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Ausgabe:

September/2011

Spalte:

886-889

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gielen, Marlis

Titel/Untertitel:

Paulus im Gespräch – Themen paulinischer Theologie.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2009. 282 S. gr.8° = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 186. Kart. EUR 58,00. ISBN 978-3-17-020966-4.

Rezensent:

Oda Wischmeyer

Marlis Gielen, Professorin für Neues Testament in Salzburg, legt in diesem Aufsatzband Paulusbeiträge aus den letzten zehn Jahren vor. Die Beiträge sind drei thematischen Bereichen zugeordnet. Der erste Bereich umfasst theologische Themen im engeren Sinn: Anthropologie, Eschatologie und Spiritualität, der zweite Bereich gilt dem Thema der Frau in den paulinischen Gemeinden, der dritte Bereich bündelt anwendungsbezogene Beiträge »im kirchlichen Kontext« (8).
Den wichtigsten Platz nimmt der Eröffnungsbeitrag ein: »Paulus – Gefangener in Ephesus?« (15–48). G. setzt sich engagiert mit der alten, besonders von U. B. Müller zum Philipperbrief vertretenen These auseinander (s. die Literatur in Anm. 13), der Philipperbrief und der Philemonbrief seien während einer längeren Gefangenschaft des Paulus in Ephesus entstanden (ausführlich begründet bereits bei W. Michaelis, Der Brief des Paulus an die Philipper, ThHK 11, Leipzig 1935). G. zeigt m. E. überzeugend die Schwächen der auch gegenwärtig häufig vertretenen Ephesus-Hypothese auf. Ein wissenschaftlicher Konsens wird sich bei diesem Thema, bei dem sich einleitungstechnische, literarkritische und theologische Fragen und Einschätzungen verbinden, allerdings kaum erzielen lassen. [S. 15 ist im ersten Satz ein ärgerlicher Fehler stehen geblieben: Statt Asia lesen wir »Achaia«.]
Die vier Beiträge in Gruppe I. gelten zentralen paulinischen Theo­logumena: Anthropologie, Doxa, Totenauferweckung und Pneu­matologie. Die »Grundzüge paulinischer Anthropologie im Lichte des eschatologischen Heilsgeschehens in Jesus Christus« (49–75) – Helmut Merklein gewidmet – arbeiten die »christologisch-soteriologische Fundierung der paulinischen Anthropologie« (49) aus. Es ist – auch ökumenisch – bemerkenswert, wie G. in diesem Aufsatz an Bultmanns Grundsatz anknüpft: »So ist auch jeder Satz über Christus ein Satz über den Menschen und umgekehrt; und die paulinische Christologie ist zugleich Soteriologie« (50, Anm. 3). In der Ausarbeitung baut G. auf der Biographie des Paulus auf und leitet aus seinem eigenen »Offenbarungserlebnis« (56) ihre Darstellung des »Existenzwechsels« (56) im Horizont der Rechtfertigungstheologie ab. Diese macht sie nach dem Römerbrief und dem 2. Korintherbrief auf ihre »kulttypologische[n]« (59) und versöhnungs- bzw. sündopfertheologischen (62) und kreuzestheologischen Voraussetzungen und Implikationen hin durchsichtig. Besonders wichtig ist G.s Wahl des Ausgangspunktes für die »Neukonstituierung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen als Christusebenbildlichkeit« (63): »Die soteriologisch-christologische Fundierung der An­thropologie bei Paulus impliziert, daß er sie nicht von der Protologie her entwickelt, sondern von der Eschatologie« (63 f.). Die Ausführungen zu 2Kor 3,18 und 4,4.6 verdienen besondere Auf­merksamkeit. Sowohl die Übersetzung von κατοπτριζόμενοι mit »wie in einem Spiegel sehen« als auch die Verbindung mit φωτισμός τοῠ εὐαγγελίου überzeugen exegetisch und sind für die eschatologisch-spekulative Anthropologie des neuen Menschen in Christus entscheidend. Der Hinweis auf 1Kor 15,49 macht diese Anthropologie endgültig plausibel. G. hat die Komponente der εἰκών-An­­thro­pologie und ihre Analogie zur εἰκών-Christologie über­zeugend dargelegt. Gerade im Zusammenhang einer wenig reflektierten um­gangstheologischen kirchlichen Rede von der Geschöpflichkeit verdient dieser Beitrag, der die kühnen theologischen Spekulationen – so muss und darf man sie sicher nennen – des Paulus über ›den Menschen seit Christus‹ entfaltet, besondere Beachtung. Das gilt umso mehr im Kontext einer von Bultmanns anthropologischen Begriffen bestimmten Darstellung der paulinischen Anthropologie, die die neue Existenz in Christus weniger von der εἰκών-Anthropologie her entwickelt (z. B. O. Wischmeyer, U. Schnel­le; anders E. Reinmuth, ohne Verweis auf G.). Die gewichtige Studie zu Doxa: »Von Herrlichkeit zu Herrlichkeit. Doxa bei Paulus zwischen den Polen protologischer und eschatologischer Gottes­ebenbildlichkeit am Beispiel der Korintherkorrespondenz« (76–111), vertieft die Linie des vorangehenden Beitrags weiter.
Dasselbe gilt für den Beitrag: »Universale Totenauferweckung und universales Heil? 1Kor 15,20–28 im Kontext paulinischer Theologie« (112–130). G. liest 15,20–28 anders als die Mehrheit der Exegeten nicht so sehr temporal-eschatologisch, sondern als eine ausgeweitete Militärmetapher zur Erhellung der einzelnen Phasen des allgemeinen Auferstehungsgeschehens: Christus kämpft gegen die Mächte und Gewalten und gegen den Tod. Er selbst bildet die ἀπαρχή der Auferweckten. Die Christen bilden die erste Kampflinie, dann folgt die große Menge der Nichtchristen, im Text als τάγμα, von G. mit »Legion« übersetzt, bezeichnet. Diese Interpretation kann sich auf die Übersetzung von τάγμα und τέλος stützen, die sich beide im Sinne von Legion übersetzen lassen. Insgesamt ist diese Interpretation aber nicht zu halten, da ἀπαρχή als kultische Metapher fungiert und nicht als »Vorhut« oder (militärischer) »An­führer« belegt ist. Auch die strenge zeitliche Struktur des Textes spricht für ein eschatologisches Szenarium, das wie viele apokalyptische Entwürfe auch militärische Konnotationen enthält – hier liegt auch die bleibende Berechtigung des Ansatzes von G. –, aber doch primär nach zeitlichen und statusbezogenen Abläufen ( τάγμα und τέλος lassen sich ja auch in diesen Kontexten übersetzen) zu lesen ist. Τέλος wird man in diesem Zusammenhang am ehesten als Vollendung oder Siegespreis verstehen. Auch die Differenzierung zwischen Auferweckung und Endereignissen, die G. als nicht textgemäß versteht, lässt sich vermeiden: Christus ist an beidem führend beteiligt. Das Geschehen, das in 15,20–28 knapp skizziert wird, zielt auf die absolute Gottesherrschaft, in der nichts Gegengöttliches mehr ist – vor allem nicht mehr der Tod (121 ff.). Abschließend akzentuiert G. die universale Perspektive des Textes und stellt die Frage nach der Rolle des Christusbekenntnisses und des Glaubens für die Teilhabe an der Christusherrschaft bzw. der Auferweckung. Sie weist ganz zu Recht einerseits auf die Bedeutung der Universalität von Gottes Handeln in Schöpfung und Neuschöpfung, andererseits auf die spezifische Textpragmatik (die Auferstehungsleugner in Korinth) hin. Vielleicht müsste man hier noch weiterdenken und deutlich machen, dass ein theozentrischer schöpfungstheologischer Ansatz bei Adam von vornherein universalistisch ist und Christus als zweiter Adam gleichsam den Zustand vor der Schöpfung wiederherstellt (15,28), während der ekklesio­logische Ansatz beim Christusbekenntnis der Gemeindeglieder zu­nächst individuell und gruppenbezogen ist. Allerdings zeigt dann das überraschende Ende von Röm 11, dass auch von diesem Ansatz aus die universale theozentrische Heilsperspektive den Fluchtpunkt paulinischen Denkens bildet (Röm 11,32).
Der vierte Beitrag gilt der Pneumatologie: »›Löscht den Geist nicht aus, verachtet prophetische Reden nicht!‹ (1Thess 5,19 f.). Zur Grundlegung einer christlichen Spiritualität bei Paulus« (131–157). G. zeichnet ein sicheres und textnahes Bild dessen, was sie »Spiritualität des Prophetischen« nennt (154). Interessant sind ihre Folgerungen für die heutige Zeit, d. h. für die gegenwärtige katholische Kirche. G. beleuchtet drei Impulse: 1. Alle Christen sind Geistträger. Hier kommt die Bedeutung der Taufe zum Tragen (154) – fraglos ein evangelisches Charakteristikum 2. Die Kirche und die Ge­meinden sind »Erfahrungsraum des Heiligen« und »müssen« sich »wieder neu« als dieser »begreifen lernen« (154). Hier frage ich mich, wie heute »das Heilige« sachlich gefüllt werden soll. So deutlich der Begriff bei Paulus konturiert ist (theologisch und ethisch), so unklar ist er in der gegenwärtigen religiösen Gemengelage. 3. Paulus betont die prophetische Dimension der Spiritualität (156). Auch hier frage ich mich, wie die christlichen Kirchen heute den Begriff, der zweifelsohne einerseits suggestiv, andererseits aber mindes­tens gänzlich kontingent – und das heißt: unverfügbar und nicht einklagbar – ist und sich jeder Beschwörung oder Ermahnung entzieht, füllen wollen. Appelle, auch wohlgemeinte und exegetisch begründete, können da nichts nützen.
In Teil II sind zwei gewichtige exegetische Studien zum Thema »Frauen in paulinischen Gemeinden« abgedruckt, die jede Exegetin zu eigener Arbeit und Positionierung reizen. Der Beitrag »Beten und Prophezeien mit unverhülltem Kopf? Die Kontroverse zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde um die Wahrung der Geschlechtsrollensymbolik [sprachlich besser: Geschlechterrollen] in 1Kor 11,2–16« (159–186), erschienen 1999, gilt einer wirkli­chen crux interpretum. G. votiert mit eindrucksvollen Argumenten für die Haartrachthypothese, modifiziert diese aber, indem sie davon ausgeht, die Frauen in der korinthischen Gemeinde hätten sich die Haare kurz geschnitten wie die Männer. Dies würde gut zu den Versen 14 und 15 passen, ist aber m. E. schwer außerhalb der Gemeindeversammlungen vorstellbar. Hier führt doch vielleicht eher der Ansatz von B. W. Winter (Roman Wives, Roman Widows, Grand Rapids/Cambridge U. K. 2003) weiter, der für die Schleier-Hypothese im Kontext der römischen Eheauffassung plädiert (96). Die Frage, inwieweit Paulus überhaupt verstanden hat, was in den korinthischen Gemeindeversammlungen vor sich ging, darf wei­terhin gestellt werden.
Auch der zweite Beitrag »Stellung und Funktionen von Frauen in paulinischen Gemeinden« (2003) beschäftigt sich mit zentralen paulinischen Texten, allerdings im Modus der Zusammenfassung statt im Modus der exegetischen Diskussion. Als Paulustexte fungieren Röm 16,1–16 und nochmals 1Kor 11, während 1Kor 14,33b–36 als spätere Glosse den Pastoralbriefen zugerechnet wird. Fazit: »Die … echten Paulusbriefe, bieten ein Bild der Gleichberechtigung von Frauen und Männern bei der Erfüllung gemeindlicher Aufgaben« (199). Dies Urteil beruht auf der Annahme der Lesart Junia statt Junias in Röm 16,7. Damit finden sich in der Grußliste des Römerbriefes zwei gleichberechtigte Ehepaare: Prisca und Aquila sowie Andronikos und Junia. G. wendet sich dann den Aussagen über die Frauen in den Deuteropaulinen und den Pastoralbriefen zu und resümiert: »Die Entwicklung der Stellung und Funktionen von Frauen in den paulinischen Gemeinden der drei ersten urchristlichen Generationen … ist gleichbedeutend mit einer stetigen Einschränkung des Handlungsspielraums von Frauen« (207). Hier findet sich ein Echo der Zuversicht protestantischer (männlicher und weiblicher) Exegese spätestens seit den 60er Jahren des letzten Jh.s (H. Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther, KEK V, Göttingen 1969, 290: 1Kor 14 ist eine Glosse), in den Anfängen die ursprüng­-liche evangelische Freiheit zu finden, die es für die Gegenwart wiederzuentde­cken gilt.
Ähnliches lässt sich für die Beiträge in Teil III sagen, die alle »Anstöße zu neuen Handlungsperspektiven im kirchlichen Kontext« geben wollen. Thematisiert werden 1. das Herrenmahl: »Mut zur Herrenmahlgemeinschaft. Ökumenische Impulse aus pauli­nischer Perspektive« (211–222), 2. die Sexualethik: »Der Leib aber ist nicht für die Unzucht. Möglichkeiten und Grenzen heutiger Rezeption sexualethischer Aussagen des Paulus in exegetischer Perspektive« (223–246), und 3. die Charismen: »Zur not-wendigen Wie­derentdeckung der Charismen in ihrer ekklesiologischen Funktion und pastoralen Bedeutung am Beginn des 21. Jh.s. Ein exegetisches Plädoyer aus paulinischer Perspektive« (247–282). Diese Beiträge sind Ausdruck der Überzeugung, dass die Exegese des Neuen Testaments nicht nur im altertumswissenschaftlichen, judaistischen, religionsgeschichtlichen und patristischen Zusammenhang arbeitet, sondern selbst mit ihren Ergebnissen und Fragestellungen theologische und pastorale Kompetenzen hat und haben muss.
Die Lektüre der Aufsätze zeigt aus Sicht der Rezensentin nicht nur, dass jede neue Beschäftigung mit Paulus ein wissenschaftliches und persönliches Abenteuer ist, eine stets neue Konfrontation mit komplizierten Texten, sondern auch, wie sehr jede exegetische Lösung den zeitgeschichtlichen, konfessionellen und auch den persönlichen Kontextualisierungen der Exegeten verpflichtet bleibt und damit gleichzeitig vorläufig und aktuell ist. Wir schreiben nicht für die Ewigkeit, sondern für unsere Zeit. In einer Situation, in der jede akademische Beschäftigung sich nach ihrer Relevanz für die Gesellschaft fragen lassen muss, ist dies nicht das unwichtigste Ergebnis einer kritischen Lektüre exegetischer Beiträge aus den letzten zehn Jahren.