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Ausgabe:

Juli/August/2011

Spalte:

814-816

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Reus, Juliane

Titel/Untertitel:

Kinderbeichte im 20. Jahrhundert. Pastoralgeschichtliche Untersuchung zum Wandel der Erstbeichtvorbereitung in Deutschland.

Verlag:

Würzburg: Echter 2009. 416 S. m. Abb. gr.8° = Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge, 78. Kart. EUR 42,00. ISBN 978-3-429-03084-1.

Rezensent:

Elisabeth Naurath

Ist die Praxis der Kinderbeichte heute noch zeitgemäß oder ein anachronistisch gewordenes Relikt katholischer Erziehungslehre, die in der Kopplung an die Erstkommunion eher formale denn lebensrelevante Erwartungen erfüllt? Ist nicht die Beichte grundsätzlich ein auch für Katholikinnen und Katholiken zunehmend marginalisiertes Sakrament? – Derartige Fragen kommen in den (protes­tantischen) Sinn beim ersten Aufschlagen der umfangreichen Studie zum Thema der Kinderbeichte im 20. Jh.
Doch beim Lesen dieser an der kritischen Rezeption historischer Quellen ausgerichteten Untersuchung zeigt sich bald die Tragweite, die das anvisierte Thema hinsichtlich des sich im vergangenen Jh. radikal wandelnden Kindbildes und (religiösen) Erziehungsverständnisses verdeutlicht. Insofern bietet die im Jahr 2009 von der katholischen Pastoralreferentin Juliane Reus als Dissertationsschrift eingereichte pastoralgeschichtliche Untersuchung zum Wandel der Erstbeichtvorbereitung in Deutschland nicht nur allen am Bußsakrament Interessierten detaillierte und aufschlussreiche Informationen, sondern erweist sich auch als spannend zu lesender theologiegeschichtlicher Gang durch die katechetischen und religionsdidaktischen Konzepte des 20. Jh.s.
»Neuscholastischer Katechismusunterricht und reformpädagogische Bewegung« als Thema des ersten Hauptteils beginnt mit einer Hinführung zum Buß-Ritus und dem unabdingbar vorbereitenden Beichtunterricht von der Antike bis zur Neuzeit. War zunächst das Bußsakrament ab dem 12. Jh. als vorwiegend öffentlich praktizierte Lösung von schweren Sünden durch die Gemeinde eingesetzt worden, so entwickelte sich zunehmend das Beichten – dann als Kinderbeichte – auf der Basis der Gewissensforschung durch katechismusartige Beichtbücher zu einem Element religiöser Erziehung. Überzeugend ist die von R. gewählte Differenzierung nach anthropologischen, theologischen und didaktischen Kriterien – mit dem etwas ungewohnten Begriff der ›Zeit-Perspektive‹ tituliert – in ihrem Einfluss auf die Beichtpraxis einer be­stimmten kirchenhistorischen Epoche. So zeigt sich zu Beginn des 20. Jh.s eine Praxis der Kinderbeichte, die vorrangig ab dem dritten Schuljahr die Kinder mittels eines Beichtspiegels zur Sensibilität ihrer möglichen Sünden und zu einem den Geboten entsprechenden Leben führen soll. Dass diese Art der Seelenführung kleiner Kinder via eschatologischer ›Grausamkeiten‹ – beispielsweise in der dramatischen Schilderung von göttlichen Gerichtsurteilen und Höllenstrafen – manipulierend wirkte und stark moralisierend Ängste schürte, liegt auf der Hand. In didaktischer Hinsicht hat die theologische Dominanz eines Richtergottes, dem allgegenwärtig und allwissend nichts entgeht, die Transzendierung zeitgenössisch relevanter ethisch-moralischer Vorstellungen zur Folge, die mittels eines sich entwickelnden Differenzierungsvermögens von Gut und Böse zur intrinsischen Gewissensforschung (und wohl nicht selten auch Gewissensqual!) werden konnte.
Im Blick auf konzeptionelle Fragen der Katechetik zu Beginn des 20. Jh.s zeigen sich interessante Verschiebungen, die mit re­formpädagogischen Einflüssen zu tun haben und nun stärker die Kindgemäßheit der Beichtspiegel (Kinderbeichtspiegel) und der ethischen Erziehung in den Blick nehmen. Grundsätzlich bleibt jedoch ein autoritär gefasster Gehorsamsbegriff leitend – der zu­dem in der durch den Nationalsozialismus beherrschten Zeit deutlich radikalisiert wurde – und verknüpft ein todbringendes Sündenverständnis mit einer vorwiegend angstbesetzten Praxis der Kinderbeichte.
Die Überschrift des zweiten Hauptteils »Kerygmatische Katechese und Orientierung an der Kognitiven Entwicklungspsychologie« erstaunt zunächst als konzeptioneller Widerspruch, wird dann jedoch mit der Proklamation eines Paradigmenwechsels in den 60er Jahren verdeutlicht. Bereits hier zeigt sich der von R. intendierte Fokus, wenn sie schreibt: »Es wird sich zeigen, dass die Prävalenz des Sündenthemas, das in der ersten Hälfte des 20. Jh.s auszumachen gewesen ist, in der Folgezeit einer Prävalenz der Gottesliebe und Beziehungsfähigkeit weicht« (136). Exemplarisch wird anhand der Schriften Clemens Tilmanns als umfassendstem Konzept eines neuen Bußunterrichts in den Nachkriegsjahren erarbeitet, dass weniger blinder Gehorsam als vielmehr eine Verinnerlichung göttlicher Gebote (insbesondere des Dekalogs) zur Übernahme eigenständiger Verantwortung führen sollte. Ausgehend von Karl Rahners Theologie entwickelte sich eine intentionale Verlagerung religiöser Erziehung, die man plakativ als Wechsel von einer eher angsteinflößenden und auf Sündhaftigkeit fixierten Beichttheologie zu einer annehmenden, am Evangelium orientierten Zusage an den Menschen sehen kann.
Die in wachsendem Maße durch die Rezeption entwicklungspsychologischer Erkenntnisse am Kind ausgerichtete Erstbeichte, die seit den 80er Jahren vorwiegend im Verlauf des dritten Schuljahres als Vorbereitung zur Erstkommunion praktiziert wird, findet gegenwärtig ihre Fortführung mittels der Frage, wie »Kinder heute das Bußsakrament gewinnbringend empfangen können« (254). So verfolgt R. im letzten Hauptteil ›Beziehungsfähigkeit als Voraussetzung für Umkehr und Versöhnung‹ die Frage, inwiefern auch für wenig religiös sozialisierte Kinder die Erstbeichtvorbereitung bzw. die Erstbeichte Möglichkeiten einer zeitgemäßen Ge­wissensbildung beinhalten kann. Hierbei steht der Beziehungsbegriff bzw. eine beziehungstheologische Ausrichtung, die sich an Umkehr und Versöhnung orientiert, im Vordergrund: »Dabei wird leitender Gedanke sein, dass eine Buß- und Versöhnungskatechese als Beziehungskatechese anzusehen ist und vorrangig eine Hilfestellung zum gelingenden Leben sein muss.« (254)
Hierbei werden kritische Fragen in den Diskurs einbezogen: So weise der im can. 914 des Codex Iuris Canonici (CIC) festgelegte Verpflichtungscharakter, dass Kinder vor der Erstkommunion das Bußsakrament in Form der Einzelbeichte zu empfangen haben, auf die Problematik der entwicklungspsychologisch und lebenskontextuell zu reflektierenden Fragen, ob denn der Zeitpunkt der Beichtvorbereitung im Grundschulalter wirklich angemessen ist. Die Nähe der Beichte zur Kommunionsfeier und die häufig fehlende Beichtpraxis der Erwachsenen (Beichte als Kindersakrament?) lasse eher den Eindruck eines volkskirchlichen Brauchs denn einer lebensrelevanten Begleitung entstehen. In theologischer Hinsicht problematisch ist die Voraussetzung der Beichte vor der Erstkommunion, die den Eindruck einer Vorleistung erhärte und den Cha­rakter der bedingungslosen Zusage Gottes in den Hintergrund treten lasse.
So kommt R. in ihrer gut lesbaren und überzeugend strukturierten pastoralgeschichtlichen Untersuchung schließlich zu der Schlussfolgerung, dass der Weg von der »Drohbotschaft zur Frohbotschaft« (280) nur auf der Basis einer persönlichen Beziehung zu Gott, der als barmherziger und lieber Gott charakterisiert wird, zu finden sei. Weniger eschatologische (auf der Basis einer Androhung von sündentheologisch gerechtfertigten Strafen) als entwicklungspsychologische Kriterien (auf der Basis der kindlichen Kompetenzen zu kognitiv moralischen Urteilen) sollten sowohl gegenwär­tigen Beichtunterricht als auch -praxis bestimmen. Bei aller (vor allem aus protestantischer Perspektive deutlichen) Skepsis gegen­-über der von R. klaren Positionierung zur Sinnhaftigkeit der Kin derbeichte im Grundschulalter, stellen sich in den Schlussfol­gerungen allerdings nicht konfessionell begründete, sondern grundsätzliche Fragen: Sind die anscheinend selbstverständlichen An­nahmen, Kinder seien mittels beicht- als beziehungskatechetischer Unterweisungen auf dem Weg ihres Christseins zu begleiten und hierzu sei eine familiär gelingende Glaubenskommunikation notwendig, nicht allzu fern von der Realität heutigen kindlichen und zumeist kirchenfernen Aufwachsens getroffen? So schließt sich nach gewinnbringender Lektüre vorliegender Studie der Kreis zur Eingangsfrage nach der Zeitgemäßheit und damit Relevanz der Kinderbeichte im 21. Jh.