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Ausgabe:

Juli/August/2011

Spalte:

831-847

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Michael Weinrich

Titel/Untertitel:

Ist der Weg das Ziel?
Zur aktuellen Debatte um die ökumenische Hermeneutik1

»Die Zeit des institutionalisierten Ökumenismus geht zu Ende. Die Zeit für konziliares Leben, konziliare Entscheidungen und konziliares Handeln muss beginnen. Die ökumenischen Strukturen und Entscheidungsprozesse müssen in einer Weise neugestaltet werden, die eine Herausforderung für die Kirchen ist, zu einer konziliaren Gemeinschaft zusammenzuwachsen. Die konziliare Gemeinschaft stellt in der Tat eine ernsthafte Infragestellung von Konfessionalismus, Provinzialismus, Universalismus und Bilateralismus dar.«
Aram I, Katholikos von Kilikien2


1. Die Großwetterlage zu Beginn des 21. Jahrhunderts


Die aktuelle Literatur ist sich darüber einig, dass die Ökumene an Fahrt verloren hat oder gar zum Stillstand gekommen ist. Allseits werden bemerkenswerte Veränderungen registriert, die einen Bedarf nahelegen, den Kurs der Ökumene insgesamt neu zu justieren. Dabei werden recht unterschiedliche Vorgaben und Bedingungen ins Spiel gebracht. Dieser Beitrag fragt nach den verschiedenen Konzeptionen für eine ökumenische Hermeneutik, die für eine solche Neuorientierung als Erfolg versprechend eingeschätzt werden. Die folgenden Orientierungen gehen von einem sehr weit gefassten Verständnis von Hermeneutik aus, das die verschiedenen Leitmotive zusammenzubringen versucht, mit denen sich nach heutigem Erkenntnisstand eine tragfähige und zukunftsweisende ökumenische Perspektive mit ihren unterschiedlichen Ebenen entwickeln lässt. Das theologische Lehrgespräch ist längst nicht mehr das einzige und für manche auch nicht einmal mehr das zentrale Instrument für ein verheißungsvolles ökumenisches Vorankommen, sondern es wird eingereiht in eine Fülle unterschiedlicher Aufmerksamkeitsaspekte, die auf recht verschiedenen Ebenen liegen. Schon die Rhetorik, mit der diese nun in die Waagschale ge­worfenen Orientierungen beschrieben werden, fällt auffällig verschieden aus, so dass es nicht verwundert, wenn auch die ins Auge gefassten Wege recht unterschiedliche Richtungen einschlagen.
Erwartungsgemäß lässt sich feststellen, dass die verschiedenen Reaktionen innerhalb der jeweiligen Konfession näher beieinander liegen, als dies über die Konfessionsgrenzen hinweg der Fall ist. Dies sollte jedoch nicht allein als ein Ausdruck einer zu registrierenden Rekonfessionalisierung bewertet werden, die mit einer schleichenden Ausdünnung des ökumenischen Engagements einhergeht. Vielmehr bleibt durchaus das ernsthafte Bemühen um das Anliegen der Ökumene im Vordergrund des Interesses, auch wenn die Instrumentarien zur Überwindung der unterschiedlich bewerteten Krise vor allem der jeweils eigenen konfessionellen Tradition entnommen werden. Wenn Walter Kasper seine Feststellung, dass sich die Ökumene zurzeit in schwierigem Fahrwasser bewege, immer wieder mit der Betonung verbindet, dass es zur Ökumene keine Alternative gebe, benennt er sowohl den konfessionsübergreifend dominanten Konsens im Blick auf ihre Notwendigkeit als auch die ebenso verbreitete Verlegenheit im Blick auf ihre angemessene Gestaltung. Wo die einen auf Kontinuität setzen, wird auf der anderen Seite ein grundsätzlicher Richtungswechsel gefordert, und dazwischen finden sich alle denkbaren Varianten. Bevor verschiedene Perspektiven näher betrachtet werden, soll zunächst unabhängig von den unterschiedlichen Diskussionsbeiträgen eine generalisierende Pointierung der verschiedenen konfessionellen Positionen apostrophiert werden. 3
Am dramatischsten wird die Situation im bekenntnisgebundenen Protestantismus bewertet. Hier werden gern eindrucksvolle Register gezogen und entsprechend weitreichende Neuorientierungen vorgeschlagen. Mehr oder weniger bedacht wird die Rhetorik von der schwer zu fassenden Formel eines Paradigmenwechsels bestimmt, der aufgrund des einzugestehenden Stillstandes nun herzhaft in Angriff zu nehmen sei. In pointierter Gestalt wird dieser Paradigmenwechsel in dem vor allem von Ulrich Körtner geforderten Wechsel von einer Konsenshermeneutik zu einer Differenzhermeneutik gesehen. In diese Richtung wird auch das Konzept einer »Ökumene der Profile« verstanden, auch wenn dessen ur­sprünglicher Inspirator Wolfgang Huber damit in überspitzter Weise interpretiert wird. Es liegt ein frustgenährter Unmut in der Luft, der sich nur noch von einem grundlegenden Perspektivenwechsel einen Progress für die erstarrte Ökumene verspricht.
Diesem ungeduldig gewordenen Innovationsdrang im Protes­tantismus steht auf der anderen Seite als Fels in der Brandung der offensive Kontinuitätsappell vonseiten der katholischen Theologie gegenüber. Wenn dort zu ebenso bedachter wie auch geduldiger Vorsicht gemahnt wird, kommt nicht nur eine grundsätzlich andere Bewertung der ökumenischen Entwicklung in den Blick, sondern es lässt sich vor allem die akute Befürchtung vernehmen, dass übertriebene Krisenszenarien dazu verleiten könnten, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Wenn hier weithin entschieden die Kontinuität zur Konsenshermeneutik unterstrichen wird, so wird nachdrücklich darauf verwiesen, dass es sich hier nicht um ein statisches Konzept handelt, das auf eine undialektische Gleichmacherei hinausläuft. Der Konsens sei ein hermeneutisch überaus differenziertes Instrument, von dem man sich nur mit einer nicht akzeptablen Verabschiedung der Wahrheitsfrage abkehren könne. Folglich wird die eigentliche Krise der Ökumene in dem vor allem von protestantischer Seite aus forcierten grundsätzlichen Vorstoß gegen die Konsensökumene gesehen, der einer Verabschiedung der Ökumene insgesamt gleich komme.
In der orthodoxen Theologie, die metatheoretischen Problemlösungsperspektiven häufig mit grundsätzlicher Skepsis begegnet, dominiert zumindest im Blick auf den ÖRK eine abwartende Verhaltenheit. Die exponierten Ökumeniker unter den Orthodoxen sehen auf der einen Seite eine durchaus weitreichende Krise (siehe das vorangestellte Zitat) und wehren sich zugleich gegen den im Westen immer wieder zu vernehmenden Vorwurf, dass es die orthodoxen Kirchen seien, welche das Vorankommen in der Ökumene behinderten. Gegen diesen Vorwurf hebt Grigorios Larentzakis in einem leidenschaftlichen Plädoyer sowohl die essenziell zur Orthodoxie gehörende ökumenische Ausrichtung als auch ihr Eintreten für eine »volle kirchliche Gemeinschaft als Einheit in der Vielfalt« hervor.4 Damit ist ein Modell einer die Konfessionen hinter sich lassenden Kirchengemeinschaft gemeint, die auf der Basis eines im Blick auf das Wesentliche des christlichen Glaubens hergestellten Konsenses (orientiert an der Norm der ökumenischen Konzile der Alten Kirche) durchaus Raum für lokal unterschied­liche Gestaltungsformen einschließlich der Liturgien bietet. Es steht dabei eine Koinonia-Ekklesiologie vor Augen, die den Skandal der konfessionellen Trennungen überwindet und nicht – wie es allem Anschein nach vom ÖRK protegiert werde – dazu dient, den Konfessionalismus auf irgendeine Weise zu legitimieren. In diesem Zusammenhang bleibt vor allem auf die Dissertation von Nicolae Manole hinzuweisen,5 die auf dem Hintergrund der altkirchlichen Attribute der Kirche und unter Berufung auf den viel zu wenig rezipierten ökumenischen Kairos des Lima-Dokuments für eine Intensivierung des eingeschlagenen Weges appelliert. Es ist gewiss kein Zufall, dass es ein rumänischer Theologe ist, der so betont auf eine Vertiefung des gegenseitig bereichernden Gespräches setzt, wie es auch nicht überraschen wird, dass die eigentliche und wohl kaum in absehbarer Zeit zu nehmende Hürde in der fundamentalen Diskrepanz im Amtsverständnis besteht. Die ökumenische Vision ist vor allem von der hermeneutischen Kraft der zu intensivierenden Begegnung geprägt.
Die anglikanische Theologie und die der ›non-credal churches‹ unter den Reformationskirchen lassen eine etwas beunruhigte und zugleich beharrliche Gelassenheit erkennen. Die eigentliche Krise wird nicht im Horizont von Lehrübereinstimmungen, sondern auf dem zunehmend umstrittenen Feld der Sendung der Kirche, d. h. der Konkretisierung ihrer ethischen Positionierungen gesehen, wo es bereits innerhalb der meisten Kirchen zu unversöhnlich gegeneinander stehenden Bewertungen kommt. Die Frage nach den gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften ist hier nur die öffentlichkeitswirksame Spitze eines Eisberges, der sich größtenteils unter der Oberfläche in friedenspolitischen, ökologischen und wirtschaftsethischen Fragen fortsetzt. In dem Maße, in dem ge­lernt wurde, dass die missio der Kirche essentiell zu ihrer Identität gehört, können die ethischen Fragen nicht einfach als nachrangig behandelt werden. Sie sind vielmehr ein Problem von hoher Relevanz, dem eine intensive theologische Aufmerksamkeit gewidmet werden muss, wenn der Ökumene nicht von hier aus eine neue grundsätzliche Gefährdung erwachsen soll. Wenn insbesondere von der anglikanischen Theologie in diesem Horizont zur Geduld ermahnt wird, kommt eine Ökumene des kommunikativen Austausches und des gegenseitigen Aufeinander-Hörens in den Blick, die im Grunde als ein unabschließbarer Prozess zu verstehen ist. Ihr Ziel kann die Ökumene nur dann verheißungsvoll im Blick behalten, wenn sie weiß, dass ihre irdisch-geschichtliche Verwirklichung in erster Linie ihr Weg ist.



2. Evangelische Beiträge zur ökumenischen Hermeneutik6


Die weit über die im Untertitel annoncierte Meißen-Ökumene hinausblickenden fundamentalen Überlegungen von Ingolf U. Dalferth machen auf eine unumgängliche Spannung zwischen dem Anliegen der Hermeneutik und dem Streben nach Einheit aufmerksam. Eine für die Einheit instrumentalisierte Hermeneutik stehe im Widerspruch zu ihrer gerade die Verschiedenheiten würdigenden Aufgabe. Und so hinterfragt er mit guten Gründen die theologische Stimmigkeit des Strebens nach sichtbarer Einheit; jeder Versuch, die in Christus gegebene Einheit sichtbar machen zu wollen, ist faktisch immer auch ein Akt, ebendiese Einheit zu usurpieren und damit zu sistieren. 7 Dalferth definiert die Ökumene über das tatsächliche christliche Zusammenleben der Kirchen, das für eine nach vorn gerichtete Gemeinschaft im Glauben steht und eben nicht von einem in der Regel rückwärts orientierten Konsens über den Glauben konstituiert wird. Ein Konsens muss von den beteiligten unterschiedlichen Traditionen aus zugänglich sein – Dalferth spricht von mehrfach kodierten Formulierungen (249 ff.)– und bleibt auch dann immer eine nur begrenzt haltbare Zwischenbilanz. Ökumene ist als Konsequenz des Evangeliums die gelebte Bezeugung des universalen Gemeinschaftswillens Gottes, in dem sich die Christen unterschiedlicher Prägung miteinander verbunden wissen und den sie auf diese Weise in die sie umgebende Welt hinaustragen. Es kommt auf den je aktuellen Vollzug an, ohne den sie sich selbst erübrigt. »Zueinander unterwegs und miteinander auf dem Weg – mehr kann eine realistische Ökumene christlicher Kirchen nicht sein.« (53) 8 – »Ökumene gibt es nur auf dem Weg.« (228) Es mag beklagt werden, dass Dalferth darauf besteht, dass ökumenische Hermeneutik in erster Linie Hermeneutik9 und nur in zweiter Linie ökumenisch sein soll, aber man wird nicht einfach den systematischen Anfragen entkommen, die sich aus dieser Perspektive ergeben.
Eine vergleichbare Fundamentalkritik an den überkommen Arbeitsweisen der Ökumene findet sich bei Dietrich Ritschl auf dem Hintergrund langjähriger und weltweiter Erfahrungen. Die Frage im Untertitel seines Buches deutet die Richtung an, in der er einen Weg für eine Neuorientierung der Ökumene sieht. Wenn das Vertrauen in den Christus praesens in das Zentrum der ökumenischen Perspektive gestellt wird, vollzieht sich eine kategoriale Verschiebung des Zentrums des Engagements vom Konsens zu einer vertrauensvollen und engagierten Koexistenz (Koinonia). In allen ernstzunehmenden christlichen Traditionen geht es »um Gottes Präsenz in Jesus Christus« (113), die auch das hinreichende Fundament für ein horizontales Vertrauen bereithält. Dem Lehrgespräch sollte im interkonfessionellen Verhältnis nicht mehr als die relative Bedeutung zugemessen werden, welche der theologischen Lehre auch sonst im Leben der Kirche zukommt – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dabei setzt die annoncierte Hermeneutik des Vertrauens auf ein konsequent kontextualisiertes Verständnis von Lehre, das den komplexen Anforderungen ökumenischer Kommunikation gerecht wird. Lehren sind keine »Behältnisse von letzten Wahrheiten, sondern Hinweise … auf sie« (40; vgl. 68.189). Als »second order language« sind sie ihrem Wesen nach nicht deskriptiv, sondern sie müssen sich als instruktiv erweisen (103 f.). Die Kirchen dienen nicht ihren Lehren, sondern diese sollen den Kirchen dienen. Damit verschiebt sich das auf die Lehrdifferenzen geschobene Gewicht auf die Verantwortungsebene der Kirchen, die sich für ihre Grenzziehungen ihrer Lehren bedienen.
Die von Fernando Enns u. a. herausgegebene Festschrift für Ritschl hebt – soweit in ihr die Aspekte ökumenischer Hermeneutik angesprochen werden – in verschiedenen Facetten einerseits den fundamentalen Aspekt des Vertrauens und andererseits die Forderung der Ernüchterung gegenüber der tatsächlichen kirchlichen Wirklichkeit hervor. Vertrauensgetragene Vorleistungen, die einen erkennbaren Gewinn an Gemeinsamkeit im Leben der Kirchen befördern, und realitätsbezogene Perspektiven für ge­meinsam gestaltetes Zeugnis können der Ökumene wieder einen Platz im Alltag der Kirchen geben, den sie in ihrer Fixierung auf die nur noch schwer vermittelbaren Kontroversen der Vergangenheit mehr oder weniger unbemerkt preisgegeben hat. Dabei wird es entscheidend darauf ankommen, geeignete Wege zu erschließen, auf denen auch den verschiedenen nicht-dogmatischen Aspekten konfessioneller Differenzen das Gewicht eingeräumt wird, das ihnen tatsächlich zukommt. Eine ganz elementare Einsicht wird dabei die kontinuierliche Pflege eines lebendigen Miteinanders auf den verschiedenen Ebenen sein.
Besondere Aufmerksamkeit hat Ulrich H. J. Körtner mit seiner Absage an die Konsensökumene erregt.10 Er nimmt dafür selbst den Begriff des Paradigmenwechsels in Anspruch (9.19 u. ö.). Das hermeneutische Modell des differenzierten Konsenses signalisiere den Übergang und die Krise zugleich, indem es – wenn auch gegen seine Intention – die Aufmerksamkeit unwillkürlich auf die Differenzen lenke. Die Unklarheit der Zielperspektive der Ökumene und damit des Verständnisses von Ökumene selbst ist der eigent­-liche Grund für die Krise der Ökumene, denn sie befördert in den durch wachsende Spannungen ohnehin unter Druck stehenden Kirchen zusätzliche Identitätsängste. Grundprinzip der vorgeschlagenen Differenzhermeneutik ist die gegenseitige Anerkennung der Kirchen als Voraussetzung für eine weitere gegenseitige Annäherung, in der dann die ins Auge gefasste Kirchengemeinschaft zu optimieren ist. Als theologische Basis verweist Körtner im Horizont der Kreuzestheologie darauf, dass die auch den Kirchen zuvorkommende Gnade Gottes nicht den Gerechten, sondern den Gottlosen und den Sündern gilt (24) und unter ihnen »Gemeinschaft stiftet und bestehende Widersprüche miteinander versöhnt« (31). Ähnlich wie bei Ritschl (und auch in der FS für Ritschl) wird die ekklesiologische Bedeutung Israels für die Kirche in Erinnerung gerufen, an der sich auch ein tragfähiger Begriff von Ökumene zu messen habe (vgl. 32 ff.). Es ist keineswegs ein Widerspruch, wenn Körtner gleichzeitig ausdrücklich die verschiedentlich problematisierte Christozentrik in das Zentrum stellt und die Kirche an ihre Teilhabe am Leiden Christi erinnert. Einheit wird als eine eschatologische Größe verstanden, deren Vergeschichtlichung unweigerlich zu neuen Polarisierungen führt. Indem eine Hermeneutik nicht dem Verständnis, sondern dem Verstehen dient, kann sie in der Ökumene nicht auf die Einheit ausgerichtet sein, sondern hat sich der Verschiedenheit zu stellen (80). Körtner beruft sich auf Dalferth, wenn er sich gegen eine funktionale Benutzung der Hermeneutik zur Herstellung der Einheit wehrt und eine klare Rechenschaft darüber einfordert, was eine ökumenische Hermeneutik leisten kann und was eine prinzipielle Überforderung, wenn nicht gar eine programmatisch widersprüchliche Instrumentalisierung darstellt. »Ökumenische Hermeneutik ist kein Instrument zur Umsetzung oder Durchsetzung eines wie auch immer gearteten Einheitsprogramms, sondern sie ist jene Kunst, welche uns hilft, jene komplexen und dynamischen Familienähnlichkeiten zu entdecken und besser zu verstehen, welche die Konfessionen unbeschadet ihrer Differenzen verbinden.« (98) Es ist deutlich, dass auch die Differenzhermeneutik ihre Plausibilität aus einer vorausgesetzten essenziell verbindenden Gemeinsamkeit bezieht.
Wenn Ulrich Kühn nun umgekehrt den Ton ausdrücklich auf den Konsens legt (21.35), verschließt er keineswegs die Augen sowohl vor dessen inzwischen in den Blick gekommenen Grenzen als auch der Notwendigkeit einer Neujustierung der Aufmerksamkeitsrichtung hin zu einer entschlossenen Wahrnehmung der tatsächlich gelebten Glaubenswirklichkeit. »Wir haben … keine Zeit mehr für den Streit von gestern, solange wir nicht in der Lage sind, die Lebenswichtigkeit früherer Kontroversen klar und verstehbar werden zu lassen; wir haben kein inneres Recht mehr zu abgrenzender konfessioneller Identitätspflege und gegenseitiger Abqualifizierung. Wir sind gemeinsam gerufen, den Menschen den Weg in die Zukunft zu zeigen und ihnen dazu Mut zu machen.« (76) Dazu bedarf es einer »Hermeneutik des Vertrauens«, die ihren metho­-dischen Ausdruck im Begriff des »differenzierten Konsenses« ge­funden habe, wo das Gemeinsame hervorgehoben wird, ohne das Unterscheidende zu verleugnen. Kühn erinnert daran, dass das »Verständnis kirchlicher Einheit … ein Ausdruck des Grundverständnisses von Kirche selbst« ist (82). Es sind die Fundamentalbestimmungen der Ekklesiologien, für die allerdings auch Kühn vorläufig nur geringe Aussichten auf eine wirkliche Annäherung sieht. Auch Walter Dietz sieht zum Konsens keine Alternative, auch wenn das »Ende einer formelhaft verfahrenden, an Aussageidentität orientierten Ökumene … längst gekommen« ist (153).
In der vor allem von Lukas Vischer, Ulrich Luz und Christian Link im ökumenischen Gespräch (Bern und Fribourg) verfassten Studie wird ein besonderer Akzent auf den Prozess und die Präsenz der Konziliarität gelenkt. Einheit ist in dieser Perspektive kein erreichbarer und statuierbarer Zustand, sondern ein unabschließbarer Prozess bzw. eine existenzielle Lebensorientierung, in der die auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens sich ereignende Vielfalt gleichsam in gemeinschaftsdienlicher Kommunikation gehalten wird. Es geht um die gelebte Koinonia, wie sie bereits im neutestamentlichen Zeugnis in bemerkenswerter Weise betont wird. Sie ist nicht das Produkt institutioneller Organisation, auch wenn ihre institutionelle Unterstützung selbst eine Frage des konziliaren Prozesses sein kann. Der entscheidende Differenzaspekt der »konziliaren Gemeinschaft« – auch im Unterschied zum Konzept der »versöhnten Vielfalt« – liegt in ihrer Orientierung nach vorn und in der essenziellen Ausrichtung auf ein verbindliches gemeinsames Zeugnis. Sie wird nicht hierarchisch gesteuert, sondern lebt in ihrer Betonung der Katholizität der Kirche von der größtmöglichen Partizipation. Auch wenn sie seit der Sitzung der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung 1971 in Löwen zur programma­tischen Substanz der ökumenischen Bewegung zu rechnen ist, gilt es insbesondere angesichts der auch die Kirchen zunehmend in Zerreißproben drängenden ethischen Konflikte, diese Dimension der Ökumene entschlossen wieder aufzugreifen und in den Vordergrund zu rücken. Es handelt sich um ein dynamisches Konzept, das sich auf den Weg konzentriert und auf den »Konsens der Suchenden« (328) setzt. Es ist die Ernsthaftigkeit des verbindenden und auf Verbindlichkeit setzenden Ringens, in dem sich die gegebene Einheit einen sichtbaren Ausdruck verschafft.



3. Katholische Beiträge zur ökumenischen Hermeneutik11


Im Blick auf die römisch-katholische Diskussion ergibt sich eine an dieser Stelle nicht zu bewertende bemerkenswert ambivalente Situation, die in besonderer Weise mit dem Datum der Unterzeichnung der GER und der dazugehörigen »Gemeinsamen offiziellen Feststellung« verbunden ist. Einerseits ist die Klage zu vernehmen, dass in den inzwischen verstrichenen zehn Jahren nach der Unterzeichnung weder nennenswerte Konsequenzen aus diesen Dokumenten gezogen noch die in ihnen eingegangenen Selbstverpflichtungen in Angriff genommen wurden – es kann also nur in äußerst bescheidenem Maße von einer kirchlichen Rezeption dieser Dokumente gesprochen werden. Andererseits gelten sie in den ökume nisch befassten Kreisen als eine kaum zu überschätzende Weg­-marke für eine nachhaltig perspektivenreiche Präzisierung der ökumenischen Hermeneutik, die sich nun endgültig und geradezu demonstrativ von jeder Rückkehrökumene verabschiedet hat.
Gleichsam als Leseanleitung und Kommentar zur GER kann der von Harald Wagner beinahe gleichzeitig herausgegebene Band zum »differenzierten Konsens« gelesen werden. In einer Art ökumenischer Ortsbestimmung werden die Genese und die systematische Reichweite des Konsensbegriffs eingehend erörtert und als richtungsweisendes ökumenisches Instrument bekräftigt. Die Fa­cetten der Kritik am differenzierten Konsens werden von Annemarie C. Mayer pointiert zusammengefasst und als Anregung zu einer weiteren Optimierung des als alternativlos anzusehenden Konzepts verstanden. Die mit den unterschiedlichen Positionen verknüpften ekklesiologischen Perspektiven werden aus katholischer Sicht von Christoph Böttigheimer (2003) präsentiert.
Vor allem sind es drei inhaltsreiche Monographien, die sowohl analytisch als auch programmatisch den »differenzierten Konsens« als den verheißungsvollen Königsweg für die weitere ökumenische Arbeit annoncieren. Wolfgang Thönissen, der leitende Direktor des Johann-Adam-Möhler-Instituts für Ökumenik in Paderborn, trägt mit seinem Buch ein engagiertes Plädoyer für eine kontinuitätsbewusste Konsensökumene vor, die sich in erneuter Konzentration auf die zwar unverfügbare, aber doch kommunikativ klar bezeichenbare Wahrheit von der inzwischen weitreichenden systematischen Ausdifferenzierung des Konsensverständnisses inspirieren lässt. Es geht ihm um das Festhalten an einem theologisch qualifizierten Einheitsverständnis, das einerseits die ursprüngliche ökumenische Vision einer sichtbaren Einheit nicht einfach verabschiedet und sich anderseits von den inzwischen erkannten Engführungen in Richtung einer homogenisierten Ekklesiologie mit solider Begründung distanziert. Er hebt das durch eine bedachte Hermeneutik bereits ins Bewusstsein gehobene hohe Maß an Übereinstimmung in Grundwahrheiten des christlichen Glaubens hervor, die zwar in unterschiedlicher Sprache und in unterschiedlicher theologischer Architektur vergegenwärtigt werden, ohne aber die Tragfähigkeit der erkannten Gemeinsamkeit zu gefährden. Anstatt vorschnell einen Paradigmenwechsel von der Konsenshermeneutik hin zu einer Differenzhermeneutik zu propagieren, müsse es darum gehen, die anzuerkennenden Dimensionen des Differenzaspektes in eine erweiterte Konsenshermeneutik zu integrieren. »Die Pluralität der Formen und Typen hebt das Denken der Einheit nicht auf, sondern setzt es voraus. Das aber heißt für das theologische Verstehen: Ohne die Voraussetzung eines den Differenzen voraus liegenden Konsenses ist eine Verständigung gar nicht möglich. … Nichts anderes will diese transzendentale These besagen, als dass ohne diese Voraussetzung, dass Eines dem Vielen vorausgeht, das ökumenische Anliegen sich erübrigen würde.« (203)
Thönissen verweist auf den offenen Kirchenbegriff des Zweiten Vatikanischen Konzils und hebt zugleich immer wieder die produktiv zu nutzende Unterscheidung von »Grund und Gestalt, Botschaft und Lehre, Wesen und Form« (35) hervor. Damit könne auch wirksam dem Verdacht entgegengetreten werden, es gehe aus un­dialektischer Harmoniesüchtigkeit um theologisch nicht be­lastbare Formelkompromisse. Vielmehr sei immer wieder neu gemeinsam auf das Wort Gottes im Zeugnis der Bibel zu hören, was geradezu als die entscheidende ökumenische Grundvoraussetzung hervorgehoben wird (211 f.). Auch die Formel von der ›Hierarchie der Wahrheiten‹ ist vor allem als ein Hilfsmittel für den ökume­nischen Dialog zu verstehen (148). Die Einsicht in den sekundären Charakter der Lehre macht erkennbar, dass »der Streit über die im engeren Sinn verstandene ökumenische Methodik … in Wahrheit ein Streit über die Gestalt der Theologie [ist], die sie zur christlichen macht oder nicht« (73). Ohne auf ihn Bezug zu nehmen, betont Thönissen in frappanter Übereinstimmung etwa mit Karl Barth, dass die Anstrengungen nur dann verheißungsvoll sind, wenn sie als ein Akt der Umkehr und der Buße verstanden werden. 12 Ebenso bemerkenswert ist der ökumenisch substanzielle Hinweis darauf, dass die Spaltung der Kirche als ein Hindernis für die kirch­liche Identität zu bezeichnen ist.13 Die Ökumene bearbeitet nicht in erster Linie die bei anderen festgestellten Defizite, sondern erweist sich auch auf Grund eigener Mängel als unausweichlich. An die Stelle der Abgrenzungsmentalität der Konfessionen muss die Su-che nach dem Gemeinsamen liegen. Diese muss von der unrealis­tischen Zielperspektive eines alles umfassenden Konsenses befreit werden, indem sie sich einer Hermeneutik der Komplementarität im Horizont des differenzierten Konsenses verschreibt (238 f.). Im Unterschied zu der »Idee einer paradoxalen Einheit der Differenz« (245) steht hier eine Vielfalt zur Debatte, die sich als Ausdruck des Einen plausibel machen lässt: »Vielfalt durch Einheit, Einheit durch Vielfalt« (244) – in dieser Reihenfolge.
Wenn Thönissen seine ökumenische Hermeneutik unter die Überschrift »Dogma und Symbol« stellt, so möchte er die ökumenische Aufmerksamkeit auf die den Kirchen gemeinsam gegebene Aufgabe der Vergegenwärtigung des Glaubens lenken. Nicht Informationen über Gott stehen zur Debatte, sondern seine lebendige Selbstmitteilung als die zu erkennende und zu bezeugende Wahrheit, die sich niemals in einer Lehre fassen lässt. Es geht darum, dem in sich facettenreichen Glauben an Christus eine gemeinsame Gestalt zu geben (253). Dazu gehört auch die symbolische Repräsentation, die ihrem Wesen nach nicht in dem Verfügungsbereich der Kirche oder der Theologie aufgeht. Insgesamt wirft dieses überaus anregende Buch ein durchaus überraschendes und innovatives Licht auf das römisch-katholische Engagement in der Ökumene.
Die zweite hervorzuhebende Monographie entstammt ebenfalls dem Möhler-Institut in Paderborn. Die von Thönissen betreute Dissertation von Tim Lindfeld weist programmatisch in die gleiche Richtung wie die soeben skizzierte Perspektive. Sie hat aber ihre eigene Bedeutung in einer eingehenden und differenzierten Re­konstruktion der Hermeneutik des differenzierten Konsenses anhand der Entwicklung des evangelisch-katholischen Dialogs vor allem im deutschen Sprachraum. In ausdrücklicher Anknüpfung an den weithin problematisierten »christozentrischen Universalismus« (Willem A. Visser’t Hooft) versucht Lindfeld, die Ökumene von ihrer Konfessionsfixierung auf die grundlegende Christusbindung zu lenken. Daraus ergib sich eine pointierte und streitbare ökumenische Selbstpositionierung: »Die ökumenische Bewegung beruht nämlich auf der zum Differenzmodell völlig konträren Annahme, dass trotz der faktischen Verschiedenheit konfessioneller Lehrpositionen in der gesamten Christenheit dieselbe Grundüberzeugung festgehalten wird, deren Wahrheit darum auch gemeinsam erkannt und zum Ausdruck gebracht werden kann. Dies freilich nur in Form von Überwindung gegenseitiger Abgrenzungen.« (266) Der systematische Gewinn dieser Untersuchung liegt in der Vertiefung des von Hans Urs von Balthasar in die ökumenische Diskussion eingeführten Begriffs der Denkform. Es wird in eingehenden, vor allem philosophischen Untersuchungen ge­zeigt, dass unterschiedliche theologische Denkformen nicht un­ vermittelbar voneinander isoliert sind, sondern kommunikativ aufeinander bezogen werden können, wenn ein entsprechend tragfähiges Übersetzungsinteresse vorhanden ist. Die historische Rekonstruktion der ökumenischen Hermeneutik wird begleitet von einem gegen das Konfessionalisierungsparadigma gerichteten fundamentaltheologischen Bestimmungsversuch für ein belastbares Konzept einer ökumenischen Hermeneutik. Die ökumenische Bewegung selbst ist der Ausdruck eines ›Paradigmenwechsels‹; er besteht in der »Abkehr von einer konfessionalistischen Interpretation der Geschichte von Glaube, Kirche und Theologie durch die dialogische Wiederaufnahme ( par cum pari) einer theologischen Kommunikation mit dem Ziel der Einheit in der Wahrheit« (319).
Einen deutlich anderen Akzent im Blick auf den favorisierten »differenzierten Konsens« setzt Gregor Maria Hoff, indem er die von den bleibenden Differenzen ausgehenden Herausforderungen für die Hermeneutik grundsätzlicher und weitreichender einschätzt. Er sieht sich von dem Ökumenismusdekret des Zweiten Vatikanischen Konzils dazu ermutigt, in die Richtung einer spezifischen Gestalt einer Differenzhermeneutik zu blicken. Der Akzent wandert gleichsam von dem Konsens, der auch Raum für Differenzen vorhält, zur Differenz, die zwar ebenfalls erst durch einen Konsens aufeinander bezogen werden kann, aber dieser Konsens ist nicht einfach aufzeigbar, sondern bezeichnet den Raum, den die Differenzen in Anspruch nehmen können, ohne gegenseitig in Wi­derspruch zu geraten. Der Umgang mit der Wahrheit folgt unter den Bedingungen der Postmoderne einer veränderten Pragmatik, der Hoff Rechnung zu tragen versucht, ohne die Zielperspektive auf die Einheit der Kirche aus den Augen zu verlieren. Die geforderte Differenzkompetenz wird weniger von immer auch machtgestützten dogmatischen Identitätsvorstellungen als vielmehr von einer auch das kirchliche Leben einbeziehenden kommunikativen und kommunialen Grundhaltung bestimmt, die mehr an der Treue zum trinitarischen Gott als zur ekklesiologischen Identität orientiert ist. In diesem Rahmen wird der »Charta Oecumenica« (2001) eine besondere Bedeutung zugemessen, weil sie auf die ge­meinsamen Lebensbedingungen bezogen ist und konkrete Veränderungen ins Auge fasst, welche auch dazu geeignet sind, die Kirchen aneinander anzunähern. Einheit wird als eine lebendige und dynamische Größe verstanden, die sich nur höchst begrenzt in einer Definition fassen lässt. Es gilt vielmehr der Grundsatz: »Un­terschiedliche Verständnisoptionen lassen sich im Rahmen einer tragenden Gemeinsamkeit vermitteln, wenn diese wiederum in ihrer Verbindlichkeit nicht als starre Identitätsformel gebraucht wird.« (269) Ein Dissens ist nicht einfach gegeben, sondern wird konstatiert unter jeweils konkreten Bedingungen. Die Kriterienfrage lässt sich nicht unabhängig von den geschichtlichen Konstellationen beantworten. »Möglicherweise lassen erst geteilte Lebenswelten die entscheidenden theoretischen Fortschritte erzielen.« (273) Den die Verschiedenheiten tragenden Konsens sieht Hoff vor allem in dem Auftrag, das Evangelium zu kommunizieren (288).
Eine interessante historische Horizonterweiterung bietet der von Ernesti und Thönissen herausgegebene Band »Die Entdeckung der Ökumene«. Die verbreitete Einschätzung, dass sich die katho­-lische Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil dem Anliegen der Ökumene zugewandt habe, wird überzeugend dahingehend erweitert, dass das Konzil nicht die Entdeckung der Ökumene bezeichnet, sondern es ist bereits der Ausdruck bzw. die Frucht einer Hinwendung zur Ökumene, die diesem Konzil weit vorausläuft. Die Wurzeln reichen bis in das 19. Jh. zurück. In besonderer Weise haben Erfahrungen zur Zeit des Nationalsozialismus das ökumenische Engagement befördert, das bereits seit den 40er Jahren auch eine Institutionalisierung anstrebt. Die treibenden Motive sind mit denen von der außerkatholischen ökumenischen Bewegung durchaus vergleichbar.
Wie dicht die sich gegeneinander profilierenden Entwicklungsperspektiven der Ökumene beieinander liegen, ließe sich an verschiedenen Beiträgen der ökumenisch konzipierten FS für Otto Hermann Pesch zeigen. Peter Neuner zeigt, dass »Grundkonsens« und »Grunddifferenz« nicht einfach für unterschiedliche Paradigmen stehen, sondern durchaus in sinnvoller Weise aufeinander bezogen werden können. Der evangelische Theologe Joachim Track verteidigt vehement die Orientierung am Konsens, der den Wahrnehmungen der Differenzen überhaupt erst eine gemeinsame Diskussionsebene gibt, ohne die dem Gespräch und dann auch der gelebten Beziehung ein gemeinsamer Boden fehlt. Wolfgang Huber grenzt seinen Vorschlag einer »Ökumene der Profile« von der Differenzhermeneutik ab, was offenkundig nur teilweise erfolgreich ist, wie das kritische Votum Karl Lehmanns zu diesem Konzept zeigt. Der angesprochene Umgang mit dem kaum abzustellenden Problem einer gegenseitigen Konkurrenz auf dem Markt der Religionen zeigt einmal mehr die Komplexität der zu berücksichtigenden Faktoren. Die gern aufgegriffene Wegmetaphorik legitimiert die Zurückhaltung gegenüber der Benennung von klaren Zieloptionen.
Von außen betrachtet hätte man in einer Festschrift für Peter Neuner einen deutlicheren Akzent auf die Ökumene und seine ökumenische Beteiligung erwartet. Andererseits sind vor allem einige der katholischen Beiträge mit explizit ökumenischer Thematik von herausragendem Gewicht, so dass die erste Enttäuschung bei näherer Betrachtung schnell verfliegt. Das ökumenische Potential des noch längst nicht ausreichend realisierten ekklesialen Bandes der Taufe wird hervorgehoben (Böttigheimer, Hardt). Es wird die kritische Frage aufgeworfen, ob die Feststellung, dass auch in der Ekklesiologie inzwischen die Gemeinsamkeiten größer seien als die Unterschiede, die gegenseitigen Wahrnehmungen und auch den Um­gang miteinander entsprechend verändert hätte (Brosseder). Wenn dagegen im Blick auf die ernüchterte Bewertung der Ökumene von Benedikt XVI. die eschatologische Perspektive hervorgehoben wird (Sattler), muss darin kein prinzipieller Gegensatz gesehen werden. Vielmehr wird durch beide Aspekte erneut die Aufmerksamkeit auf die Frage nach einem angemessenen Einheitsverständnis und dem Maß der von diesem umfassten Vielfalt gelenkt. Die Spannung zwischen der Communio- (W. Kasper) und der Einheitsekklesiologie (J. Ratzinger) wird von dem Eindruck befreit, eine Alternative zu sein. Einheit ist seinem Wesen nach ein dynamischer Begriff, der auch in der Vielfalt die Spuren des Handelns des einen Gottes zu anzuerkennen vermag ( Dirscherl). Die Debatte um die kriteriologische Reichweite der Rechtfertigungslehre verweist auf die hermeneutische Problematik material-dogmatischer Konzentrationen im Horizont einer vorrangig an dem biblischen Zeugnis orientierten Theologie (Kleinschwärtzer-Meister). Schließlich wird die hermeneutische Bedeutung des Umstandes bedacht, dass die Theologie stets kontextuell eingebunden ist, so dass die Frage aufgeworfen werden muss, ob es sinnvoll ist zu erwarten, dass inhaltliche Übereinstimmungen ihren Ausdruck auch in verbalen Übereinstimmungen finden müssen (Wagner). Die Unter- und Zuordnung der Tradition zur Schrift gehört zu den ökumenischen Themen, die keine grundsätzlichen Kontroversen mehr auslösen, auch wenn sich Unterschiede in der Akzentsetzung erhalten haben (Werbick). Dass sich Ökumene auch mit dem Verhältnis zu anderen Religionen zu befassen hat und somit auf das bisher noch nicht befriedigend gelöste Problem einer Theologie der Religionen verwiesen ist, wird in verschiedenen Beiträgen in einem eigenen Teil dieser Festschrift thematisiert.



4. Evangelisch-katholische Ökumene14


»Ökumene heute« heißt in Deutschland immer noch weithin evangelisch-katholisch, wobei evangelisch unter weitgehender Vereinnahmung der Unierten selbstverständlich lutherisch meint, während die reformierte Tradition »wenig Berücksichtigung findet« (Frank/Käuflein, 12). Von denjenigen, die nach zehn Jahren der GER Bilanz zu ziehen versuchen, wird »eine gewisse Ernüchterung« (32) eingeräumt, die aufgrund der zu bewahrenden Erfolge aber keine Gefährdung bedeute. Um nicht von der betont zurückgewiesenen Eiszeit zu sprechen, bleibt faktisch eine nicht weiter terminierte Einmottung des Ist-Zustandes zu konstatieren, begleitet von allgemein gehaltenen Klimawünschen; so der positiv zitierte Kardinal Joseph Ratzinger: »Wir sollten uns gerade in der Unterschiedenheit wirklich lieben und annehmen lernen – den Rest dürfen und müssen wir dann getrost dem Herrn überlassen.« (27) Eine besondere Belastungsprobe erwächst aus den zunehmend unterschiedlichen Bewertungen aktueller gesellschaftlicher Wandlungsprozesse und ethischer Orientierungskonzepte etwa auf dem Gebiet der gentechnischen Entwicklungsmöglichkeiten. Weder Gleichschritt noch Indifferenz können hier wegweisend sein – ein Problem das sich zurzeit nicht nur auf allen ökumenischen Ebenen gezeigt hat, sondern auch ein verbreitetes Kennzeichen innerkonfessioneller Spannungen geworden ist (s. u. 5.). Die hermeneutische Notwendigkeit von Historisierungen der reformatorischen Kontroversen gilt es mit Augenmaß in den angemessenen Grenzen zu vollziehen. Die ebenfalls anzustrengenden systematischen Klärungen beziehen ihre Überzeugungskraft allerdings erst in den aus ihnen resultierenden Konsequenzen, deren Ausbleiben – wie weithin im Fall der so gern gefeierten GER – die Substanz des erreichten Konsenses angreifen. Ob die in diesem Band der ökumenischen Bedeutung Philipp Melanchthons gewidmete Aufmerksamkeit mehr der Er­schließungskraft seiner bisher verdrängten Anregungen oder eher seinem angesagten Gedenken gilt, mag dahingestellt bleiben. Die Betrachtung Calvins verbleibt jedenfalls ganz und gar im Histo­-rischen. Der ebenso allzu frühzeitig betonte wie auch bange Blick auf das Reformationsjubiläum 2017 bündelt auf merkwürdige Weise die meisten der Verlegenheiten, in denen sich die hier fortgeschriebene Form der Ökumene befindet.
Den Abschluss dieses Bandes bildet allerdings ein hermeneutisch bemerkenswertes Konzept, das von Eilert Herms vorgestellt wird, wobei er sich auf den ebenfalls von ihm zusammen mit Lubomir Zak herausgegebenen ersten Band eines wissenschaftlichen Projekts bezieht. Es geht um eine Verschiebung des Fokus der Aufmerksamkeit von den materialen Lehraussagen der beiden Traditionen hin zu den unterschiedlichen Perspektiven auf den Grund und Gegenstand des Glaubens. Sollte sich bestätigen lassen, dass es sich bei dem Grund und Gegenstand um einen gemeinsamen handelt, dann sollte es möglich sein, sich darüber zu verständigen, inwiefern in den unterschiedlichen Traditionen diese Einheit des Glaubensgegenstandes erfasst und in der jeweiligen Systematik der Theologie zur Geltung gebracht wird. Vom Glaubensgegenstand ist also nach den Konstruktionsprinzipien theologischer Lehre zu fragen, die den einzelnen Aussagen ihren spezifischen Stellenwert zuweisen. Obwohl mittlerweile beinahe alle Lehraspekte in den zahlreichen Dialogen abgeklärt und zueinander in Relation ge­stellt werden konnten, bleibt ein Fortbestand gegenseitiger Fremdheit zu registrieren, weil den unterschiedlichen Systematiken im Blick auf die »Hierarchie der Wahrheiten« der jeweiligen Theologien und den von ihnen fundierten Frömmigkeitspraktiken nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Ein fruchtbarer Dialog ist in konsequenter Gegenseitigkeit über die fundamentaltheologischen Differenzen der unterschiedlichen Lehrtraditionen in ihrer Bezogenheit auf den Grund und Gegenstand des Glaubens zu führen. Ökumene vollzieht sich hier im Horizont der Fundamentaltheo­logie. Es ist die Plausibilität der systematischen Verknüpfung mit dem gemeinsamen Fundament, welche die Gründe für die gegenseitige Anerkennung liefern soll, ohne dabei einem unangemessenen Harmonisierungsdruck ausgesetzt zu sein. Das durchaus befreiende Innovationspotential dieses Zu­gangs wird durch den bereits erarbeiteten Band belegt, auch wenn die selbst geäußerten Zweifel an der tatsächlichen kirchlichen Begehbarkeit dieses Weges nicht einfach ausgeräumt werden können.
Wenn Johannes Brosseder und Joachim Track in einer gemeinsamen katholisch-evangelischen Publikation den Zeitpunkt zur Erklärung der Kirchengemeinschaft jetzt als gegeben ansehen, dann wird in zweierlei Hinsicht die ökumenische Hermeneutik angesprochen. Einerseits gilt es das ernstzunehmen und zu würdigen, was bereits erreicht werden konnte, und andererseits den noch zu gehenden Weg auf eine grundlegend erneuerte Basis zu stellen. Ohne eine entsprechende Ermutigung jenseits von Alles oder Nichts – es bleiben ausdrücklich verschiedene »Stufen von Kirchengemeinschaft denkbar« (149) – könne man weder dem Faktum des bereits bestehenden weitreichenden Konsenses gerecht werden noch der eingetretenen ökumenischen Ermüdung wirksam entgegentreten. Insbesondere die GER, aber auch die Charta Oecumenica auf der praktischen Seite werden als in der Sache verpflichtende Mandate an die Kirchen herausgestellt, ihr Verhältnis zueinander auf eine grundsätzlich neue Basis zu stellen. Auf der Seite der reformatorischen Kirchen würde sich allerdings unweigerlich die keineswegs unverfängliche Frage einstellen, welche Kirchen sich unter welchen Bedingungen einer solchen Kirchengemeinschaft anschließen könnten.



5. Die ethische Herausforderung
der ökumenischen Hermeneutik15


Neben den bereits erörterten Herausforderungen hebt der anglikanische Ökumeniker Paul Avis in seinem Plädoyer für mehr Realismus bzw. Ernüchterung (disillusionment; 43) vor allem hervor, dass sich in der Ethik eine neues Konfliktfeld sowohl für das Zusammenleben der Kirchen als auch für den Zusammenhalt innerhalb der einzelnen Kirchen auftue, auf dem bis zum Gegensatz reichende Bewertungen vor allem im Blick auf das Zusammenleben der Geschlechter aufeinanderprallen und zu einer neuen Gefährdung der Einheit werden (158 ff.). Hermeneutisch verweist Avis auf eine theologisch achtsamere Wahrnehmung der überaus weitreichenden Verschiedenheit des geistlichen, theologischen, aber auch des organisatorischen und kulturellen Erscheinungsbildes der Kirchen. Er beklagt das Übergewicht, das auf den Lehrgesprächen liegt und die vielen anderen Faktoren, die zu der Wirklichkeit der Kirche gehören, leichtfertig marginalisiert, was dann zwangsläufig dazu führt, dass die Resultate der theologischen Dialoge einigermaßen im luftleeren Raum stehen bleiben, ohne das kirchliche Leben wirklich zu erreichen. Die allgemeine Klage über die schlechte oder gar ganz ausbleibende Rezeption bestätigt diese Diagnose, und das Ziel einer sichtbaren Einheit, wie es gerade auch bei den Anglikanern projektiert bleibt, wird zu einem wirklichkeitsfremden Lippenbekenntnis. Nur wenn die Rezeption mit greifbaren Formen der Gemeinsamkeit einhergeht, kann sie erfolgreich und nachhaltig sein (95 f.). Zudem bedarf es einer entschlosseneren Bereitschaft, in den anderen Kirchen trotz der bestehenden Unterschiede die Kirche Jesu Christi zu entdecken und sich gegenseitig anzuerkennen als Voraussetzung für eine lebendige Zusam­menarbeit auf allen Ebenen. 16 Avis spricht unter Bezugnahme auf das Neue Testament sogar von einem Imperativ der Verschiedenheit als Implikation der Katholizität der Botschaft »as the gospel is spoken into different cultures and contexts« (28). Die anzuerkennende christologische Wirklichkeit (»as the deepest root of our unity«; 60) wahrt nur dann ihre Wahrheit, wenn niemand sein eigenes Verständnis dieser Wahrheit verabsolutiert – theologische Wahrheit kann ihrem Wesen nach nicht zu einem Gegenstand menschlicher Verfügung werden, sondern nur auf die in Christus lebendige Wahrheit antworten, was eben immer auf vielfältige Weise geschehen wird, weshalb die anglikanische Theologie bewusst mehr praktisch und pastoral als spekulativ und dogmatisch ausgerichtet ist. Um wirklich ökumenisch handlungsfähig sein, müssen die Kirchen ihren provisorischen Charakter erkennen, was alles andere als selbstverständlich ist (107). Avis beklagt, dass die Wiederentdeckung der Notwendigkeit von Mission häufig mit einem Nachlassen im ökumenischen Engagement einhergeht, anstatt beides miteinander zu verknüpfen. In dieser Verknüpfung liegt die eigentliche ökumenische Verheißung (65). Nur ein wirklich ge­meinsam gegangener Weg, der nicht allein von theologischen De­batten bestritten werden kann, kann zu einem gemeinsamen Ziel führen (95 f.). Entscheidend wird es darauf ankommen, die strittigen ethischen Fragen einzubeziehen, ohne den erforderlichen Prozess unter Druck zu setzen. Angesichts der geforderten Ernüchterung wird auch für Avis auf lange Sicht der Weg das Ziel sein, da er der angestrebten Einheit einen starken eschatologischen Akzent gibt (43 ff.).
Als älteste Freikirche mit Wurzeln in der Täuferbewegung des 16. Jh.s stehen die Mennoniten ebenfalls für eine situationsbezogene und praktisch orientierte Perspektive, verfolgen dabei aber als eine der Historischen Friedenskirchen deutlicher als die Anglikaner eine klar benennbare ethische Option. Die von Fernando Enns herausgegebene Dokumentation der wichtigsten offiziellen ökumenischen Gespräche weltweit seit 1981 gibt eine am gemeinsamen Zeugnis – Wort und Tat – orientierte Hermeneutik zu erkennen, die im Wahrnehmen gemeinsamer Verantwortung zugleich zu einer »Heilung der Erinnerungen« befähigt, der in diesem Zusammenhang immer wieder eine besondere Bedeutung zu­kommt. Die ökumenischen Dialoge verfolgen aus der Sicht der Mennoniten weder möglichst haltbare Lehrfeststellungen noch irgendwelche Unionen, sondern sind substanziell auf ihre Rezeption ausgerichtet. Enns spricht von »Übersetzungshilfen« (14) zur Überwindung der historisch akkumulierten Fremdheit, um die Einheit sichtbar zu machen, die in dem von den verschiedenen Kirchen erhobenen Anspruch auf Katholizität annonciert wird. In einer in diesem Band abgedruckten Erklärung nimmt die Mennonitische Weltkonferenz 2006 eine klare Selbstpositionierung vor, in der auffällt, dass sie weniger ökumenische Hoffnungen artikuliert als vielmehr nur beiläufig, aber dennoch ganz und prägend, von ökumenischen Voraussetzungen ausgeht, was den ambitionierten ethischen Orientierungen dann auch eine solenne Gelassenheit verleiht. Die wesentlichen Voraussetzungen für eine Weggemeinschaft sind gegeben, sie kommen aber nur zum Tragen, wenn man sich wirklich aufmacht.



6. Multilaterale Annäherungen17


Die Verbindung von Autorität und Synodalität zur ökumenischen Hermeneutik besteht vor allem in ihrem Verhältnis zur Wahrheit. Gewiss wird sich schnell ein ökumenischer Konsens darüber herstellen lassen, dass die Wahrheit in ihrer ganzen Fülle auf der Seite des trinitarisch verstandenen Gottes verortet bleibt, aber die Kirchen kommen nicht darum herum, die Reichweite ihres unverzichtbaren Umgangs mit der Wahrheit und der damit verbundenen Verbindlichkeit auszuloten. Der von Christoph Böttigheimer und Johannes Hofmann herausgegebene Dokumentationsband eines ökumenischen Symposiums der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt verdeutlicht somit auch unversehens die hermeneutische Brisanz, die in dem unterschiedlichen Umgang mit der Autorität verbunden ist, die auf höchst unterschiedliche Weise von den Kirchen für sich bzw. für das in ihr prägende Amt in Anspruch genommen wird. Es sind nicht einfach nur strukturelle Grenzen, die von der Ökumene nüchtern zu registrieren sind, sondern jeweils auch dynamische Systeme mit einer für die Ökumene ansprechbaren Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Problemkonstellationen. Ebendieses Potential gilt es gegenüber den naturgemäßen Beharrungskräften zu annoncieren und zu aktivieren. Dazu sind die theologischen Begründungshorizonte zu erkunden, die von den Rechtsformen teilweise mehr verdeckt als zur Darstellung gebracht werden.
Ein überaus erfrischender Wind weht in den vor allem von jüngeren Ökumenikerinnen und Ökumenikern getragenen Ta­gungen der Arbeitsgemeinschaft Ökumenische Forschung. Auf dem Hintergrund einer nüchternen Diagnose der gegenwärtigen ökumenischen Lage geht es um grundlagentheoretische Neujus­tierungen der ökumenischen Arbeit, die insbesondere von dem Studiendokument der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung »A Treasure in Earthen Vessels« (1998) inspiriert ist. Einerseits erfordert die Entdeckung der »großen Ökumene«, die auf das Verhältnis der verschiedenen Religionen zueinander ausblickt, un­gleich höhere Ansprüche an die Hermeneutik, als sie im Horizont der Hermeneutik des differenzierten Konsenses bedacht wurden. Die Theologie keiner Kirche wird sich von dieser Herausforderung einfach fernhalten können. Ohne Veränderungen im traditionellen Selbstverständnis wird dies nicht abgehen können. Und andererseits gilt es, die Tiefenschärfe des Konsensverständnisses für die »kleine Ökumene« weiter zu vertiefen und zu differenzieren. Dazu gehören ein vertieftes Verständnis für die Bedeutung seiner kommunikationstheoretischen Bedingungen und der tatsächlichen Erreichbarkeit, seiner systemischen Begrenztheit, seiner internen Pluralisierung wie auch der lebenspraktischen Begleitumstände und schließlich auch seiner tatsächlichen Rezeption. Die regulative Bedeutung der angezielten Lehre kann niemals mehr als eine Dimension unter anderen sein, was der auch sonst im besten Fall relativen Bedeutung der Lehre für das Leben der Kirchen entspricht. 18
Die Feststellung einer Grunddifferenz ist weniger als die Feststellung einer prinzipiellen Trennung zu bewerten als vielmehr als eine Benennung des Bedingungshorizontes, in dem sich die gesuchte Gemeinschaft entfalten kann. Dialoge werden nicht von abstrakten konfessionellen Identitäten oder theologischen Referenztheorien geführt, sondern von Personen, die nicht schon dadurch hinreichend charakterisiert werden, dass sie einer be­stimmten Tradition zugeordnet werden. Wollen die Kirchen den Leib Christi bilden, brauchen sie sich gegenseitig (112 f.). Im Zuge zunehmender Säkularisierung und Pluralisierung wird manchenorts dafür bereits ein produktives Gespür entwickelt. Netzwerke und runde Tische auch über die Grenzen der traditionellen Konfessionen hinaus erweisen sich hier möglicherweise als zukunftsfä­higer als die bisher favorisierten Lehrgespräche. Schließlich sind es nicht zuletzt die abgedruckten Fallstudien, die diesem Band ein ungewöhnlich hohes Anregungspotential verleihen.



7. Schluss


Auch wenn die Situation insgesamt unübersichtlicher geworden ist, so lassen die Differenzierungen durchaus eine kohärente Entwicklung erkennen. Es sind überall die gleichen Karten im Spiel, aber sie haben unterschiedliches Gewicht und das Spiel folgt jeweils anderen Regeln. Zweifellos findet auch die Suche nach einer angemessenen ökumenischen Hermeneutik erkennbar unter den Bedingungen der babylonischen Sprachverwirrung statt, aber dies wird nicht mehr ignoriert, sondern selbst zum Gegenstand der Reflexion sowohl in ihrer aporetischen als auch in ihrer produktiven Bedeutung. Die intensive neue Selbstreflexivität der Ökumene ist ein wirklicher Gewinn.
Eine besondere Betonung wird auf die grundlegende Bedeutung des gegenseitigen Vertrauens gelegt und damit auf die geistlichen Rahmenbedingungen, die ernst damit machen, dass die Einheit immer schon unseren Anstrengungen vorausliegt. Auch ist die Anerkennung nicht nur einer bleibenden, sondern eben auch ge­wünschten Vielfalt zum Gemeingut geworden. Die theologischen Begründungen und Voraussetzungen werden expliziter benannt, auch wenn nicht immer alles aufgeht. Wurde früher mehr vom Ziel aus gedacht, so wird heute eher an den gemeinsamen Ausgangspunkt appelliert, der aber nicht vor allem in der Vergangenheit zu suchen ist, sondern im Horizont der gegenwärtigen Sendung der Kirche liegt. Das Ziel steht nicht mehr im Horizont der Naherwartung – der Weg hat deutlich an Bedeutung gewonnen. Da, wo das Ziel in den Horizont der Eschatologie gestellt wird, ist der Weg zum entscheidenden Gegenstand der ökumenischen Anstrengungen geworden. Das Einheitsverständnis ist allseits durchdrungen von den Motiven der Koinonia und einer Konziliarität, die selbst auch als ein Element der Gemeinschaftspflege verstanden wird. Damit haben sich keineswegs die Inhalte verflüchtigt, aber sie werden deutlicher als bisher eingebettet in einen im Auge zu haltenden Gesamtrahmen, der nicht allein von dem Drängen auf doktrinale Klarheit geprägt ist.
Dass die Kritik an der Konsensökumene in der Wahrnehmung der ekklesiologischen Bedeutung Israels noch eine besondere Tiefenschärfe gewinnt (Ritschl, Körtner), ließ sich in diesem Rahmen nicht angemessen entfalten, sollte aber als ökumenisches Desiderat wenigstens erwähnt werden. Von hier aus wären weitreichende Konsequenzen für das Ökumeneverständnis zu erwarten.19 Das überzeugendste Argument der Kritiker der Differenzökumene liegt dagegen in der Gefahr, dass dem essenziellen Bemühen um die verbindenden Gemeinsamkeiten die erforderliche Energie entzogen wird und die Ökumene damit insgesamt einer schleichenden Verdunstung ausgesetzt wird. Schließlich aber bleibt das Plädoyer für die Differenz ebenso auf einen Konsens in seiner Vermittlung angewiesen wie umgekehrt das Plädoyer für den Konsens auf eine realistische und produktive Wahrnehmung der Differenz.

Fussnoten:

1) Dieser Literaturbericht bringt unterschiedliche Stimmen zusammen, ohne auch nur annähernd Vollständigkeit anzustreben. Es sind vor allem zwei Ereignisse, welche der Diskussion über die ökumenische Hermeneutik besonderen Auftrieb gegeben haben. Einmal das Studiendokument der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung »A Treasure in Earthen Vessels. An Instrument for an Ecumenical Reflection in Hermeneutics« (1998; deutsch: Ein Schatz in zerbrechlichen Gefäßen. Eine Anleitung zu ökumenischem Nachdenken über Hermeneutik, hrsg. v. D. Heller, Frankfurt a. M. 1999) und die am 31. Oktober 1999 in Augsburg unterzeichnete »Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre« (GER).
2) Aram I, Katholikos von Kilikien als Vorsitzender des Zentralausschusses des ÖRK in einer Ansprache auf einer Konsultation im Libanon zum Thema »Neugestaltung der Ökumenischen Bewegung« (2003): Auf dem Weg zu einer ökumenischen »Konfiguration« für das 21. Jahrhundert, in: ÖR 54 (2005), 3–12, 9.
3) Im Blick auf die Orthodoxie wird es bei diesen allgemeinen Bemerkungen bleiben müssen, da mir keine neueren vertiefenden Studien zur ökumenischen Hermeneutik bekannt sind.
4) Wie kann die Orthodoxie die ökumenische Bewegung verändern? Wie kann die ökumenische Bewegung die Orthodoxie verändern?, in: ÖR 55 (2006), 51–59, 51.
5) Manole, Nicolae: Ekklesiologische Perspektiven im Dialog zwischen den orthodoxen und reformatorischen Kirchen. M. e. Geleitwort v. Prof. Ch. Schwöbel, e. Vorwort v. Metropolit Serafim u. e. Empfehlung v. Prof. V. Ionita. Münster: LIT 2005. XVIII, 410 S. 8° = Ökumenische Studien, 31. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-8258-7825-2.
6) Ingolf U. Dalferth, Auf dem Weg der Ökumene. Die Gemeinschaft evan­-gelischer und anglikanischer Kirchen nach der Meissener Erklärung, Leipzig (Evangelische Verlagsanstalt) 2002; Walter Dietz, Ökumenische Hermeneutik und die Suche nach Konsens, in: ÖR 52 (2003), 142–156; [Ritschl, Dietrich:] Profilierte Ökumene. Bleibend Wichtiges und jetzt Dringliches. Festschrift für Dietrich Ritschl. Hrsg. v. F. Enns, M. Hailer u. U. Link-Wieczorek. Frankfurt a. M.: Lembeck 2009. 314 S. m. 1. Abb. 8° = Beihefte zur Ökumenischen Rundschau, 84. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-87476-587-9; Ulrich H. J. Körtner, Wohin steuert die Ökumene? Vom Konsens- zum Differenzmodell, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2005; Ulrich Kühn, Zum evangelisch-katholischen Dialog. Grundfragen einer ökumenischen Verständigung (ThLZ.F 15), Leipzig (Evangelische Verlagsanstalt) 2005; Dietrich Ritschl, Theorie und Konkretion in der Ökumenischen Theologie. Kann es eine Hermeneutik des Vertrauens inmitten differierender und semiotischer Systeme geben?, Münster (LIT) 2003; Lukas Vischer/Ulrich Luz/Christian Link, Ökumene im Neuen Testament und heute, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2009.
7) Vgl. dazu die grundlegenden und erhellenden Darlegungen, 195–243.
8) In diesem Band findet sich zudem die meines Wissens substanziellste Präsentation der Meissen-Ökumene im Kontext der gesamtökumenischen Entwick­lungen, vgl. 55–149.
9) Vgl. dazu 245–278.
10) Vgl. bereits: Schluß mit der Konsenssuche. Die Ökumene braucht eine neue Hermeneutik, in: EvKom 32 (1999), 26–29.
11) Christoph Böttigheimer, Ökumene ohne Ziel? Ökumenische Einigungsmodelle und katholische Einheitsvorstellungen, in: ÖR 52 (2003), 174–187; [Neuner, Peter:] Kircheneinheit und Weltverantwortung. Festschrift für Peter Neuner. Hrsg. v. Ch. Böttigheimer u. H. Filser unter Mitarbeit v. F. Bruckmann. Regensburg: Pustet 2006. 779 S. m. 1 Porträt. gr.8°. Lw. EUR 54,00. ISBN 978-3-7917-1998-6; [Pesch, Otto Hermann:] »Kein Anlass zur Verwerfung«. Studien zur Hermeneutik des ökumenischen Gesprächs. Festschrift für Otto Hermann Pesch. Hrsg. v. J. Brosseder u. M. Wriedt. Frankfurt a. M.: Lembeck 2007. 460 S. m. 1 Porträt. gr.8°. Geb. EUR 28,00. ISBN 978-3-87476-525-1; Ernesti, Jörg, u. Wolfgang Thönissen [Hrsg.]: Die Entdeckung der Ökumene. Zur Beteiligung der katholischen Kirche an der ökumenischen Bewegung. Paderborn: Bonifatius; Frankfurt a. M.: Lembeck 2008. 240 S. 8° = Konfessionskundliche Schriften des Johann-Adam-Möhler-Instituts, 24. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-89710-420-4 (Bonifatius); 978-3-87476-575-6 (Lembeck); Hoff, Gregor Maria: Ökumenische Passagen – zwischen Identität und Differenz. Fundamentaltheologische Überlegungen zum Stand des Gesprächs zwischen römisch-katholischer und evangelisch-lutherischer Kirche. Innsbruck-Wien: Tyrolia-Verlag 2005. 308 S. gr.8° = Salzburger Theologische Studien, 25. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-7022-2711-1; Lindfeld, Tim: Einheit in der Wahrheit. Konfessionelle Denkformen und die Suche nach ökumenischer Hermeneutik. Paderborn: Bonifatius 2008. XI, 347 S. gr.8° = Konfessionskundliche und kontrovers­theologische Studien, 78. Lw. EUR 49,90. ISBN 978-3-89710-387-0; An­nemarie C. Mayer, Mit oder ohne Konsens. Methodische Erwägungen zu einer hermeneutischen Grundoption, in: ÖR 52 (2003), 157-173; Thönissen, Wolfgang: Dogma und Symbol. Eine ökumenische Hermeneutik. Freiburg-Basel-Wien: Herder 2008. 255 S. 8°. Geb. EUR 29,90. ISBN 978-3-451-29806-6; Harald Wagner (Hrsg.), Einheit – aber wie? Zur Tragfähigkeit der ökumenischen Formel vom ›differenzierten Konsens‹ (Quaestiones Disputatae, 184), Freiburg i. Br. (Herder) 2000.
12) »Der Weg zur Einheit der Kirche kann … nur der ihrer Erneuerung sein. Erneuerung heißt aber Buße. Und Buße heißt Umkehr: nicht die Umkehr der anderen, sondern eigene Umkehr.« K. Barth, Überlegungen zum Zweiten Vatikanischen Konzil, in: Zwischenstation. FS f. Karl Kupisch z. 60. Geb., hrsg. v. E. Wolf, München 1963, 9–18, 18.
13) Thönissen trägt damit eine zugespitzte Interpretation des Ökumenismusdekrets (UR 4) vor; vgl. 78 ff.
14) Brosseder, Johannes, u. Joachim Track: Kirchengemeinschaft jetzt! Die Kirche Jesu Christi, die Kirchen und ihre Gemeinschaft. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2010. 159 S. 8°. Kart. EUR 14,90. ISBN 978-3-7887-2447-4; Günter Frank/Albert Käuflein (Hrsg.), Ökumene heute, Freiburg i. Br. (Herder) 2010; Eilert Herms/Lubomir Zak (Hrsg.), Grund und Gegenstand des Glaubens nach römisch-katholischer und nach evangelisch-lutherischer Lehre. Theologische Studien, Tübingen (Mohr Siebeck) 2008.
15) Avis, Paul: Reshaping Ecumenical Theology. The Church Made Whole? London-New York: T & T Clark International (Continuum) 2010. X, 209 S. gr.8°. Kart. £ 19,99. ISBN 978-0-567-19443-5; Enns, Fernando [Hrsg.]: Heilung der Erinnerungen – befreit zur gemeinsamen Zukunft. Mennoniten im Dialog. Berichte und Texte ökumenischer Gespräche auf nationaler und internationaler Ebene. Frankfurt a. M.: Lembeck; Paderborn: Bonifatius 2008. 317 S. gr.8°. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-87476-547-3 (Lembeck); 978-3-89710-393-1 (Bo­nifatius).
16) Avis verweist eingehend auf die hohe ökumenische Bedeutung der Meissen-Erklärung von 1991; vgl. 49 ff.
17) Böttigheimer, Christoph, u. Johannes Hofmann [Hrsg.]: Autorität und Synodalität. Eine interdisziplinäre und interkonfessionelle Umschau nach ökumenischen Chancen und ekklesiologischen Desideraten. Frankfurt a.M.: Lembeck 2008. 382 S. gr.8°. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-87476-570-1; Lakkis, Stephen, Höschele, Stefan, u. Stefanie Schardien [Hrsg.]: Ökumene der Zukunft. Hermeneutische Perspektiven und die Suche nach Identität. Frankfurt a. M.: Lembeck 2008. 243 S. 8° = Beihefte zur Ökumenischen Rundschau, 81. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-87476-556-5.
18) M. Hietamäki verweist in ihrem inhaltsreichen Beitrag vor allem auf George Lindbeck.
19) Vgl. auch M. Weinrich, Ökumene am Ende? Plädoyer für einen neuen Realismus, Neukirchen-Vluyn 1995, 149 ff.