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Ausgabe:

Juli/August/2011

Spalte:

796-798

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wildman, Wesley J.

Titel/Untertitel:

Science and Religious Anthropology. A Spiritually Evocative Naturalist Interpretation of Human Life.

Verlag:

Farnham-Burlington: Ashgate 2009. XXIII, 270 S. gr.8° = Ashgate Science and Religion Series. Lw. £ 55,00. ISBN 978-0-7546-6592-2.

Rezensent:

Dirk Evers

Das zu besprechende Werk ist der erste Band einer geplanten Trilogie des Philosophen und Theologen Wesley J. Wildman (Boston University’s School of Theology), dem Gründungsdirektor des Institute for the Biocultural Study of Religion. W. möchte darin sein Programm eines »religiösen Naturalismus« entfalten, das gegen ein traditionelles supernaturalistisches Verständnis von Religion eine naturalistische Alternative setzt, die den Menschen ganz aus seiner biologischen und sozialen Verfasstheit zu beschreiben sucht und ihn gleichwohl als religiöses Wesen, als homo religiosus versteht. Der hier vorliegende erste Band bildet dazu die Grundlegung, in der W. eine biologisch fokussierte und empirisch-wissenschaftlich orientierte Anthropologie entwickelt, die sich vor allem der jüngs­ten Ergebnisse der evolutionären Psychologie und Kognitionswissenschaften bedient.
Die Grundthese des Buches ist schnell entfaltet: Menschen sind religiöse Wesen, und sie sind es unvermeidlich, von Natur aus und wesentlich (inescapably, ontologically, essentially). Diese These aber setzt voraus, dass Religion nicht die Antwort auf eine supernatura­listisch verstandene letzte Wirklichkeit darstellt, denn dann würde sie als eine menschliche Option verstanden, die von be­stimmten historischen Religionen realisiert wird und von anderen nicht. Die These des homo religiosus kann nach W.s Überzeugung nur begründet werden, wenn Religion als natürliche Ausstattung biologisch begründeter menschlicher Existenz verstanden wird, die auf die axiologische Tiefe der natürlichen Wirklichkeit (axiological depth) bezogen ist, nicht aber auf transzendente Kategorien. Die biolo­gische, kognitive und soziale Verfasstheit des Menschen begründet und strukturiert diese Bezogenheit auf den evaluativen Grundzug der Wirklichkeit, ohne die konkrete Ausprägung und Realisierung dieses Bezugs in den geschichtlichen Religionen zu determinieren.
W. grenzt sich damit gegen eine theistische Auffassung von Religion ab. Gottesvorstellungen sind anthropomorphe Symbolisierungen mit zweifelhaftem Erkenntniswert und Wirklichkeitsbezug, die an den anthropologischen Fundamenten von Religion vorbeigehen und mithilfe wissenschaftlicher Forschung über sich selbst aufzuklären und zu entmythologisieren sind. Er wendet sich aber auch gegen eine subjektivitätstheoretische Verortung von Religion oder Religiosität in der intensionalen Binnenstruktur eines der empirischen Wirklichkeit exterritorialen Selbstbewusstseins. Er will vielmehr Religion im Rahmen einer naturalistischen Anthropologie entfalten, die empirische Forschung als Rahmen­theorie in Anschlag bringt, die möglichst universelle, kulturunabhängige und empirisch validierbare anthropologische Erkenntnis zu gewinnen erlaubt. W. sucht biologistische Reduktionismen da­durch zu vermeiden, dass er der biologischen Anthropologie kulturwissenschaftlich reiche Beschreibungen religiösen Verhaltens zur Seite stellt sowie soziologische Überlegungen zur Funktion und zur Dynamik von religiösen Überzeugungen und religiösem Verhalten in menschlichen Gemeinschaften und historische Analysen, die die Wechselwirkung von individuellen und sozialen Kate­gorien in der geschichtlichen Ausprägung von Religionen be­schreiben.
Mit dieser Aufzählung der am religiösen Naturalismus zu beteiligenden Wissenschaften ist denn auch schon der Aufriss des Buches vorgegeben. W. wendet sich nach zwei einleitenden Kapiteln zur Methodik und zum Naturalismusbegriff zunächst biologischen Theorien zur Entstehung von Religion zu. Er beginnt mit einem Kapitel zur Evolution, in dem er religiöses Verhalten als ein teilweise adaptives, vor allem aber nicht-adaptives Nebenprodukt der Evolution beschreibt, das auf genetischen Komponenten aufruht und eine komplexe Landschaft von Möglichkeiten eröffnet, in der die historischen Religionen dann jeweils durchaus unterschiedliche Pfade genommen haben. Das nächste Kapitel be­schreibt die Funktion von Religion im Zusammenhang menschlichen Gruppenverhaltens (Groups). Hier steht die funktionale Beschreibung der rituellen Seite von Religion im Rahmen der Costly Signal Theory im Mittelpunkt. Es folgen ein Kapitel über die neurologischen und kognitiven Grundlagen religiösen Verhaltens (Brains) sowie eines über die physische Seite religiöser Erfahrung (Bodies). Hier fasst W. seine früheren Studien zur Klassifizierung unterschiedlicher Arten religiöser Erfahrung eindrucksvoll zusammen und interpretiert sie mit Bezug auf die körperliche Seite menschlicher Existenz, die für die Ausbildung menschlicher Sozialität, Moralität und eben Religion von entscheidender Bedeutung ist.
Kapitel 6 behandelt den Menschen als geschlechtliches Wesen (Sex) und das Verhältnis von Sexualität und Religion. W. stellt Forschungen zur Variationsbreite menschliche Sexualität dar und hebt die Notwendigkeit hervor, gerade in Bezug auf Sexualmoral und die Gestaltung menschlicher Liebesbeziehungen supernaturalistische religiöse Vorstellungen zu überwinden. Es schließen sich Ausführungen zum Wechselverhältnis von Individuum, Gruppe und Umwelt an (Habitat). Hier beschränkt sich W. auf drei repräsentative Aspekte, auf die Einbettung menschlichen Lebens in die Biosphäre, auf das Verhältnis von Natur und Technik sowie auf die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Werten.
Theologisch wird dieses Unternehmen einer naturalistischen Rekonstruktion der Entstehung, Funktion und kulturell kontingenten Ausprägung von Religion für W. dadurch, dass es nicht bei bloßen Beschreibungen stehen bleibt, sondern das naturalistisch gewonnene Verständnis von Religion zurückwendet auf das Selbstverständnis des Menschen und deshalb auch evaluativ nach der Rolle, Funktion und Gestaltung von Religion heute fragt. Dazu sind philosophische und theologische Überlegungen vonnöten, die zum einen die Binneninterpretationen religiöser Überzeugungen und mit ihnen verbundener Handlungen explizieren, an denen die empirische Religionsforschung nur zu ihrem eigenen Schaden vorbei gehen kann. Zum anderen aber sind Philosophie und Theologie herausgefordert, Methoden und Kriterien zu entwickeln, wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die religiöse Natur des Menschen auf traditionelle Theologumena zurückwirken und Neu­interpretationen provozieren – Fragen, die die empirisch und deskriptiv arbeitende Wissenschaft methodisch einzuklammern sucht und die sie doch ständig begleiten.
Den Abschluss des Buches bildet eine solche evaluative Interpretation der Befunde. W. beschreibt sein naturalistisches Verständnis der religiösen Natur des Menschen als eine dialogoffene »modern secular interpretation of humanity« (209), die der religiösen Seite menschlicher Existenz Wertschätzung entgegenbringt (und sich darin etwa von den sog. Neuen Atheisten wie Dawkins und Dennett unterscheidet), zugleich aber supranaturalistische Konzepte und entsprechende religiöse Narrative überwindet und damit kritisch auf ein traditionelles Verständnis von Religion zu­rückwirken möchte. Insofern ist sein religiöser Naturalismus zu­gegebenermaßen alles andere als »ideologically innocent« (231).
W.s Buch ist gut und flüssig geschrieben. Hilfreich sind die Zusammenfassungen der wesentlichen Punkte der Darstellung am Ende jedes Kapitels sowie das ausführliche Namen- und Sachre­gister. W. präsentiert eine Alternative der wissenschaftlichen Be­schäftigung mit Religion, die zeigt, dass nicht nur subjektivitäts- oder kulturtheoretische Ausgänge aus dem Zusammenbruch supernaturalistischer Wirklichkeitsauffassungen in der Mo­derne möglich sind, sondern auch naturalistische, die Religion wertschätzen, zu­gleich aber auch kritisch-konstruktiv traditionelle Religion umzugestalten suchen.
Dieser religiöse Naturalismus provoziert allerdings fundamentale Fragen. Muss nicht ein Bezug auf die »axiologische Tiefe« der Wirklichkeit das Methoden- und Begriffsarsenal eines naturalistischen Zugangs überschreiten? Bleibt nicht die Frage nach dem Woher und Woraufhin der axiologischen Tiefenstruktur unabweisbar, will der Mensch sich zu ihr in ein Verhältnis setzen? Kommen damit nicht doch wieder Dimensionen von Transzendenz ins Spiel? Und steht nicht mitunter die werthafte Ausrichtung menschlichen Lebens quer zu dem, was naturalistisch als Befund erhoben werden kann? W.s Konzept stellt manche der Fragen neu, die zu erledigen es angetreten ist. Aber das ist allemal anregend.