Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

September/2011

Spalte:

881-883

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Weimar, Peter

Titel/Untertitel:

Die doppelte Thamar. Thomas Manns Novelle als Kommentar der Thamarerzählung des Genesisbuches.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Theologie 2008. X, 156 S. 8° = Biblisch-Theologische Studien, 99. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-7887-2334-7.

Rezensent:

Rüdiger Lux

Die Josefstetralogie Thomas Manns stellte immer wieder eine Herausforderung für Alttestamentler dar, sich mit diesem »Jahrhundertroman« zu beschäftigen. Es liegen aber bisher kaum Studien vor, die sich in dieser Gründlichkeit mit dem Verhältnis des Romans zu seiner biblischen Vorlage sowie den von Th. Mann eingesehenen Bibelkommentaren (vor allem dem von Benno Jacob!) und der einschlägigen Fachliteratur beschäftigt haben, wie das hier der Fall ist. Dass dies in einer schmalen Studie nur exemplarisch geschehen kann, versteht sich von selbst. Peter Weimar hat sich dabei auf die in den letzten Teil der Tetralogie eingeschaltete novellistische Erzählung über Juda und Thamar beschränkt. In fünf Kapiteln entfaltet er sein Thema.
Nach einer knappen Einleitung in den Josefsroman als biblische Dichtung folgt ein erster Hauptteil, der den Ort der Thamarerzählung im Roman näher in Blick nimmt. Das dabei sowohl für die literarische Technik des Erzählers als auch für die Theologie der Erzählung höchst aufschlussreiche »Losungswort« (9) lautet »Einschaltung«. Es kennzeichnet als Strukturprinzip sowohl die biblische Vorlage in Gen 38 im Rahmen der Genesis im weiteren und der Josefsgeschichte (Gen 37–50) im engeren Sinne als auch die Stellung der Thamarnovelle im letzten Teil der Tetralogie Th. Manns. Eindrucksvoll, kenntnisreich und mit einer Fülle von Detailbeobachtungen wird dabei nachgewiesen, dass es sich hier nicht nur um die Einschaltung eines literarischen Stoffes in ein größeres Ganzes handelt, sondern auf der inhaltlichen und theologischen Ebene auch um die zielstrebige Einschaltung der Kanaanäerin Thamar in die Geschichte des Gottesvolkes Israel, aus der sie sich gegen alle Widerstände nicht mehr ausschalten lässt. Meisterhaft versteht es W., die Kompositionstechniken des Erzählers aufzuzeigen und die Figur Thamars als Schülerin zu Füßen Jakobs in ihrer Bedeutung für das Gesamtkonzept des Romans herauszuarbeiten. Die Ausgangs- und Leitfrage des Erzählers – »und was für ein Weib ist das?« (25) – wird Zug um Zug entfaltet. Sie ist eine, die entschlossen ihre Rolle in der Geschichte sucht und schließlich feststellt: »Denn siehe: ich bin die Frau nicht, die sich vertilgen lässt samt ihrem Sohn vom Erbe Gottes« (29).
In einem dritten Kapitel wendet sich W. dann Gen 38 als der biblischen Vorlage Th. Manns zu. Dabei wird auf der Grundlage eigener Textbeobachtungen und der einschlägigen Fachliteratur ein instruktiver Einblick in die Sonderrolle gegeben, die das Kapitel in der Genesis spielt, aber – wichtiger noch! – auch auf die un­übersehbaren redaktionellen Verknüpfungen des Kapitels mit seinem näheren Kontext in der Josefsgeschichte und darüber hinaus verwiesen. Es wird die Funktion von Gen 38 erschlossen, nämlich die Wandlung der Rolle Judas im Rahmen der Judatexte der Josefsgeschichte (Gen 37,26 f.44,18–34) bis hin zum Sterbesegen Jakobs über Juda (Gen 49,8–12) zu plausibilisieren. Gen 38 erweist sich dabei als eine sorgfältig gestaltete »literarisch-theologische Konstruktion« (52) aus nachexilischer Zeit (54).
Im vierten Kapitel wechselt die Studie von der biblischen Exegese wieder zurück zur Roman-Exegese und gibt anhand von ausgewählten Beispielen einen aufschlussreichen Einblick in die Werkstatt des Erzählers Th. Mann. Seine Arbeitsweise, die Mann in der Selbstcharakterisierung »wie ein rabbinischer Midrasch« (70 ff.) offengelegt hat, wird mehrfach durch synoptische Textvergleiche veranschaulicht. Durch die Nebeneinanderstellung von Auszügen aus dem Genesiskommentar von B. Jacob, der Thamarnovelle Th. Manns und dem biblischen Text gewinnt der Leser geradezu den Eindruck, als dürfe er dem großen Erzähler des 20. Jh.s an seinem Schreibtisch über die Schulter schauen. Überzeugend wird nachgewiesen, wie er Lücken, Brüche und Nichtgesagtes im Bibeltext durch kreative Phantasie auffüllt, deutet und umdeutet, dabei aber nicht willkürlich vorgeht, sondern sich und seinen Lesern den Sinn der biblischen Erzählung durch eine überaus reflektierte Montage von Schriftzitaten (94 f.) sowie den geweiteten Blick auf das narrative Gesamtkonzept der Genesis erschließt. Besonders aufschlussreich ist dabei die Analyse der Querverbindungen zum Buch Rut (99ff.) und zu den gesetzlichen Bestimmungen der Leviratsehe (Dtn 25,5–10) als einer Erfindung Thamars (102 ff.), die damit »in die Rolle einer Prophetin« schlüpft (106), sowie die Rolle Thamars als »Ersatz-Josef« (109 ff.). Der Reichtum der Entdeckungen, die W. in diesem Kapitel präsentiert, kann damit nur angedeutet werden.
Das Buch schließt mit einem kurzen Ausblick auf die Bedeutung des Bibelauslegers und Erzählers Th. Mann für die Exegese (137 ff.). Selbst wenn man W. in seinen diachronen Analysen von Gen 38 nicht in jedem Detail folgen mag (etwa hinsichtlich der literargeschichtlichen Einordnung der Judatexte in die Josefsgeschichte, über die m. E. noch nicht das letzte Wort gesprochen sein dürfte), so ändert das nichts daran, dass es ihm überzeugend gelungen ist, Th. Mann als einen Exegeten von Rang und die historisch-kritische Bibelexegese in einen fruchtbaren Dialog zu bringen. W. vermag zu zeigen, welchen Gewinn eine diachron reflektierte und zugleich in der Sache konsequent synchrone Lektüre von Gen 38 auf der Ebene des Endtextes der Genesis auch exegetisch mit sich bringt. Da werden plötzlich Perspektiven sichtbar (die Verknüpfung zwischen Gen 38 und 49,8–12; die »Remythisierung« des Textes und seine damit gegebene Einbettung in das menschheitsgeschichtliche Gesamtkonzept der Genesis u. a.), die bisher in der Fachexegese ein blinder Fleck gewesen sind oder nur andeutungsweise wahrgenommen wurden. Das Schlussvotum W.s, dass Th. Mann die Bibelexegese zu einem neuen »Nachdenken über die mit dem Genesisbuch verbundenen literarischen und theologischen Perspektiven« herausfordert (145), kann man nach der Lektüre dieser aufschlussreichen und gelungenen Studie, die durch ein Literaturverzeichnis und Stellenregister abgeschlossen wird, nur unterstreichen.