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Ausgabe:

Juli/August/2011

Spalte:

810-812

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Raschzok, Klaus, u. Konrad Müller [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Grundfragen des evangelischen Gottesdienstes.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2010. 296 S. m. Abb. 8°. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-374-02806-1.

Rezensent:

Peter Cornehl

Seit der Gründung im Jahr 2000 ist Hanns Kerner der Leiter des Gottesdienst-Instituts der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, zugleich lehrt er als apl. Professor Praktische Theologie in Erlangen. Zu seinem 60. Geburtstag haben Kollegen, Mitarbeiter und Freunde ihm eine Festschrift gewidmet, die mit zwölf Beiträgen und einer umfangreichen Laudatio »Grundfragen des evangelischen Gottesdienstes« behandeln. Das Buch dokumentiert eindrücklich die Leistungen des Jubilars und das Profil der Nürnberger Einrichtung, die in mancher Hinsicht einmalig in Deutschland ist. K. hat es durch seine fachliche Kompetenz und sein organisatorisches Geschick geschafft, aus einer 1985 gegründeten »Materialstelle« ein gut ausgestattetes Gottesdienstinstitut zu formen, dessen Be­sonderheit darin liegt, dass es Wissenschaft und Praxis, liturgische Fort- und Weiterbildung und liturgiewissenschaftliche Forschung verbindet und durch vielfältige Publikationen weit über Bayern hinaus Anerkennung gefunden hat. In der Laudatio, in der die Herausgeber minutiös Kerners Lebensweg und Leistungen nachzeichnen, heißt es am Ende sehr nett persönlich:
»Hanns Kerner ist selbst ein freundlicher, unkomplizierter und höchst konsequenter Arbeiter, der andere gerne an den Früchten seiner Arbeit partizipieren lässt und mit seiner aufgeschlossenen und kommunikativen Haltung motiviert und gewinnt«, bevor dann wie bei der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes ein Resümee gezogen wird: »Er hat sich dadurch auf außergewöhnliche Weise um den evangelischen Gottesdienst verdient gemacht.« (15)
Die zwölf Beiträge haben folgende Themen und Verfasser: Gottesdienst und Gebet (Johanna Lunk), Gottesdienst und Predigt (Manfred Seitz), Gottesdienst und Abendmahl (Reinhold Friedrich), Gottesdienst und Ritual [speziell Taufe] (Haringke Fugmann), Gottesdienst und Locality (Konrad Müller), Gottesdienst und Per­formativität (Klaus Raschzok), Gottesdienst und Aufführungsanalyse (Jens Uh­lendorff), Gottesdienst und Internet. Ein Nachruf (Thomas Schmidt), Gottesdienst und Ökumene (Johannes Rehm), Gottesdienst und Amt (Gerhard Müller), Gottesdienst und Ehrenamt (Gottfried Greiner), Gottesdienst und Kirchenleitung (Christian Schmidt).
Das Buch ist ein bunter Blumenstrauß aus unterschiedlichen Beiträgen, unterschiedlich lang, unterschiedlich interessant, Er­fahrungsberichte stehen neben Lexikonartikeln. Einiges wirkt schon ein bisschen verwelkt, einige Strohblumen sind dabei, einiges ist spannend und anregungsreich. Immer wieder wird auf die von K. selbst initiierten Projekte verwiesen: auf die von ihm maßgeblich verantwortete vierbändige Quellenedition zur Geschichte des Gottesdienstes in Bayern im 19. Jh. von 1995 bis 1997 (deren wissenschaftliche Auswertung im Einzelnen leider noch aussteht) und auf das große empirische Forschungsvorhaben zur »Bedeutung des Gottesdienstes im Leben evangelisch Getaufter«, das er in Kooperation mit einer Forschungsgruppe um Christoph Bochinger und Jeanette Martin an der Universität Bayreuth konzipiert, begleitet und in mehreren Teilstudien ausgewertet hat. Bei einigen Artikeln handelt es sich um Weiterführungen der dort begonnenen Untersuchungen (z. B. in dem instruktiven Aufsatz von Konrad Müller unter dem Leitwort »Locality«). Es ist hier nicht der Raum, um in eine detaillierte Würdigung aller Arbeiten einzutreten. Exemplarisch seien Beobachtungen weitergegeben, die zur Diskussion einladen. Sie betreffen historische Genealogien und methodische Innovationen.
Vor allem in den von Klaus Raschzok und seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen verfassten Artikeln fällt auf, dass hier an nichts weniger als einem neuen liturgiewissenschaftlichen Ge­schichtsbild gestrickt wird. Der Neuendettelsauer Praktische Theologe bemüht sich um eine Rehabilitierung der Gottesdiensttheorie und -theologie der konfessionellen lutherischen Liturgik des 19. und 20. Jh.s. Namen, die hier (und in anderen Publikationen) wiederentdeckt und aufgewertet werden, sind W. Löhe, J. F. Höfling, C. A. G. von Zezschwitz, Th. Harnack, H. Asmussen und P. Brunner. Das ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil Raschzok die positionelle Neubewertung mit einer These verbindet, die deren methodische und theologische Modernität herausstreicht. Er sieht besonders bei Löhe, Asmussen und Brunner eine Frühform performativer Liturgik am Werk, deren Aktualität erst erkennbar wird, wenn man sie im Lichte der »performativen Wende« der neueren Theaterwissenschaft von Erika Fischer-Lichte interpretiert. Das Stichwort Performativität ist ja derzeit so etwas wie ein ›Zauberwort‹, das in nahezu allen praktisch-theologischen Teilbereichen Konjunktur hat.
Was das Plädoyer von Raschzok besonders interessant macht, ist die Abgrenzung, die er damit vollzieht: gegen ein »Anwendungsmodell«, das er überall dort gegeben sieht, wo die Gottesdienst­gestaltung ihre Kriterien, Gebote und Verbote allzu direkt aus Dogmatik, Exegese, Kirchengeschichte und Bekenntnisschriften be­zieht (prominenteste Vertreterin dieser Tendenz ist für ihn Do­rothea Wendebourg mit ihrem Kampf gegen die »Eucharistisierung« des Abendmahls). Damit ist eine Diskussion eröffnet, die spannend werden kann. Ob die Deutung der neulutherischen und dialektisch-theologischen Liturgik in dieser Form überzeugt, muss geprüft werden. Es ist jedenfalls ein origineller Versuch, der zeigt, dass mit dem Geschichtsbild auch die angemessene methodische Analyse gottesdienstlicher Vorgänge neu zur Disposition steht.
In dieser Hinsicht ist ein weiterer Aufsatz interessant (und dis­kussionsbedürftig). Jens Uhlendorff entwirft einen Prospekt dessen, was er im Anschluss an Fischer-Lichte gottesdienstliche »Aufführungsanalyse« nennt, wobei er semiotische und phänomenologische Ansätze unterscheidet. Mit diesem Instrumentarium wird der »theatralische Blick« auf die liturgischen Vorgänge ge­schärft. Der Text belegt, was liturgiewissenschaftliche Analyse alles von der performativen Theaterwissenschaft lernen kann, um das mehrdimensionale Geschehen im Gottesdienst differenziert zu beschreiben (Raumkonzeption, Dekoration, Requisiten, Beleuchtung, Ge­räusche, Musik, linguistische und paralinguistische, mi­mische, gestische und proxemische Zeichen, Maske, Frisur, Kos­tüm etc. [166]).
Verblüffend ist allerdings, wie wenig die Inhalte eine Rolle spielen. Der Bericht vom Eröffnungsgottesdienst mit Lichtinszenierung »Lux« der Jungen Kirche Nürnberg zu Beginn des Artikels spiegelt völlig ungebrochen die Faszination des Autors durch diesen liturgischen Event (»… Ein erhebendes Gefühl. Es ergreift mich, stärkt mich, richtet mich auf und aus – auch physiologisch. Der Brustkorb weitet sich, das Rückgrat entrollt sich, ich strecke mich. Gott ist groß. Ich kann auch noch wachsen.« [144]). Man hätte freilich gern etwas mehr erfahren, worum es dabei theologisch eigentlich ging, um die Emotionen nachvollziehen zu können – oder auch nicht.