Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2011

Spalte:

828-830

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Neumann, Burkhard, u. Jürgen Stolze [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kirche und Gemeinde in freikirchlicher und römisch-katholischer Sicht.

Verlag:

Göttingen: Edition Ruprecht; Paderborn: Bonifatius 2010. 324 S. 8°. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-7675-7127-3 (Edition Ruprecht); 978-3-89710-440-2 (Bonifatius).

Rezensent:

Uwe Swarat

Es ist noch nicht allzu lange her, dass Pfarrer und Bischöfe der römisch-katholischen Kirche ihre Kirchenglieder vor den evangelischen Freikirchen als protestantischen Sekten gewarnt haben. Umgekehrt hatten viele Glieder der Freikirchen aus dem Puritanismus und der Erweckungsbewegung die Vorstellung übernommen, die katholische Kirche sei der Gipfel des Abfalls vom biblischen Glauben. Eine solche konfessionelle Polemik findet man heute nur noch selten, aber das Verhältnis zwischen Freikirchen und Katholischer Kirche blieb weiter distanziert, vor allem weil die Freikirchen in Deutschland mit ihren rund 250.000 Mitgliedern zahlenmäßig derart klein sind (zur Katholischen Kirche gehören rund 25 Millionen Menschen), dass man sie leicht übersehen und übergehen kann. Umso erstaunlicher und erfreulicher ist es, dass sich seit Februar 2002 freikirchliche und katholische Theologen in regelmäßigen Abständen zu theologischen Tagungen treffen, deren Inhalt und Ertrag der Öffentlichkeit jeweils als Buch bekannt gemacht werden. Getragen werden diese in Paderborn stattfindenden Gespräche von der Vereinigung evangelischer Freikirchen einerseits und dem katholischen Johann-Adam-Möhler-Institut für Ökumenik andererseits. Auf den ersten drei Tagungen ging es unter der Leitung von Walter Klaiber und Wolfgang Thönissen um Rechtfertigung (2002), Glaube und Taufe (2004) und die Bibel im Leben der Kirche (2006). Die Leitung der Tagung und die Herausgeberschaft der Berichtsbände wechselten dann zu Burkhard Neumann und Jürgen Stolze. Die vierte Tagung im Februar 2008 nahm sich des Themas Kirche und Gemeinde an und ist in dem hier zu besprechenden Band dokumentiert.
Als Referenten mitgewirkt haben von römisch-katholischer Seite Rainer Dillmann (Kirchenbilder in der Bibel, 13–34), Burkhard Neumann (Der Wandel des katholischen Kirchenbildes bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil, 63–86), Wolfgang Thönissen (Das Kirchenverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils in ökumenischer Verständigung, 123–148), Michael Hardt (Gemeinde aus katholischer Sicht, 195–216) und Tim Lindfeld (Kirche und Gemeinde im ökumenischen Dialog mit den Freikirchen, 247–273). Auf freikirchlicher Seite referierten drei Baptisten, nämlich André Heinze (Die Pastoralbriefe als Herausforderung freikirchlicher Ekklesiologie, 35–62), Ralf Dziewas (Dimensionen des Amtes im kongregationalistischen Verhältnis von Gemeindebund und Ortsgemeinde, 217–245) und Kim Strübind (Baptistische Ekklesiologie und Ökumene, 275–298), ein Theologe der Freien evangelischen Gemeinden, nämlich Johannes Demandt (Der Wandel eines freikirchlichen Gemeindeverständnisses, dargestellt am Beispiel des Bundes Freier evangelischer Gemeinden, 87–122), der methodistische Professor Michael Nausner (Methodistische Ekklesiologie als Ausdruck globaler Verbundenheit, 149–178) und der Pfarrer der Herrnhuter Brüdergemeine Niels Gärtner (Das Verhältnis evangelische Landeskirche – Herrnhuter Brüdergemeine, 179–194). Abgeschlossen wird der Dokumentationsband mit dem »Versuch einer Zusammenfassung« aus freikirchlicher (Jürgen Stolze) und aus katholischer Sicht (Wolfgang Thönissen) und mit zwei Andachten bzw. biblischen Besinnungen von Jürgen Stolze und Johannes Oeldemann.
Konzeptionell beschränkte sich die Tagung darauf, konfessionelle Selbstdarstellungen nebeneinanderzustellen. Das ist nicht we­nig, da solche Selbstdarstellungen wegen der oft geringen Kenntnis voneinander in der Konfessionskunde und Ökumenik durchaus gebraucht werden. So ist es etwa für das hier diskutierte Thema der Ekklesiologie nicht unwichtig zu wissen, dass sowohl die Evangelisch-methodistische Kirche als auch die Herrnhuter Brüdergemeine nach dem Willen ihrer Gründerpersönlichkeiten gar keine Kirchen sein sollten, sondern ein »Kirchlein in der Kirche« nach dem Modell der pietistischen Gemeinschaften in den Landeskirchen bzw. eine innerkirchliche geistliche Gemeinschaft wie die Orden in der katholischen Kirche. Was das ekklesiologische Selbstverständnis betrifft, gibt es unter den Freikirchen also erhebliche Unterschiede.
Insgesamt gesehen muss man aber sagen, dass das hier dokumentierte Gespräch hinter seinen Möglichkeiten zurückgeblieben ist. So nützlich Selbstvorstellungen sind, so stellen sie doch nur den Beginn eines Gesprächs dar. Spannend und ertragreich wird es erst, wenn es zu einem Vergleich von Traditionen und Positionen kommt. In den Beiträgen tauchen einige Stichworte auf, die für solch einen Vergleich geeignet wären. So hätte man sich z. B. über den Ort der Kirche in der Heilsgeschichte aus freikirchlicher und römisch-katholischer Sicht unterhalten können, über das Verhältnis der Heilsmittlerschaft Christi (»In keinem andern ist das Heil«; Apg 4,12) zur Heilsmittlerschaft der Kirche (»Außerhalb der Kirche kein Heil«; Konzil von Florenz 1442), über das Verständnis von der Sichtbarkeit der Kirche, das Verhältnis von Ortsgemeinden bzw. Ortskirchen und Gesamtkirche, die Lehre und Praxis des »allgemeinen« bzw. (im katholischen Verständnis) »gemeinsamen« Priestertums, die Verhältnisbestimmung der Pluralität von Kirchen zur Einheit der Kirche Christi, die Funktion des biblischen Bildes vom Leib Christi in den jeweiligen Ekklesiologien, Theorie und Praxis der Trennung von Kirche und Staat und anderes mehr. Ein solches Gespräch über bestimmte Problemstellungen hätte Klarheit darüber schaffen können, inwiefern die konfessionellen Differenzen wirklich in der Sache oder nur in unterschiedlichem Sprachgebrauch begründet sind, vor allem aber hätte es in manchen Punkten auch deutliche Konvergenzen erkennen lassen.
Einen Ansatz in diese Richtung macht der Beitrag von Lindfeld, den der Rezensent deshalb auch für den interessantesten in diesem Buch hält. Die Zusammenfassungen der Tagung von Stolze und Thönissen reagieren beide nur auf die Referate der jeweils anderen Seite, fassen also nicht das Gespräch insgesamt ins Auge. So steht nun in der Zusammenfassung des Katholiken (308), dass die Autonomie der Gemeinde biblisch nicht begründet sei (was natürlich stimmt), aber nichts davon, dass der Jurisdiktionsprimat des Papstes ebenso wenig vor der Bibel bestehen kann. Sind nicht diese beiden Verfassungsprinzipien einander entgegengesetzte Extreme, die beide durch den Rückbezug auf die Bibel überwunden werden müssten? Wäre die Herausarbeitung dieser ökumenischen Perspektive nicht eine wichtige Aufgabe eines Gesprächs zwischen Freikirchlern und Katholiken? Aber hier wurde sie nicht gesehen oder jedenfalls nicht angenommen. Vielleicht bringen die weiteren Gesprächsrunden eine Änderung des Verfahrens, indem man sich entscheidet, an gemeinsamen Problemstellungen zu arbeiten und ein Thema jeweils von Referenten beider Seiten behandeln zu lassen. Das Gespräch würde dadurch deutlich intensiver.