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Ausgabe:

Juli/August/2011

Spalte:

812-814

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Reppenhagen, Martin, u. Michael Herbst [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kirche in der Postmoderne.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2008. 252 S. m. Tab. 8° = Beiträge zu Evangelisation und Gemeindentwicklung, 6. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-7887-2313-2.

Rezensent:

Jan Hermelink

Seit seiner Gründung im Jahre 2004 veranstaltet das »Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeaufbau« an der Universität Greifswald wissenschaftliche, meist interdisziplinäre Tagungen zu Fragen des kirchlich-missionarischen Handelns. Das außerordentlich breit angelegte Thema »Kirche in der Postmoderne« wurde im Herbst 2007 von Missionswissenschaftlern, Religionssoziologen und Praktischen Theologen traktiert und im vorliegenden Band publiziert. Die insgesamt zehn Aufsätze sind thematisch wie methodisch sehr heterogen; sie seien zunächst kurz skizziert.
Den Anfang machen die beiden Missionswissenschaftler Lamin Sanneh (Yale) und Andreas Feldtkeller (Berlin). Sanneh gibt einen kursorischen Überblick über die Erweckungsbewegungen, die das postkoloniale, »nachwestliche Christentum« vor allem im Afrika der 1980er und 1990er Jahre prägen, und plädiert dafür, diese neue Ökumene »am Rande der etablierten Kirchen« partnerschaftlich wahr- und aufzunehmen. – Feldtkeller wendet das klassische Thema der »Kontextualität« auf die westeuropäische Situation an und würdigt die Kirchenaustritte der letzten Jahrzehnte als Realisation individueller Religionsfreiheit gegenüber der traditionellen, staatsnahen Kirche. Nur »auf dem Boden einer vollständig bejahten Kultur der Religionsfreiheit« (41 f.) könne in Europa wie in anderen Weltteilen für das Christentum geworben werden. An­hand der Kircheneintritte kann Feldtkeller zeigen, dass die Evangelische Kirche in Deutschland missionarisch ›erfolgreicher‹ ist als alle anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften; gleichwohl könne sie ihre »missionarischen Kompetenzen« verbessern.
Heinzpeter Hempelmann (Stuttgart) bemüht sich – im Rekurs auf F. Nietzsche – um einen philosophischen Begriff der Postmoderne und versucht, in diesen Horizont die Erscheinung Jesu sowie – eher abstrakt – die »kenotische Partizipation« einer Kirche einzuzeichnen, die sich der eigenen Schwächen und Widersprüchlichkeiten »nicht schämt« (75) und gerade so auf Christus vertraut.
Es folgen zwei aufschlussreiche religionssoziologische Beiträge. Karl Gabriel (Münster) entfaltet seine bekannten Thesen zum ge­sellschaftlichen Ort der europäischen Kirchen zwischen »Entkirchlichung, individualisierter Religiosität und neuer Sichtbarkeit der Religion« anhand differenzierter Daten, und er benennt einige kirchliche Herausforderungen wie die Klärung des Verhältnisses zum religiösen Pluralismus und zur staatlichen Macht, das zivil­-gesellschaftliche Engagement und die Öffnung für radikal subjektive Religion. – Linda Woodhead (Lancaster) führt unter dem Titel »From Christendom to Christianity« knapp, aber instruktiv in die internationale religionssoziologische Diskussion ein, skizziert einen ›value-based approach‹ zu Säkularisierungs- und Transformationstheorien und kann auf der Basis des European Value Survey (1980–2000) zeigen, dass Kirchen dort wachsen, wo sie nicht länger politische und religiöse Autorität beanspruchen, sondern – in Übereinstimmung mit (post-)modernen Wertorientierungen – auf religiöse Erfahrung, individuelle Selbstbestimmung, dichte Beziehung und institutionelle Beteiligung setzen. Sie empfiehlt den Kirchen zugleich, im Kontrast zur Gegenwartsgesellschaft eigene Werte wie Solidarität, Erinnerung und Offenheit für das Transzendente zu betonen.
Im zweiten Teil des Bandes treten innerkirchliche Fragen in den Vordergrund. Johannes Zimmermann (Greifswald) thematisiert – im Anschluss an seine Habilitationsschrift – »Individualität und Sozialität in der christlichen Gemeinde«, verbleibt allerdings durchgehend im theologischen Binnendiskurs und hält – trotz der Akzeptanz von Pluralität und Netzwerkorganisation – fest, dass eine Event- oder Gelegenheitskirche doch immer nur der Übergang sein könne zur Bildung von verbindlicher, engagierter Gemeinschaft.
Ralph Kunz (Zürich) skizziert in großen, mitunter etwas vagen Bögen den Zusammenhang von Kirchenreform und »Taufreform«. Im Rekurs auf K. Barth, D. Bonhoeffer und J. Moltmann will er die Gläubigentaufe stärken und auch bei der Säuglingstaufe eine bewusste Aneignung und Tauferinnerung fördern – das »Ende der Volkskirche« nimmt er dabei zugunsten eines »geistlichen Neuanfangs« in Kauf (181).
Matthias Clausen (homiletischer Doktorand in Greifswald) geht gründlicher als die meisten Autoren auf die Postmoderne-Debatte ein. Er skizziert die reformierte Erkenntnistheorie des »Postfoundationalism« (A. Plantinga u. a.), um »evangelistisches Predigen« als postmoderne Apologetik zu konturieren. Der Rekurs auf Wittgenstein führt ihn zu einer – weniger originellen – Betonung narrativer Predigt.
Der Missions- und Ökumenewissenschaftler Darrell Guder (Princeton) skizziert – eher oberflächlich – die missionstheologische Debatte des 20. Jh.s und konzentriert sich auf die These, »die Gemeinde« müsse als missionarisches Subjekt verstanden und mittels einer neutestamentlichen »Missionshermeneutik« »zugerüstet« werden (215 ff.). Die westeuropäischen Debatten, auch zur biblischen Hermeneutik, bleiben hier unbedacht.
Schließlich wendet sich Michael Herbst, der Leiter des Greifswalder Instituts, in sehr differenzierter Weise dem Thema »Geist­liche Führung in der Kirche der Postmoderne« zu. Er referiert eine Reihe organisationspsychologischer, darunter transformationale und systemische, Führungstheorien und bringt sie ins Gespräch mit biblischer und reformatorischer Amtstheologie. Im Ergebnis relativiert er das (evangelikal verbreitete) Ideal charismatischer Gemeindeleitung nachhaltig zugunsten einer teamorientierten, die Gaben der Einzelnen fördernden und die gemeinschaftliche Vision entfaltenden Führung.
So interessant einige Einzeleinsichten des Bandes sind – sein (allzu) großes Thema bringt er leider kaum voran. Denn schon der Begriff der Kirche changiert zwischen den weltweiten bzw. europäischen oder den deutschen, den christlichen oder evangelischen (Landes-) Kirchen; einige Beiträge (Zimmermann, Clausen) konzentrieren sich ganz auf das evangelikale Gemeindemilieu. Übergreifende kirchliche Organisationsstrukturen kommen gar nicht in den Blick; die Hinweise Feldtkellers, Woodheads und Gabriels zur essenziellen Bedeutung der Religionsfreiheit werden in ihrer ekklesiologischen Brisanz darum nicht weiter aufgenommen.
Sehr offen bleibt – nicht zuletzt wegen der Vielfalt der soziologischen, philosophiegeschichtlichen, erkenntnis- oder organisationstheoretischen Zugänge – auch der Begriff der Postmoderne. Er erlaubt es den theologisch konservativen Autoren, eher ›moderne‹ Aspekte wie sozialstrukturelle und kulturelle Pluralität, individuelle religiöse Selbstbestimmung und wechselseitige Toleranz zu akzeptieren – und zugleich mit eher ›postmodernen‹ Aspekten der Erfahrungs- und Beziehungsorientierung in der kirchlichen So­-zialität zu verbinden. Im Namen der Postmoderne kann – zum wiederholten Male – das staatskirchliche Erbe des Parochialsys­tems, der Kindertaufe und des Zentralismus kritisiert werden; eine gänzliche Verflüssigung der kirchlichen Strukturen, auch eine gänzliche Liberalisierung des Glaubens kann und will man sich dann aber doch nicht vorstellen.
So vermittelt der Band den Eindruck einer interdisziplinär er­freulich offenen, aber inhaltlich durchaus unschlüssigen Suchbewegung. Die evangelikale Theologie Greifswalder Prägung scheint dort angekommen zu sein, wo sich der Mainstream praktisch-theologischer Kybernetik – nolens volens – schon eine ganze Weile befindet.