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Ausgabe:

Juli/August/2011

Spalte:

803-805

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Coors, Michael

Titel/Untertitel:

Scriptura efficax. Die biblisch-dogmatische Grundlegung des theologischen Systems bei Johann Andreas Quenstedt. Ein dogmatischer Beitrag zur Theorie und Auslegung des biblischen Kanons als Heiliger Schrift.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. 398 S. gr.8° = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 123. Geb. EUR 76,95. ISBN 978-3-525-56397-7.

Rezensent:

Ingolf U. Dalferth

Michael Coors Abhandlung geht auf eine Dissertation zurück, die unter Heinrich Assel erarbeitet und 2008 in Greifswald angenommen wurde. Sie untersucht den theologischen Ansatz Johann Andreas Quenstedts, des letzten großen Vertreters der lutherischen Hochorthodoxie. Im Vordergrund stehen allerdings nicht historische, sondern systematische Interessen, insofern C. im Gefolge von Oswald Bayer und Friedrich Mildenberger nach Quenstedts »Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion um die Möglichkeiten und Perspektiven einer Biblischen Theologie« (13) fragt. Das bestimmt die vier Teile der Arbeit.
Nach einer Einleitung, die Anlage und Methode der Untersuchung erläutert, widmet sich Teil I (Biblische Theologie und Dogmatik) einer kritischen Rekonstruktion wichtiger Entwürfe der neueren Debatte um eine Biblische Theologie: dem Ansatz Ebelings und seiner Entfaltung der historisch-kritischen Exegese als lutherisches Erbe (27–43), Brevard Child’s Programm Biblischer Theologie (43–55), dem ›Tübinger Modell‹ einer Hermeneutik des Einverständnisses und der Offenbarungsgeschichte (55–65) und der Biblischen Theologie in dogmatischer Perspektive von Mildenberger (66–81). Dieser systematisch-theologische Problemhorizont wird in Teil II (Verstehen lernen und Lebenspraxis – Der methodische Ansatz bei der Spätphilosophie Wittgensteins) um sprachphilosophische Überlegungen zum Verstehensproblem im Anschluss an Wittgenstein ergänzt, um die hermeneutische Grundthese der Untersuchung zu exponieren: »In der altlutherischen Dogmatik Quenstedts ist die grundlegende Lernsituation christlicher Glaubensrede und damit theologischer Rede das Lesen der Bibel als Heilige Schrift. Die Rede von der Bibel als Heiliger Schrift ist selber in dieser Lernsituation des Glaubens begründet. Jedes Verstehen der Bibel als Schrift gründet in diesem Verstehenlernen des Glaubens aus dem Wort der Schrift.« (82)
Diese These wird im zentralen Teil III (Die dogmatische Konstitution des Kanons in der Theologia didactica-polemica Johann Andreas Quenstedts) detailliert durchgeführt. In einem ersten Schritt wird die efficacia Scripturae als dynamischer Zusammenhang von Wort, Text und Heiligem Geist rekonstruiert (135–223). Ein zweiter Schritt (223–241) zeigt im Blick auf Quenstedts Praxis der dogmatischen Schriftauslegung, dass in seiner biblischen Theo­logie eine zentrale Unausgeglichenheit »zwischen theoretischer und praktischer Hermeneutik, zwischen passiv-praktischem Verstehen im Glauben und aktiv-strukturierendem Verstehen der Theologie« (240) besteht. In einem dritten Schritt (241–307) wird deshalb das »Wirken des Heiligen Geistes im Wort« (241) so entfaltet, dass dem Zusammenspiel von Passivität und Aktivität des Menschen einerseits in der Heilsmitteilung der gratia Spiritus Sancti applicatrix nachgegangen wird, andererseits dem Glauben als dem Mittel und Ziel des Evangeliums. Dabei wiederholt sich die Schwierigkeit, Passivität und Aktivität des Menschen in ein klares Verhältnis zu setzen. Auf der einen Seite wird der Übergang vom »Widerfahrnis des Heilshandelns Gottes im Geist durch das Wort der Schrift« zum »selbsttätige[n] Handeln des erneuerten Menschen … als ein Ablösen der Passivität durch die Koaktivität des Menschen gedacht« (306). »Rechtfertigung und Bekehrung werden« damit »zu einem bloßen Anfangs- und Durchgang sgeschehen.« (306) Auf der anderen Seite bleibt unklar, wie sich die Funktion der Schrift als principium theologiae und Norm theologischen Denkens zum »präpropositionalen praktischen Verstehen der Schrift« im Glauben verhält (307). In einem letzten Schritt (307–338) wird deshalb das »Schriftverstehen in Theologie und Glaube« (307) als Doppelbewegung im jeweils anderen entfaltet: Einerseits wird im Blick auf die Aktivität der Theologie der Passivität des Glaubensverstehens Rechnung getragen, indem die Theologie als praktische Wissenschaft und als habitus intellectus θεόδοτος practicus bestimmt wird (317). Andererseits wird die Aktivität der theologischen Entfaltung des Glaubens in der Passivität des Glaubensverstehens dadurch begründet, dass die »Glaubensartikel als System der himmlischen Lehre« (331) dargestellt werden. Damit wird aber nicht nur die »Theologie als wissenschaftliche Reflexion … selber zu einem Teil der Praxis der Verkündigung« (321), wie C. richtig sieht, sondern es kommt zu einer »sich aus dem Theologiebegriff ergebende[n] Intellektualisierung des Glaubensbegriffs« und der »Schriftlehre« (337). Dadurch aber »geht der Auslegung die Anbindung an die Glaubenspraxis verloren und die postulierte Einheit der Schrift erinnert eher an die systemische Einheit des himm­-lischen Systems der Glaubensartikel, denn an eine dynamische, sich in der Wirksamkeit der Schrift konstituierende Einheit. So gerät die hermeneutische Praxis in Widerspruch zur theoretischen Hermeneutik der Schriftlehre.« (338)
Teil VI (Biblische Theologie und dogmatisches Denken) bilanziert die vorgetragene Analyse der Theologie Quenstedts im Blick auf die »Frage nach der Konstitution des biblischen Kanons als Kanon autoritativ gültiger Schriften für die Kirche und ihrer angemessenen Auslegung« (339). Die Antwort wird in abschließenden »Thesen zum Verstehen der Heiligen Schrift« (359–366) mehr umrissen als entfaltet. Literaturverzeichnis, Personen- und Sachregister schließen den Band ab.
Im Ergebnis unterscheidet sich das vorgestellte Theologieprogramm kaum von Mildenbergers Biblischer Dogmatik. Die Rekonstruktion von Quenstedt ist gründlich, belegt aber vor allem, was zu erwarten war: dass die orthodoxe Verhältnisbestimmung von Glaube und Theologie, Schrift und Glaube und Schrift und Theologie tiefe Spannungen überdeckt, die in der aufkommenden Moderne zum Auseinanderbrechen von Glaube und Theologie, zur Intellektualisierung (und Moralisierung) des Glaubens und zur Historisierung und Säkularisierung der Theologie führen. C. will dem dadurch begegnen, dass er über Mildenberger hinaus die Praxis des Verstehens so ins Zentrum stellt, dass die Dogmatik »nicht mehr nur allgemein auf die ›einfache Gottesrede‹ bezogen« wird, »sondern als biblische Dogmatik auf das praktische Verstehen der Schrift im Glauben und der Glaubensrede« (358). Biblische Theologie wird damit zu einer Theologie gemeinsam gelebter Glaubenspraxis, nicht zu einem Programm, die kanonische Einheit der Schrift in der historischen Vielfalt der Texte aufzuweisen. Die Einheit des Textes konstituiert sich durch das Wirken des Geistes in ein und demselben Vorgang wie die Einheit des Glaubens: Ohne »den Glauben und die Gemeinschaft derer, die im Glauben diese Schrift lesen«, gibt es keine Einheit der Schrift, ohne diese Einheit fungieren die biblischen Texte nicht als »die Heilige Schrift des Glaubens« (361).
Damit ist ein vollständiger Zirkel vorausgesetzt, den die Theologie nur beschreiben kann. Theologie wird als »Grammatik der Glaubensrede« in der Glaubenspraxis (364) verstanden. Aber es bleibt unklar, wie diese Konzeption die an Quenstedt aufgewiesenen Spannungen zwischen passivem Verstehen im Glauben und aktivem Verstehen in der Theologie vermeidet. C. scheint dem Widerspruch zwischen hermeneutischer Praxis und theoretischer Hermeneutik der Schriftlehre dadurch entgehen zu wollen, dass er die Einheit der Schrift selbst nur im Glauben gegeben sieht, nicht in den biblischen Texten und damit auch nicht im interpretatorischen Umgang mit ihnen: Die Theologie hat es mit der Heiligen Schrift nur zu tun, wenn sie sich auf die Glaubenspraxis bezieht, in der die Texte der Schrift als Kanon gebraucht werden. Wie aber lässt sich eine solche Glaubenspraxis als Glaubenspraxis bestimmen, ohne sich (wie vermittelt auch immer) vorgängig und unabhängig von dieser Praxis auf die Schrift zu beziehen? Wird der Schriftbezug der Theologie nicht ununterscheidbar vom Bezug der Theologie auf die Glaubenspraxis? Vor allem aber: Wie kann eine Schrift, die ganz aus ihrer Funktion in der Glaubenspraxis heraus verstanden wird, noch als Norm der Theologie und kritisches Gegenüber der Glaubenspraxis fungieren?