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Ausgabe:

Juli/August/2011

Spalte:

805-808

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Constanza, Christina

Titel/Untertitel:

Einübung in die Ewigkeit. Julius Kaftans eschatologische Theologie und Ethik.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. 375 S. gr.8° = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 124. Geb. EUR 70,95. ISBN 978-3-525-56351-9.

Rezensent:

Joachim Weinhardt

Die in Göttingen unter der Betreuung von Christine Axt-Piscalar entstandene systematisch-theologische Dissertation (2008) von Christina Constanza behandelt eine Doppelfrage:
»zum einen …, wie die Dogmatik als christliche Lehre vom Glauben in ihrer Bedeutung für den Lebensvollzug des Menschen entworfen werden kann. So kann in der historisch-systematischen Rekonstruktion eine Apologie des christlichen Glaubens gegenüber jenen Kritikern durchscheinen, welche in den eschatologisch zugespitzten Aussagen eine welt- und lebensnegierende oder auf das Jenseits vertröstende Ideologie erblicken. Zum anderen wird die Ethik in ihrer genuin theologischen Begründung bedacht, das heißt: im eschatologischen Zusammenhang des Glaubens an Gott als alles bestimmender Wirklichkeit, wobei sich von Kaftan her zeigen wird, dass neben dem Gottesbegriff als Grund der Ethik besonders die Ekklesiologie als Theorie ihrer Verwirklichung zu bedenken ist« (13 f.).
Ein einleitender Abschnitt über die Biographie Julius Kaftans (1848–1926) muss sehr kurz bleiben (15–23; Kaftans Nachlass ist leider nicht erhalten, die Briefüberlieferung ist recht schmal). Dasselbe gilt für den Überblick über die Forschungsgeschichte (23–30). Dass es zu Kaftans Werk – außer einer sehr verunglückten – keine neueren Monographien gibt, erstaunt angesichts der Tatsache, dass seine Dogmatik eines der auflagenstärksten Lehrbücher und er selbst nicht nur Angehöriger der Berliner Theologischen Fakultät, sondern auch des Evangelischen Oberkirchenrates war.
Im ersten Hauptkapitel (31–129) entwickelt C. den Religionsbegriff Kaftans und seine Wesensbestimmung der christlichen Religion. Im Gefolge Hegels und Schleiermachers gewinnt Kaftan einen allgemeinen Religionsbegriff aus der Religionsgeschichte. Die Wurzel der Religion ist das sinnliche Verlangen nach Leben (57), der Kultus das Mittel zum Zweck, die Güter zum Leben von den Göttern zu erlangen (46). Allerdings vergeistigt sich die Religion in der Geschichte derart, dass die ehemaligen Mittel zum Zweck des sinnlichen Lebens zum Selbstzweck werden: Die Teilnahme am göttlichen Leben wird so zum höchsten Gut. In der Spitze ist die Religion also Mystik (53), was allerdings in einer gewissen Spannung steht zu dem kantisch-ethischen Referenzrahmen von Religion, den Kaftan mit Ritschl und den Ritschlianern ebenfalls teilt (55).
Kaftans Gottesbegriff ist theistisch (68). Sein »Grundgedanke ist der, dass die christliche Religion ihr vollendet geistiges Wesen mit der personalen Gottesvorstellung darin vermittelt, dass das Phänomen des Geistigen wesentlich ethisch bestimmt wird, und die Ethik wiederum wesentlich das Werden von Persönlichkeit beschreibt« (70).
Die christliche Religion ist durch das Reich Gottes als höchstes Gut bestimmt. Kaftan legt »eine strikt eschatologische Wesensbestimmung der christlichen Religion vor« und lässt nur gerade hierin ihre ethische Dimension begründet sein (72). Das Gottesreich ist die »verwirklichte Heilszukunft Israels«, gegen Ritschl eine futurische, gegen Johannes Weiß gleichzeitig eine präsentische Größe (83; der hier behauptete Gegensatz zu Ritschl besteht aber in Wirklichkeit nicht). An sich ist das Reich Gottes eine reine Gabe, das Ende aller menschlichen Handlungsoptionen (86.88). Daher ist es während der Weltzeit nur als »geistig-innerliche Wirklichkeit er­fahrbar«, doch hat diese Wirklichkeit »der äußeren und materiellen Transformation alles Welthaften schon jetzt« vorgegriffen, nämlich durch den »Tod und die Auferstehung des Messias, insofern hier die Überwindung der Welt in ihrer äußeren Gestalt … vorweggenommen ist« (97). Die Auferstehung Jesu ist für das Chris­tentum so wichtig, dass Paulus nicht von der Rechtfertigungs­lehre, sondern von der Auferstehung her zu verstehen sei (102). Die Spannung, die zwischen der Vorwegereignung des Gottesreiches durch die Auferweckung Jesu und seiner transzendent-eschatologischen Abwesenheit besteht, lässt die orthodoxe Inkarnationschristologie als eine Naturalisierung des Heils erscheinen (105). Auch Kaftan will die Christologie als Lehre von der Gottheit Christi entfalten, aber nicht in den Kategorien der Zweinaturenlehre (113). Es ist das Bewusstsein Jesu seiner Einheit mit Gott, in dem die Christologie gründet, aber da das Innerste eines Menschen stets verborgen bleibt, bleibt es auch ein »Geheimnis«, wie diese Einheit zu denken sei (116 f.).
Der Zusammenhang von Ethik und Religion wird im zweiten Hauptkapitel dargestellt (129–238). Das höchste Gut der Religion, die Teilhabe am Leben Gottes, verwirklicht sich in der Bestimmung des Menschen zur Persönlichkeit. Diese wiederum wird im moralischen Prozess realisiert (141). Wie das höchste Gut die weltlichen Güter übersteigt, so korreliert ihm auch ein Wollen, das das natürliche Wollen transzendiert, nämlich das sittliche (161). Dennoch hat das sittliche Gut die natürlichen Interessen zu integrieren und kann nicht in einem reinen Gegensatz zu ihnen stehen (157). Der christliche Glaube hofft auf die Erlösung von der Welt, befähigt aber auch das Subjekt zur Weltgestaltung (141.153). Auch »Sünde« ist kein natürlich-empirischer Begriff: Er ist vielmehr abgeleitet aus dem Begriff des höchsten Gutes. Sünde besteht darin, dieses nicht über ein ganzes Leben hinweg verfolgen zu können (165). Ein moralisches a priori gibt es nicht, denn die natürliche Intuition kann das sittliche Ideal nicht erkennen. Es kommt vielmehr von außen an den Menschen heran, in der Moralerziehung findet daher eine Heteronomie statt, die aber vom Subjekt nachträglich angeeignet werden kann (168 f.).
Das dritte Hauptkapitel steht unter der Überschrift »Erziehung zur Ewigkeit« – Kirche, Dogmatik, Glaube (239–352). Die sichtbare Kirche ist ein Handlungssubjekt, aber kein Selbstzweck. Ihr Ziel ist vielmehr das Reich Gottes (250.255). Zwischen Kirche und Gottesreich vermittelt der Glaube. Dieser ist im Wort Gottes begründet, das von Gottes Offenbarung zeugt (261). Damit ist dem Glauben eine äußere Objektivität vorgegeben (gegen Wittekind; 267). Gott selbst ist ein Objekt der Art, dass Erkenntnis nicht erzwingen, sondern frei anerkannt werden will (273). Hier hat der vieldiskutierte Terminus des Werturteils seinen Ort (274). Die Gotteserkenntnis beruht auf den subjektivsten Erfahrungen des Lebens (den mystischen und sittlichen), hat aber den objektivsten Gegenstand und beansprucht daher objektive Wahrheit (283). Die apologetische Aufgabe besteht darin, zu zeigen, dass die Einheit des (praktischen und theoretischen) Erkennens nur in persönlicher Wertsetzung möglich ist. Theoretisch ist das Weltganze, der Grund und das Ziel der Welt, nicht durchsichtig zu machen (286). Die Erkenntnis des Absoluten vollzieht sich in einem Willensakt, in der persönlichen Entscheidung des Subjektes, den absoluten Geist zu erkennen, indem es sich selbst als geistiges Wesen erschafft (294). Die endliche Freiheit korreliert Gott als dem Absoluten im Sinne von unendlicher Macht. Gott ist dabei aber keine Projektion, verursacht durch Wünsche, sondern eine Hypothese, im Sinne eines Schlusses aus dem empirischen Faktum relativer Freiheit (297). Die Selbsterschaffung des Menschen als Ebenbild Gottes ermöglicht den Erweis der Wahrheit des Christentums, doch wird Gott selbst nicht postuliert, sondern anhand seiner Offenbarung anerkannt (299). Darin besteht Kaftans Supranaturalismus: nicht in einer religions wissenschaftlichen Ableitung, sondern als Teil einer personal verantworteten Glaubensentscheidung. Jeder Mensch kann nur durch einen solchen Akt zu einem abschließenden wertenden Standpunkt gelangen (312 – gegen Troeltsch).
Die Kirche hat die Aufgabe, die Offenbarung weiterzugeben, durch die sie selbst begründet ist, damit auch zukünftig neuer Glauben entsteht, der die Menschen auf das Gottesreich hin ausrichtet und zur Weltgestaltung befähigt. Diesem praktischen Zweck ist die Dogmatik bzw. das Dogma zugeordnet. Der Glaube drängt, als ganzheitliches Phänomen, zum lehrmäßigen Ausdruck; sodann fungiert das Dogma als Regulativ bei der Unterweisung im Glauben und stiftet Identität und Gemeinschaft (333). Gegen Schleiermacher und Herrmann ist Religion kein begriffsleeres Erlebnis der Seele, sondern hat bestimmte Inhalte, die von der Dogmatik beschrieben werden.
So weit das Referat der Rekonstruktion einer Dogmatik, die lange im Schatten der Aufmerksamkeit gestanden hat. Es ist sehr verdienstvoll, dass C. mit ihrer gut zu lesenden, inhaltsreichen Arbeit eine reiche terra incognita auslotet.
Unter theologiegeschichtlicher Hinsicht bleibt in Bezug auf Kaftan noch viel zu tun. C. hat etwa seine Verbindung zur Schule Ritschls verschiedentlich gestreift, aber nicht geklärt (24.36.55.61.72.83.115.180.195.212.214. 222.249.267. 274.292.301.353). Auch die Kontinuität zwischen Kaftan und der dialektischen Theologie weiter zu verfolgen, wäre eine interessante Aufgabe (vgl. 86.180.261. 315.353). Dies alles in einer dogmatischen Studie nicht nebenbei mit erledigt zu haben, kann C. nicht angekreidet werden. Hingegen wäre es wünschenswert gewesen, zu erfahren, aus welchen Auflagen der Dogmatik jeweils zitiert wurde. Eine geschichtliche Periodisierung von Kaftans Werken hätte möglicherweise auch Verschiebungen seines Denkens sichtbar werden lassen, die mindestens bei seiner Auseinandersetzung mit Ritschl und den (anderen) Ritschlianern stattgefunden haben. Schließlich stimmen die Seitenangaben im Register an vielen aufgesuchten Stellen nicht.