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Ausgabe:

Februar/1996

Spalte:

174–176

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Strutwolf, Holger

Titel/Untertitel:

Gnosis als System: Zur Rezeption der valentinianischen Gnosis bei Origenes.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993. 405 S. gr.8o = Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 56. geb. DM 130,­. ISBN 3-525-55164-9.

Rezensent:

Michael Lattke

Diese bedeutende Studie zur sogenannten valentinianischen Gnosis und zur platonisch-spekulativen Theologiewissenschaft des alexandrinischen Gelehrten und Kirchenschriftstellers Origenes (Ende 2. Jh. bis Mitte 3. Jh.) wurde als Dissertation von der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg im Sommersemester 1991 angenommen, ist also fast gleichzeitig mit der Tübinger Arbeit von Christoph Markschies, Valentinus Gnosticus? Untersuchungen zur valentinianischen Gnosis mit einem Kommentar zu den Fragmenten Valentins (Tübingen: Mohr 1992). Betreut wurde Strutwolfs gelehrte Arbeit, die dem Spekulativen und Mythologischen allerdings sehr selten kritisch gegenübersteht, von Adolf Martin Ritter.

In beiden Teilen seiner Arbeit hat der Vf. stark und dogmatisch systematisiert, was einerseits in den indirekten und direkten gnostischen Quellen oft als unübersichtliches Chaos erscheint, andererseits im Prinzipienwerk, den Homilien und Kommentaren des im 6. Jh. teilweise verurteilten Alexandriners mehr oder weniger unsystematisch, allegorisch und apologetisch verstreut liegt. In der Einleitung (11-26) wird zunächst das im Rahmen des Verhältnisses von Antike und Christentum liegende Problem aufgezeigt und die Forschungslage anhand einiger Titel der umfassend verarbeiteten Sekundärliteratur dargestellt. Hier fallen Namen wie H. Jonas, F. Heinemann, W. Völker, N. Brox, H. Langerbeck, K. Rudolph, J. Daniélou, G. Quispel und P. Kübel. Im Literaturverzeichnis (367-391) vermisse ich freilich unter der Sekundärliteratur z.B. die Werke von W. Bousset, Jüdisch-Christlicher Schulbetrieb in Alexandria und Rom (Göttingen 1915 = Hildesheim 1975), und H. J. Krämer, Der Ursprung der Geistmetaphysik (Amsterdam 1964 = 2. Aufl. 1967).

Zur "Identifikation des Valentinianischen" (19-23) werden einerseits die Häresiologen Irenäus (Adversus haereses), Tertullian (Adversus Valentinianos), Hippolyt (Refutatio omnium haeresium) und Epiphanius (Panarion bzw. Haereses) als auch die Excerpta ex Theodoto des Clemens Alexandrinus (vgl. aber die im Quellenverzeichnis fehlende Ausgabe von F. Sagnard [Paris 1948 = 1970]) und die von W. Völker bequem zusammengestellten Originalfragmente der Valentinianer ausgewertet, andererseits die Nag-Hammadi-Codices I,1 (Gebet des Apostels Paulus), I,3/XII,2 (Evangelium Veritatis), I,4 (Rheginosbrief), I,5 (Tractatus Tripartitus), II,3 (Philippusevangelium), V,3 (Erste Jakobusapokalypse) und XI,2 (Valentinianische Exposition) herangezogen.

Von dem Sammelwerk The Nag Hammadi Library in English (387 s.v. Robinson) gibt es übrigens seit 1988 eine dritte, "completely revised edition". Die Oden Salomos, die man kaum noch nach W. Bauers Ausgabe von 1933 zitieren kann (372), werden ausdrücklich ausgeschlossen (22; vgl. zur vorvalentinianischen Datierung M. Lattke, Dating the Odes of Solomos, in: Antichthon 27 [1993] 45-59). Was die dialogische "Rezeption der valentinianischen Gnosis bei Origenes" (23-26, 210-356) betrifft, so "sind sowohl die explizite als auch die implizite Rezeption zu untersuchen", was bei der "für die Darstellung des origeneischen Systems" sehr komplizierten "Quellenlage" (24) keine leichte Aufgabe ist.

Der erste Teil der Arbeit stellt in fünf Kapiteln das System der valentinianischen Gnosis dar (27-209). Die jeweilige Untergliederung erfolgt dabei so, daß die einzelnen genannten Quellen zu Wort kommen, wobei oft zwischen der westlichen Schule (Ptolemäus und Herakleon) und der östlichen Schule (Theodotos) unterschieden und "von ihren theologischen Vorstellungen aus mit einiger Wahrscheinlichkeit auf die Lehre des Valentin, mit der sich alle diese Schüler auseinandergesetzt haben dürften" (28f.), zurückgeschlossen wird.

Das erste Kapitel zeichnet die "Entwicklungslinien der valentinianischen Pleromalehre" nach (30-58). Diagramme und Zusammenstellungen der verschiedenen Namen bzw. Begriffe hätten das "klassisch-valentinianische 30-Äonen-Schema" und seine späteren "Modifikationen und Reinterpretationen" (58) klarer gemacht. Das Fehlen solcher Übersichten ist um so mehr zu bedauern, als das Register (392-405), das selbst z.T. ziemlich unübersichtlich ist (bes. 394-401), nur Bibelstellen und Stellen aus Primärquellen in Auswahl enthält (Philo Alexandrinus ist trotz 361, Anm. 276, nur durch zwei Stellen vertreten [401]!), aber weder moderne Autoren noch Begriffe, Namen, Orte und Sachen. Vielleicht läßt sich ein preiswertes Ergänzungsheftchen herstellen, das diesen Mangel, den schon Herausgeber und Verlag hätten aufdecken sollen, behebt und bei dieser Gelegenheit die dem Autor von mir und anderen Rezensenten mitgeteilten Druckfehler anzeigt. Diese Anregung unterstreicht nur den wissenschaftlichen Rang des vorliegenden Werkes, dessen Druckvorlage im großen und ganzen vorzüglich ist.

Die weiteren vier Kapitel des ersten Teils tragen in systematischer Weise die folgenden Überschriften: "Der Fall und die Entstehung der außerpleromatischen Welt" (59-103), "Die Schöpfung des Menschen und die Drei-Naturen-Lehre" (104-154), "Der Erlöser und sein Werk" (155-180) und "Die valentinianische Eschatologie" (181-209). "Insgesamt läßt sich im Valentinianismus die Tendenz beobachten, Fall und Schöpfung in einem für die Gnosis erstaunlich positive[n] Sinne zu bewerten und als notwendige Durchgang[s]stadien zur Erziehung und Vervollkommnung der Pneumawesen zu verstehen" (103). In der valentinianischen Naturenlehre wird ja zwischen solchen Menschen unterschieden, die als Hyliker "von Natur zum Verderben" und als Pneumatiker "naturhaft zum Heil determiniert" sind, als Psychiker dagegen "frei" sind, "zwischen beiden Möglichkeiten zu wählen" (153). Diese "Drei-Naturen-Lehre" ist im Evangelium Veritatis "zu einer Zwei-Naturen-Lehre umgestaltet" worden, "weil hier die Mittelposition des Psychischen ausgefallen zu sein scheint" (154). Diese kürzlich erst wieder von T. Orlandi bearbeitete Schrift (Evangelium Veritatis [Brescia: Paideia 1992] = Testi del Vicino Oriente antico, Reihe 8: Letteratura egiziana gnostica e cristiana, Bd. 2) "kann sogar eine gnostische Kreuzestheologie entfalten, in der das Kreuz Christi als Offenbarungsgeschehen verstanden wird" (167). Wenn Strutwolf wenig später von einem "antignostischen und antidoketischen Kontext" (169) bei Ignatius sprechen kann, setzt er mit Recht voraus, daß es eine Gnosis schon zur Entstehungszeit des Johannesevangeliums gab. Der gnostische oder zumindest gnostisierende Charakter des johanneischen Jesus müßte wohl stärkere Berücksichtigung in der Darstellung des valentinianischen Erlösers finden, als es bei Strutwolf geschieht. Ähnliches gilt auch für die "Zwei-Phasen-Eschatologie" des Valentinianismus, denn das Nebeneinander "einer prämortalen und präsentischen Auferstehung, die in der Erlangung der Gnosis besteht" (193 f.), und einer futurischen Auferstehung gibt es doch auch schon im vierten Evangelium.

Die drei Kapitel von Teil 2 sind nach systematischen Gesichtspunkten untergliedert. Diese teils philosophisch-spekulativen, teils dogmatisch-mythologischen Unterpunkte beziehen sich zu "Schöpfung und Fall" (214-269), "Christus als Erlöser" (270-307) und zur "Eschatologie" (308-356) auf die origeneische Weiterentwicklung der kirchlichen Voraussetzung, die jeweils ganz kurz skizziert wird (214f., 270, 308). Diese Skizzen sind natürlich nicht nur wegen ihrer Kürze problematisch, sondern auch deshalb, weil der Eindruck erweckt wird, es gäbe in dieser Zeit schon eine feste und monolithische Lehre der una ecclesia catholica.

Es gelingt dem Autor allerdings doch, in sehr detaillierter Weise von den Quellen her und unter Heranziehung der wichtigsten Sekundärliteratur "zeigen zu können, daß sich Origenes sehr wohl in lebendigem Dialog mit der valentinianischen Gnosis befand und sein Gedankengebäude in ständiger Auseinandersetzung mit deren Denken entworfen hat" (214 f., Anm. 22). Insofern hat die Arbeit tatsächlich "ihr Ziel erreicht", nämlich in meisterlicher Beschränkung "mit der Nachzeichnung der Valentinianerrezeption des Origenes einen Aspekt seines imposanten theologischen Entwurfs zu erhellen" (366). Es hätte den Rahmen und Umfang dieser Dissertation überschritten, wenn andere Einflüsse wie die alexandrinische Allegorese, der Mittelplatonismus und die Werke des Clemens Alexandrinus, die im "Ergebnis und Ausblick" aber wenigstens Erwähnung finden (356-366, bes. 360-364), in gleicher Weise diskutiert worden wären.

Das automatische Trennungsprogramm des Computers hat zu einer Reihe von "falschen" Trennungen geführt (z.B. 104,16-17: homousios). Mit der Kommasetzung steht der Autor selbst auf Kriegsfuß (z.B. 290,7: Verhüllung der). Eine unklare bzw. falsche Satzkonstruktion findet sich selten (z.B. 310,18-20; 348216). Auf einer Seite wurde die Umwandlung einiger Wörter ins Koptische vergessen (48108, 112, 113). Statt plané ist pláne zu lesen (passim 81 ff.). Auf Wunsch des Verlags nenne ich von den Druckfehlerberichtigungen, wiederum unter Angabe von Seite(+Anm.) und Zeile, nur diejenigen, die von weitergehender Bedeutung sind (z.B. 21,3: daß; 37,25: indem sie; 58,2: entstehen; 6855,9: widersprechender; 11151,1: dreißig; 121,31: das; 145,3: gefallen; 157,24: vertreten; 159,1: somit der; 16458, 2: .hajje); 166,19: daß er; 109,9 u.ö.: zu Recht [statt "zurecht" passim]; 176133,6 und 379,29: Ebied; 233158,3: Ausdruck; 302182,6: makariótetos; 31647,5: etwa; 370,28: Pontique; 373,43: Schoedel; 380,3 und 381,8: Fontaine; 385,1: Wilson, R. McL.; 385,14 und 388,46: Eltester; 387,20: Andresen). Der origeneische Druckfehlerteufel hat sich in die hübsche Wortprägung "Origenialausgabe" eingeschlichen (381,36: Originalausgabe).