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Ausgabe:

Juli/August/2011

Spalte:

818-819

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Büttner, Gerhard, Mendl, Hans, Reis, Oliver, u. Hanna Roose[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion lernen. Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik. Bd. 1: Lernen mit der Bibel.

Verlag:

Hannover: Siebert 2010. 180 S. m. Abb. gr.8. Kart. EUR 18,90. ISBN 978-3-937223-11-7.

Rezensent:

Joachim Willems

Der Begriff Konstruktivismus hat in den letzten knapp fünfzig Jahren eine bemerkenswerte Karriere gemacht: Seit dem Longseller Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit von Peter L. Berger und Thomas Luckmann hatte jede geistes-, sozial- und kulturwissenschaftliche Disziplin ihre Konstruktivismus-Debatte, die befeuert wurde durch weitere Theorien und theoretische Versatzstücke aus Kognitionspsychologie, Hirnforschung, Evolutionsbiologie und Systemtheorie. In den Erziehungswissenschaften er­schienen seit den 1990er Jahren grundlegende konstruktivistische Arbeiten. Es ist verwunderlich, dass die Religionspädagogik erst spät von der Konstruktivismus-Welle erfasst wurde, bezieht sich doch die Praktische Theologie schon länger gerne auf die Religionstheoretiker Berger, Luckmann und Luhmann: 2005 bzw. 2006 gaben Hans Mendl und Gerhard Büttner je einen katholischen und einen evangelischen Sammelband zur konstruktivistischen Religionspädagogik heraus.
Konstruktivistische Religionspädagogik geht von der gemein-konstruktivistischen Einsicht aus, dass Weltsichten niemals die Welt abbilden, wie sie ›wirklich‹ ist. Vielmehr ist jede menschliche Weltsicht eine Konstruktion, die, um von Dauer zu sein, ›viabel‹, also passend sein muss: Eine Weltsicht ist dann viabel, wenn sie Menschen erfolgreiche Orientierung und Handeln in der natürlichen und der sozialen Welt ermöglicht. Pädagogisch gewendet folgt daraus, dass es nicht darum gehen kann, Schülern eine ›richtige‹ Weltsicht zu vermitteln. Denn zum einen gibt es ja, konstruktivistisch betrachtet, nicht ›die‹ richtige Weltsicht, und zum anderen lassen sich Weltsichten nicht in dem Sinne vermitteln, dass die Schüler sie abbildhaft übernehmen. Denn auch für Weltsichten und Weltdeutungen gilt: Jedes Individuum konstruiert seine Wahrnehmungs- und Deutungsmuster selbst.
Dieser Ansatz wirft eine Reihe von Fragen auf: Muss eine konstruktivistische Religionsdidaktik Abstand nehmen vom Wahrheitsanspruch des Christentums? Kann man noch Unterricht planen und Lernziele definieren, wenn jeder Schüler, jede Schülerin individuelle Lernwege beschreitet und von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehend selbstständig Wissen konstruiert? Können solche Lernwege noch benotet werden? Aber auch: Wie lassen sich Lernumgebungen so gestalten, dass sie in der Lage sind, Schüler, die von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehend lernen, optimal dazu anzuregen, ihre je eigenen Konstruktionen zu verbessern und zu verfeinern – also zu lernen? – Um solche Fragen zu klären, ist 2010 das ökumenische Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik gegründet worden, und zwar von Gerhard Büttner und Hans Mendl, den Pionieren konstruktivistischer Religionspädagogik, mit Hanna Roose und Oliver Reis. Der erste Band begründet zunächst die Notwendigkeit eines solchen Jahrbuchs, skizziert Grundzüge einer konstruktivistischen Religionsdidaktik und stellt diese in den weiteren Kontext pädagogischer und religionspädagogischer Diskurse. Es folgen vier Rubriken, die mit diesen Überschriften auch die folgenden Bände des Jahrbuchs gliedern werden: Theoretische Grundlegungen, Theorie-Praxis-Beiträge, Unterrichtsentwürfe/Lernumgebungen, Der fremde Blick.
Die Beiträge des Bandes zeigen jeweils auf ihre Weise, dass längst nicht alles neu ist, was nun unter dem Begriff der konstruktivis­tischen Religionsdidaktik präsentiert wird: Dass es keinen Nürnberger Trichter gibt, durch den man seine Unterrichtsinhalte in die Köpfe der Schüler legt, wissen Lehrer und Religionspädagoginnen ja schon lange. Und die Bedeutung von kreativen und handlungs-/produktionsorientierten Methoden, die die Selbsttätigkeit der Schüler stimulieren, kann man ebenfalls auch ohne Rückgriff auf den Konstruktivismus schlüssig begründen.
Dennoch, das zeigen die Beiträge ebenfalls, lohnt sich das Unternehmen einer konstruktivistischen Religionsdidaktik – nicht nur, weil bereits bekannte Erkenntnisse so noch einmal anders zur Geltung gebracht werden können. Die konstruktivistische Terminologie hilft auch, verschiedene Felder der Religionspädagogik zu integrieren, aufeinander zu beziehen und zu begründen: Reflexionen über Lernziele und Kompetenzen, über Unterrichtsinhalte, über Lerntheorie und Unterrichtsmethoden, em­pirische Unterrichtsforschung und entwicklungspsychologische Forschung. Darüber hinaus eröffnet die konstruktivistische Terminologie neue Möglichkeiten zur interdisziplinären Zusammenarbeit, wie ja schon die Beiträge des hier besprochenen Bandes zeigen, und bindet damit die Religionspädagogik auf neue Weise ein in das Ensemble der theologischen Disziplinen einerseits, der erziehungswissenschaftlichen Fächer und Fachdidaktiken andererseits.