes als gütigen Wohltäters darlegen, und zwar – ähnlich wie Philo – im Gegensatz zum griechisch-römischen Reziprozitätsdenken, wie es dem Rühmen der römischen ›Heidenchristen‹ zugrunde liege.
Zwei Autoren untersuchen paränetische Briefteile: Nach S. Krauter (371–401) entspricht die Legitimation faktischer Machtverhältnisse in Röm 13,1 jüdisch-hellenistischen Fürstenspiegeln, ähnelt aber vor allem der Rezeption der hellenistischen Herrscherideologie durch Josephus und einige römische Autoren (zumal Seneca). D. J. Bolton (617–629) weist gegen J. Dunn auf den halachischen Charakter des in 14,1–15,6 thematisierten Konflikts hin.
Innerhalb des für die Intention des Briefs und für das Selbstverständnis des Apostels gleichermaßen bedeutsamen Abschnitts 15,14–21 gibt F. W. Horn (225–246) den kultischen Motiven in V. 16 besonderes Gewicht: Paulus präsentiere sich vor dem Hintergrund der Erwählungsgeschichte Israels als »Priester Jesu Christi« (246) mit der Aufgabe, die Heiden Gott zuzuordnen.
Dem Briefschluss sind vier Beiträge gewidmet: S. Koch (699–712) ermittelt aus dem ethnographischen Wissen der Zeit mögliche Motive der geplanten Spanienreise; J. Barentsen (595–616) erkennt in Röm 16 (und 12) den – späteren Texten zufolge wohl erfolgreichen – Versuch des Paulus, apostolische Leitungsstrukturen in Rom zu etablieren; G. N. Uzukwu (779–787) deutet 16,1–16 als Umsetzung der Devise Gal 3,28 in die Praxis; S. Witetschek (811–825) diskutiert denkbare Gründe für das Fehlen eines Grußes an Petrus.
Eine Gruppe von zwölf Aufsätzen ist daneben mit der Unter­-suchung paulinischer Begriffe, Motive und Themen befasst: Dass Paulus δόξα als Attribut Gottes und als eschatologisches, im Christusglauben empfangenes Geschenk an die Menschen darstelle, das diese vom Rühmen zur Demut führe, steht nach J. Harrison (329–369) in Antithese zum Gloria-Ideal, das das Selbstverständnis der römischen Aristokraten und Cäsaren prägte. C. Breytenbach (247–277) schließt aus dem Gebrauch von χάρις und ἔλεος im Römerbrief (und Gal 6,16), dass Paulus die Sprache der griechisch-römischen Wohltat-Ideologie aufgreife, um den jüdischen Glauben an den barmherzigen Gott auszudrücken. T. Engberg-Pedersen (95–111) hingegen interpretiert die Rede von göttlicher Gnade und menschlichem Glauben, Hoffen und Lieben in Röm 3,21–8,39 als Spiegelbild römischen beneficium-Denkens, wie es u. a. im Werk Senecas dokumentiert sei. Passend dazu leitet C. Eschner (659–678) die Sätze vom »Sterben« Christi und von seiner »Hingabe für uns« in Röm 5,6–8; 8,32 gleichermaßen aus der griechischen Konzeption des apotropäischen Todes her. T. Schumacher (487–501) wiederum nennt Belege dafür, dass πίστις im Sinne des allgemein-griechischen Sprachgebrauchs bei Paulus auch zwischenmenschliches Vertrauen und göttliche Treue bezeichne. Andererseits legt C. Zimmermann (503–520) dar, wie Paulus die Rede vom »lebendig ma­chenden« Gott in 4,17; 8,11 unter Aufnahme jüdischer Traditionen bereits auf gegenwärtige Glaubenserfahrungen bezieht. E. Reinmuth (75–94) zeigt die Relevanz des Römerbriefs für den aktuellen öffentlichen Diskurs über »das Böse« auf: Nach Paulus sei es nicht moralisierend von einem abstrakt bestimmten »Guten«, sondern von Gottes befreiender, allem menschlichen Handeln zuvorkommender Liebe in der Geschichte Jesu Christi her in den Blick zu nehmen. M. Quesnel (55–73) legt dar, wie im Römerbrief der Tod Jesu Christi und der Tod der Menschen so aufeinander bezogen werden, dass in dieser Beziehung »der Tod« eine neue, finale Bestimmung erhalte. N. Chibici-Revneanu (425–439) entnimmt dem Vergleich mit entsprechenden Aussagen des Galaterbriefs (und 1Kor 15,56), dass »das Gesetz« erst im Römerbrief als durch die Sünde be-herrscht und erst durch Christus wieder zu sich selbst gebracht erscheint. E. E. Popkes (755–769) analysiert die Schriftbezüge im Kontext paulinischer Verstockungsaussagen und führt Röm 11,7.25 auf Jes 6,9 f.MT zurück. F. Blischke (403–423) beschreibt die Verwurzelung der paulinischen Ethik in der durch Glaube, Taufe und Geistbegabung neu gewonnenen Gottesbeziehung des Menschen, die je neu zu gestalten und fortzuentwickeln sei. E. Nathan (463–473) stellt drei Beiträge zur Debatte über die Rolle des »Bundes« im paulinischen Denken vor.
Fünf Aufsätze schließlich gehen programmatisch auf intertextuelle Bezüge des Römerbriefs ein: Während A. Mustakallio (453–461) die Analogien zur Jesusüberlieferung in Röm 12,19 f.; 13,7.11 f.; 14,17 bewertet, zeichnet M. T. Brien (475–486) einige Grundlinien der Nutzung des Psalters im Römerbrief nach. T. B. Sailors (563–594) prüft und klärt alle angeblichen Gemeinsamkeiten des Briefs mit 2. Baruch (wobei er nur Röm 11,33/2Bar 14,8 f. für eine »echte und bemerkenswerte Parallele« [586] hält). T. L. Brodie (521–542) sieht in Mt 1,1–17,20 den Römerbrief systematisch adaptiert; M. Lattke (543–562) stellt Schriftbezüge, Aussagen, Begriffe und Wendungen aus den Oden Salomos vor, die durch den Römerbrief vermittelt worden sein dürften.
Die Lektüre des Bandes hinterlässt in mehrfacher Hinsicht einen zwiespältigen Eindruck: Viele Beiträge enthalten wertvolle Anregungen zu einem vertieften Verständnis des Römerbriefs; etliche Aufsätze bieten aber im Grunde nichts, was nicht schon andernorts zu lesen war.
In der Summe spiegeln die Texte die Vielfalt an exegetischen Methoden und kontextuellen Zugängen sowie den reichen Ertrag ihrer Anwendung wider; es fehlt jedoch zumeist an einer Reflexion darüber, wie die unterschiedlichen Methoden und Zu­gänge sich zueinander verhalten und hermeneutisch integriert werden können. Zu diversen Themen wird die neuere Auslegungsgeschichte explizit (naturgemäß nur fragmentarisch) referiert; insgesamt aber bietet das Buch das durchaus erschreckende Bild einer zerfaserten, in diversen, kaum miteinander vernetzten Gesprächsfäden verlaufenden Forschung. Die Fülle der angesprochenen formalen und inhaltlichen Aspekte des Römerbriefs ist beeindru­ckend; andererseits bleiben so grundlegende Fragen wie die nach seiner Gesamtdisposition oder nach der eschatologischen Orientierung seiner Botschaft weitgehend unberücksichtigt.
Als Referenzwerk zur Exegese des Römerbriefs eignet sich der Band daher nur bedingt. Gleichwohl beinhaltet er vieles, was die gründliche Lektüre und die eingehende Reflexion lohnt.