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Ausgabe:

Juli/August/2011

Spalte:

799-801

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Albrecht, Johannes-Friedrich

Titel/Untertitel:

Person und Freiheit. Luthers Sicht der Dynamik und Struktur des Personseins und ihre Bedeutung für die Gegenwart.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2010. 181 S. gr.8° = Forum Systematik, 41. Kart. EUR 29,80. ISBN 978-3-17-021574-0.

Rezensent:

Karin Scheiber

»Fides facit personam, persona facit opera, non opera fidem nec personam«, formuliert Luther gegen die aristotelische Auffassung, wonach der Mensch durch das Tun gerechter Werke zu einem Gerechten wird. Luther zufolge ist es umgekehrt: Der Gerechte tut gerechte Werke. Der Gerechte ist aber der sola fide Gerechtfertigte, und darum gilt: »Fides facit personam«. Diese Stelle aus Luthers Zirkulardisputation de veste nuptiali (1537, WA 39/I, 283,18 f.) gehört zu den Schlüsselzitaten der Studie, mit welcher sich Johannes-Fried­rich Albrecht 2009 in Tübingen habilitiert hat und in der er zeigen will, »dass Luther aus seiner Erfahrung mit dem Christusgeschehen Einsichten in Bildungsprozesse und über die grundlegende Struktur und Dynamik des Personseins gewinnt, die in ihrem Gegenstandsbezug so konkret und präzise sind, dass zumindest Aspekte dieser Aussagen mit Ergebnissen empirischer Psychologie verglichen werden können« (20). Tatsächlich arbeitet A. schön heraus, wie sich Luthers Personbegriff von der ersten Psalmenvorlesung 1513 über die Galaterbrief-Auslegung 1516/1519 bis zur Gala­-terbrief-Auslegung 1531/1535 entwickelte, und stellt Luthers Einsichten in die relationalen Bedingungen der Personwerdung vor. Dies geschieht hauptsächlich im Mittelteil der Arbeit (Kapitel 5 und 6). Ihm gehen einleitende Kapitel (Kapitel 1–3) und ein Vergleich zwischen Luther und Aristoteles (Kapitel 4) voraus; im Schlussteil werden Luthers Einsichten mit dem volitionspsychologischen Ansatz Julius Kuhls in Verbindung gebracht (Kapitel 7), Konsequenzen gezogen (Kapitel 8) und eine Zusammenfassung geboten (Kapitel 9).
Am ergiebigsten und eigenständigsten ist die Arbeit in ihrem Mittelteil. Die dort vorgelegten Einsichten sind für systematische, historische und praktische Theologie gleichermaßen relevant und verdienen, zur Kenntnis genommen zu werden. Eigenständig ist auch die Bezugnahme auf Kuhls PSI-Theorie; ihre Überzeugungskraft hält sich jedoch in Grenzen, und zwar unabhängig davon, wie man sich zu Kuhls Modell stellt. Dies liegt an der Unschärfe der zentralen Begriffe ›Person‹, ›Freiheit‹, ›Bildung‹ und ›Erfahrung‹ und, damit zusammenhängend und sich wechselseitig bedingend, an der theologischen Unterbestimmtheit dessen, was dabei auf dem Spiel steht.
Am besten ist es noch um den Personbegriff bestellt. Während deutlich wird, wie Luthers Personverständnis, unter zunehmender Ablehnung eines substanzontologischen Ansatzes, durch den Aspekt der »Ansehung« oder »larva« und den Extra-se-Charakter menschlicher Personalität bestimmt wird, bleibt unklar, wie dies mit dem heutigen Personverständnis in seinen unterschiedlichen philosophischen und psychologischen Ausprägungen ins Gespräch zu bringen ist. Wenn nach A. »die Person dadurch bestimmt wird, wie sie wahrgenommen wird und sich selbst wahrnimmt« (102 f.), können wohl auch manche Psychologen etwas damit anfangen – allerdings nur, solange verwischt wird, dass bei Luther die schöpferische Wahrnehmung Gottes und die Wahrnehmung meiner selbst coram Deo gemeint sind. »Fides facit personam«! Dass sich dies mit den Methoden empirischer Psychologie einholen und ihren Ergebnissen zur Deckung bringen lässt, wird nicht jeder so optimistisch einschätzen wie A.: »Es ist zu erwarten, dass die Ergebnisse empirischer Forschung im Bereich des Psychischen, die auch Bildungsprozesse beschreiben, mit den Beobachtungen Luthers übereinstimmen, sofern die beiden Beschreibungen wenigstens teilweise wahr und konkret genug formuliert sind.« (20)
Auch der in A.s Studie grundlegende Begriff der Erfahrung hätte Anlass geboten, über das Verhältnis dessen, was im Glauben mit dem Menschen von Gott her geschieht, und dem, was sich durch die psychologisch beschreibbare Erfahrung zwischenmenschlichen Angenommen-Seins verändert, vertieft nachzudenken. Das reformatorische Verständnis von Erfahrung, das spezifisch Erfahrung im Lichte der Schrift meint und dem A. keine Beachtung schenkt, sperrt sich jedenfalls gegen eine nahtlose Überführung in sozialwissenschaftliche Methodik. Und auch Luthers Bemerkung zur aristotelischen Auffassung des Tugenderwerbs »Haec valent in foro philosophico et mundo, sed non sic fit apud Deum« (WA 39/ I,282,10 f., kurz vor dem eingangs erwähnten Schlüsselzitat) lässt eher ein theologisch-kritisches Korrektiv zur Empirie als ihre Bestätigung oder Vorwegnahme erwarten.
Erläuterungen zu Luthers Freiheitsverständnis sucht man vergeblich; eher beiläufig wird auf Luthers Freiheitsschrift und auf De servo arbitrio Bezug genommen, ohne jedoch eine Unterscheidung zwischen Willensfreiheit und Gewissensfreiheit zu machen. Wie A. den ständig wiederkehrenden Begriff der Freiheit verstanden wissen will, kommt am ehesten im folgenden Zitat zum Ausdruck: »Echte Freiheit als Fähigkeit, die Güter der eigenen Verfasstheit umfassend und gemäß eigener Einsicht gebrauchen zu können, setzt jedoch nach Luther immer die Erfahrung unkonditionierter göttlicher Zuwendung und Anerkennung voraus, die sich dadurch in ihrem befreienden Potential von aller menschlichen konditionierten Zuwendung unterscheidet.« (91) Das ermögliche, »zunehmend unabhängiger von Ehre und Anerkennung als konditionierender menschlicher Zuwendung zu werden und auch bei deren Entzug gemäß eigener Wahrnehmung der Situation und aus eigener Lebenserfahrung heraus handeln zu können« (ebd.). Das ist eine einigermaßen überraschende Bestimmung des Kerns von Luthers Freiheitsverständnis, ebenso überraschend wie die wiederkehrende Verwendung des Adjektivs »frei« im Komparativ – so bereits in der Einleitung (9): »Sein [Luthers] besonderes Interesse gilt der Frage, durch welche Erfahrungen und Prozesse Menschen freier werden«. Dafür ermöglicht sie einen reibungslosen Anschluss an Kuhls Unterscheidung von Lage- und Handlungsorientierung: »Der Be­griff ›Handlungsorientierung‹ verweist auf die Fähigkeit, trotz widriger Umstände, die negativen Affekt auslösen, handlungsfähig zu bleiben und damit seine Ziele weiterverfolgen zu können. Als Gegenpol weist ›Lageorientierung‹ auf die Tendenz, in einer af­-fektiv negativen Lage zu verweilen.« (Quirin/Kuhl, Theorie der Persönlichkeits-System-Interaktion (PSI), in: Brandstätter/Otto [Hrsg.], Handbuch der Allgemeinen Psychologie – Motivation und Emo­tion, 2009, 171) Handlungs- und Lageorientierung sind die Pole eines Kontinuums, in welchem beliebige graduelle Abstufungen möglich sind. Von diesem Theoriehintergrund her ist die komparativische Freiheit leicht zu verstehen: Sie meint dann eine größere Nähe zum Pol der Handlungsorientierung. Mit Luther dürfte das freilich kaum in Einklang zu bringen sein. Er denkt nicht in den Kategorien von Handlungs- und Lageorientierung, sondern von Christus und Sünde. Und diese bezeichnen nicht Pole eines Kontinuums, sondern eine scharfe Dichotomie. Der Mensch befindet sich entweder ganz in der Sünde oder ganz in Christus, nicht aber in einem Mischungsverhältnis oder einer graduellen Abstufung zwischen beiden; in grundlegender Hinsicht ist er somit gänzlich unfrei oder vollkommen frei. Sowohl in De servo arbitrio als auch in der Freiheitsschrift bringt dies Luther, wenn auch in unterschiedlichen Hinsichten, unmissverständlich zum Ausdruck. Sein »simul iustus et peccator« steht dazu gerade in keinem Widerspruch, ebenso wenig seine Unterscheidung von vier »Persönlichkeitstypen« (147) in Bezug auf das Gesetz, die sich im »Sermon von den guten Werken« findet und deren erste beiden Typen A. mit dem Typ des Handlungs- und dem des Lageorientierten gleichsetzt (148).
Nun ist dies ein gänzlich unorigineller Einwand und entspricht der einhelligen Meinung fast aller Lutherinterpreten, unter anderem auch derjenigen E. Jüngels und O. Bayers, auf die A. sich mehrfach beruft. Warum kann er diese entscheidende Differenz bei aller Sorgfalt und Ernsthaftigkeit, von der seine Studie zeugt, nicht angemessen zur Geltung bringen? Im harmloseren Fall läge der Grund darin, dass der Bereich dessen, worauf sich der Vergleich mit Kuhl bezieht, nicht genau genug abgesteckt wurde. Dass sich bei Luther tiefsinnige psychologische Einsichten finden, die auch vor heutigen, mit empirischen Methoden gewonnenen Erkenntnissen standhalten, ist unbenommen, und in diesem Horizont fördert A.s Studie Interessantes zutage. In grundlegender theologischer Hinsicht tritt Luther jedoch gerade nicht mit dem Anspruch auf, allgemein vermittelbare Einsichten zu vertreten. Hier nachzuweisen, dass sich dennoch alles empirisch-psychologisch einholen lässt, wäre ein theologisch gefährlicher Pyrrhus-Sieg. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Kuhls Theorieansatz A. zur hermeneutischen Brille wurde, durch welche manches bei Luther eine bestimmte Färbung erhält und anderes gänzlich aus dem Blickfeld gerät. Problematisch ist dies insbesondere da, wo – entgegen anders lautenden Versi­cherungen, die sich bei A. ebenfalls finden – der Anschein metho­-discher Verfügbarkeit von Freiheit und Glaube erweckt wird: »Dass ein intensiver Wechsel zwischen EG und OES entsprechend zur höchsten Form des Glaubens im Sinne einer intensiven und tragfähigen Gottesbeziehung führt, entspricht der Beschreibung der Voraussetzungen einer tiefen und tragfähigen Form der Liebe im Kontext der PSI-Theorie …« (146). Dieser Wechsel zwischen EG (Kuhls »Extensionsgedächtnis«) und OES (Kuhls »Objekterkennungssystem«) lässt sich auf verschiedene Weisen einüben, etwa in einer Meditation der Leiden Christi (OES, »Wahrnehmung von nichtintegriertem« [sic!]) und seiner Auferstehung (EG, »Kontakt mit der ganzheitlichen Selbstrepräsentation«) (145, Zitate Kuhls). Man mag bereits seine Bedenken haben, wenn Kuhl dies als »Möglichkeit zur Selbstentwicklung« anpreist (145), was soll man dann erst sagen, wenn ein evangelischer Theologe verheißt, dass dies »zur höchsten Form des Glaubens führt«? Ganz einfach, mit Luther: »Fides facit personam, persona facit opera, non opera fidem nec personam.«