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Ausgabe: | September/2011 |
Spalte: | 889-892 |
Kategorie: | Neues Testament |
Autor/Hrsg.: | Hartman, Lars |
Titel/Untertitel: | Mark for the Nations. A Text- and Reader-Oriented Commentary. |
Verlag: | Eugene: Pickwick (Wipf & Stock) 2010. XIII, 690 S. gr.8°. Kart. US$ 70,00. ISBN 978-1-55635-894-4. |
Rezensent: | Martin Meiser |
Lars Hartman war schon durch sein Buch Prophecy Interpreted. The Formation of Some Jewish Apocalyptic Texts and of the Eschatological Discourse Mark 13 Par. als Markusspezialist hervorgetreten. Der hier anzuzeigende Einzelkommentar ist eine durch ihn selbst vorgenommene Übersetzung seines vor einigen Jahren in Schweden erschienenen Werkes (Markusevangeliet [Kommentar till Nya testamentet|], Stockholm 2004/05). Untertitel und Vorwort enthalten bereits die Zielsetzung: H. kommentiert den Text, wie ihn seine heidenchristlichen, aber teilweise mit der Septuaginta vertrauten Rezipienten verstehen konnten, nicht dessen Vorgeschichte, nicht die Intention des Autors, nicht das Geschehen, von dem der Text Kunde gibt (IX–XIII). Die Segmentierung und Kommentierung erfolgt in großen Bogen (z. B. 2,1–3,12; 4,35–6,6a; 11,1–12,12). Der Übersetzung folgen jeweils »Notes« mit textkritischer Diskussion und reichhaltigem religionsgeschichtlichen Vergleichsmaterial, die »Analysis« nach den Regeln moderner Textanalyse unter Einbezug des narrative criticism etc. mit den Überschriften »context«, »construction« und »characters« sowie die »Exposition« dessen, was der Text damals den Rezipierenden sagen konnte. In den abschließend behandelten Einleitungsfragen (672–685) wird deutlich, wie wenig Gesichertes man über das Markusevangelium sagen kann:
Entstanden ist es wohl kurz vor der Tempelzerstörung (Mk 13,2 hat sich im Detail nicht bewahrheitet; 677) nicht in Rom selbst (hiergegen spricht der im Römerbrief vorausgesetzte hohe Anteil an Judenchristen), vielleicht aber in Italien allgemein (673). Es ist mit biblischem Stil koloriert, sollte ähnlich wie ein biblischer Text verwendet werden (674) und wurde wohl auch im Gottesdienst laut verlesen (680). Der Autor ist unbekannt, die altkirchlichen Traditionen sind historisch nicht zu sichern. Ob er Jude ist oder ob er nur von jüdischen Bräuchen weiß, lässt H. offen (Mk 7,3 f. ist nicht völlig korrekt, ist aber auch polemisch; 286–288). H. verzichtet durchweg auf Fußnoten. Die Bibliographie ist sehr kurz gehalten.
Was sind die wesentlichen Charakteristika dieses Kommentars? Zunächst soll der Blick auf einige der Erzählfiguren fallen.
Für die Person Jesu Christi sind bekanntlich der Gottessohn- und der Menschensohntitel von Bedeutung. Der urchristliche Gottessohntitel verbindet die Anwendung auf den Gerechten im Sinne von Weish 2,18 mit messianischen Tönen von Ps 2,7 und 2Sam 7,12–14. Speziell im Markusevangelium benennt er Jesus als Repräsentanten Gottes (41). Den Menschensohntitel leitet H. von Dan 7,13 ab, nicht von den Bilderreden äthHen 37–71, die H. auf die zweite Hälfte des ersten nachchristlichen Jh.s datiert. Der Menschensohn von Dan 7,13 ist Symbolfigur, wie die vier Tiere vier Weltreiche symbolisieren, er repräsentiert, ja inkorporiert das Volk Gottes (117), was die Interpretation von Mk 8,38; 13,26; 14,62 mitbestimmt. Im Unterschied zu den Evangelien kommt der Menschenähnliche nach Dan 7 zu Gott, nicht auf die Erde, und Gott ist es, nicht der Menschenähnliche, der das Gericht vollzieht. Jesus selbst hat den Menschensohntitel verwendet; die Worte vom leidenden Menschensohn gehören allerdings der Ebene der Endredaktion des Markusevangeliums an (119).
Jesu Identität wird auch in den Schweigegeboten an die Jünger, an die Dämonen und an die Geheilten berührt, die beiden letzteren werden jedoch oft genug gebrochen (78–80). Auch H. sieht hier eine Spannung zwischen Vergangenheit und Gegenwart bearbeitet; die Unterschiede zur Messiasgeheimnistheorie Wredes (H. nennt ihn nirgends!) zeigen die bekannte Weiterentwicklung in der Markusforschung: H. unterscheidet nicht nur zwischen der Historie Jesu und dem Gemeindeglauben, vielmehr tritt die Textwelt des Markusevangeliums dazwischen; Jesu Leben gilt H. keineswegs als unmessianisch; und die These der vormarkinischen Herkunft dieses Ausgleichskonzeptes wird nicht einmal mehr erwähnt (den derzeitigen Forschungskonsens spiegelt auch die Funktionsbestimmung der sog. Parabeltheorie wider: Sie will den missionarischen Misserfolg der Gemeinde zur Zeit des Evangelisten erklären [177]).
Die Jünger erfüllen mehrere Rollen: Sie sind in historischer Perspektive die Begleiter Jesu und Adressaten seiner Lehre, gegenwartsbezogen sowohl deren Nachfolger als Prediger und Führungsfiguren in der Kirche, aber auch Figuren, mit denen sich die gewöhnlichen Leser mit ihrer Schwäche und Zaghaftigkeit identifizieren können (268.662–664).
Die Volksmenge ist Adressat des Handelns Jesu (Mk 10,45; 14,24; 1,33 f.; 6,30–44 etc.), aber oft wenig einsichtig, nicht nur während des Pilatusprozesses. Manchmal (so H. zu Mk 8,34) steht die Volksmenge aber auch für die gewöhnlichen Gemeindeglieder der Gegenwart (349).
Hinsichtlich des Rezeptionshorizontes der Leser hat der konsequent heidenchristliche Ansatz Implikationen für die Einzelauslegung, für die H. auf eine profunde Kenntnis griechisch-römischer literarischer Traditionen zurückgreifen kann. Beispiele müssen genügen: Das Fasten der Johannesjünger werden die Heidenchristen wohl eher als Askese zur Bezähmung der leiblichen Begehrlichkeit aufgefasst haben (124 f.). In Mk 10,45 haben sie wohl weniger einen Anklang an Jes 53 als vielmehr an die im griechisch-römischen Kulturkreis beheimateten Erzählungen über die freiwillige Selbstaufopferung gehört (451).
H. bedenkt auch die Vertrautheit mindestens einiger der Erstrezipienten mit der Septuaginta, kommt jedoch zu unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich dessen, was an biblischem Material die Leser assoziieren konnten: Die biblisch versierteren Heidenchristen werden die Speisungsgeschichten Elias und Elisas (263) wie die Weissagung Sach 9,9 gekannt haben (469), ferner Dan 3 (499, zu Mk 12,17), ebenso im Allgemeinen den jüdischen Passa-Ritus (578), aber wohl kaum Ex 24,8 oder Am 8,9 und die Erwartung Elias als Nothelfer (631), ebenso wenig jüdische Adamlegenden (34). Offen bleibt auch, ob die Leser die Auferweckungsankündigung Mk 8,31 im Sinne von Dan 12,2 f. und Weish 3,1–8 verstanden (344).
Auch zur Konzeption der Gottesherrschaft wird das religionsgeschichtliche Vergleichsmaterial unter diesem doppelten Rezeptionshorizont dargeboten: Natürlich werden Jes 52,7; Dan 2,44.47; OrSib 3,47 f.767–773 genannt, aber auch der Zeus-Hymnus des Kleanthes und Epiktets Kyniker-Diatribe (Epiktet, Diss. 3,22), wo die Herrschaft Gottes als die Verwirklichung seines Willens und seiner Gebote durch den Menschen gesehen wird (Weish 6,18–21 greift das auf).
Eher verhalten kommt die äußere Situation der markinischen Gemeinde in den Blick. Die Leidensankündigungen zeigen den Lesern, dass Jesus mit offenen Augen in diesen Teil seiner Sendung hineinging (336). Eine mögliche apologetische Funktion wird aber nicht expliziert. Zu Mk 15,1–15 könnte deutlicher herausgestellt werden, dass Jesus – und damit leserorientiert die Gruppe der im Markusevangelium repräsentierten Jesusanhänger – von jeglichem Vorwurf der Unruhestiftung dissoziiert werden soll.
Abschließend seien einige Einzelentscheidungen notiert.
In Mk 1,1 ist textkritisch die Langform vorauszusetzen; die Kurzform ist wohl durch Erinnerung an den paulinischen Sprachgebrauch entstanden (3). Hinsichtlich des Begriffes »Evangelium« teilt Markus einen urchristlichen Sprachgebrauch, den H. weder von der römischen Herrscherideologie ableitet noch von Jes 52,7, sondern von Paralipomena Jeremiae 3,15; 5,19: »It seems to me that the passage intimates that a Jewish manner of speaking existed that the prophets delivered the good news (›evangelized‹) in the sense that their texts were re-read as good news« (21). Der Täufer wird als Asket gezeichnet; Bezüge zur Lebensweise Elias erschließen sich erst von Mk 9,12 f. her (27).
Zu Mk 5,9 wird erklärt, dass eine römische Legion theoretisch 5000 und praktisch zumeist 3600 Soldaten hatte (198), der Dämonenname »Legion« wird später mit »many« erklärt (217), ohne dass eine politische Dimension erwogen wird (die neue imperiumskritische Auslegungsrichtung kommt bei H. nicht positiv in den Blick).
Bei Mk 6,16 ist wohl an Nekromantie zu denken, so dass der Leser Herodes Antipas nicht nur als grausam, sondern zusätzlich als abergläubische Person empfinden wird (243). Eine heidenchristliche Perspektive ist in Mk 7,1–37, aber nicht in Mk 8,1–9 im Blick (312).
In Mk 9,2–9 sehen die drei Jünger einen Vorgeschmack der Auferstehungsherrlichkeit Christi, die 8,31 angesprochen war. Im Unterschied zu griechischen Erzählungen von Göttern, die sich selbst verwandeln, ist bei Jesus im Passiv davon die Rede (373).
Der Davidssohntitel in Mk 10,47 hat nicht Salomos exorzistische Fähigkeiten im Auge, sondern ist messianisch gemeint (453). Mk 11,10 ist wohl auf dem Hintergrund von 2Sam 7,12 zu erklären (459). Ansprechend ist H.s Lösung der crux interpretum des inneren Zusammenhanges der einzelnen Textteile in Mk 11,12–25: Die Verfluchung des Feigenbaums ist Symbol für den nahenden Untergang des Tempels; Glaube, Gebet und Sündenvergebung sind die neuen Bedingungen für die Gottesverehrung (473–475).
Dass Mk 14,22–24 auf einen liturgischen Ritus Bezug nimmt, ist dem Text nicht unmittelbar zu entnehmen (es fehlt die Aufforderung »Tut dies zu meinem Gedächtnis!«); Markus geht es um die Deutung des Todes Jesu als Selbsthingabe (580 f.), die eine neue Beziehung zwischen Gott und den Vielen inkl. der Leser stiftet (583 f.). Jesu Klage in Gethsemane zeigt christologisch seine Menschheit (588), dürfte aber als unphilosophisch empfunden worden sein (590). Mk 14,50 spiegelt Fehlverhalten in Zeiten der Verfolgung (610). Mk 14,58 konnten die markinischen Leser unter Kenntnis von 1Kor 3,16 f. als Voraussage ihrer eigenen Existenz verstehen – Falschaussage ist Mk 14,58 nur, weil es zu sehr vereinfacht (613). Mk 14,62 formuliert nicht in historischer Perspektive den Grund zum Urteil über Jesus (617), sondern ist Bestätigung der Christologie der markinischen Leser, die aber für das »offizielle Judentum« (615) nicht akzeptabel ist.
Bei der Auffindung des leeren Grabes konnten die Leser an Traditionen wie Chareas und Kallirhoe 3.3.1 denken, wo ebenfalls die Leser im Unterschied zu Chareas wussten, dass Kallirhoe nicht tot war, sondern das Grab verlassen hatte (652). Ob das Markusevangelium ursprünglich mit Mk 16,8 geschlossen hat, kann man fragen; sicher ist, dass es Matthäus und Lukas nicht anders als mit diesem Ende kannten (658).
Abschließend kann man H. nur gratulieren zu diesem Werk, das vor allem religionsgeschichtlich eine Fundgrube ersten Ranges darstellt.